Titelbild Osteuropa 12/2007

Aus Osteuropa 12/2007

„Held“ und „Volk“ in Osteuropa
Eine Annäherung

Heiko Haumann

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Abstract in English

Abstract

„Helden“ dienen der Orientierung und Identifikation. Sie drücken Wünsche und Sehnsüchte des „Volkes“ aus, das sich über sie definiert. Zugleich werden sie je nach Zeitumständen und Interessen in unterschiedlicher Weise für den kollektiven Erinnerungsbestand konstruiert, um individuelles Verhalten zu beeinflussen. Der Zusammenhang von „Held“ und „Volk“ hat etwas mit Befreiung, Hoffnung und Erinnerung zu tun. Auffällig ist in Osteuropa die häufige Popularität gescheiterter, leidender und doch stolzer „Helden“.

(Osteuropa 12/2007, S. 5–16)

Volltext

Die Diskussion über „Helden“ ist aktuell. Wir alle ertappen uns immer wieder dabei, dass wir nach „wahren Helden“ suchen, an denen wir uns orientieren, mit denen wir uns identifizieren können. In den Medien begegnen uns ständig Menschen, die uns als „Helden“ vorgestellt werden: bedeutende Persönlichkeiten, Widerstandskämpfer und Retter verfolgter Juden während der Nazi-Zeit, erfolgreiche Sportler, Männer und Frauen, die sich bei Naturkatastrophen oder Unfällen in besonderer Weise eingesetzt haben oder auf deren Verhalten im Alltag man stolz sein kann. Offenbar besteht ein Bedürfnis nach Vorbildern, und gleichzeitig werden Personen in den Mittelpunkt gerückt, die etwas repräsentieren, das als gemeinschaftsstiftend angesehen wird. Doch wie wird man in Osteuropa zum „Helden“, welche Funktion haben die dortigen „Helden“ und in welcher Beziehung stehen sie zum „Volk“, zu den im Alltag handelnden und manchmal auch leidenden Menschen? Anlässlich eines Beitrages für eine Festschrift habe ich mich mit zwei osteuropäischen „Helden“ in der Schweiz beschäftigt, mit Tadeusz Kościuszko und Aleksandr Suvorov. Suvorov (1729–1800) betrat die Schweiz Ende 1799 als General mit einer russischen Armee, um hier im Rahmen des Koalitionskrieges gegen Frankreich die gegnerischen Truppen zu bekämpfen. Die Russen überquerten dabei mehrere Alpenpässe – eine Leistung, die aus militärischer Sicht als bewundernswert galt, allerdings tausenden russischer Soldaten das Leben kostete. Tadeusz Kościuszko (1746–1817) war mit Suvorov wenige Jahre zuvor zusammengetroffen: Als Führer des polnischen Aufstandes von 1794 gegen das Zarenreich hatte er sich nach anfänglichen Siegen der von Suvorov befehligten russischen Übermacht beugen müssen. In der Schweiz, wo er 1815, zwei Jahre vor seinem Tod, in Solothurn Wohnsitz genommen hatte, lebte er im Unterschied zu Suvorov friedlich. Im litauischen Teil des Königreiches als Sohn einer ukrainischen Mutter und eines weißrussischen Vaters geboren, war Kościuszko ein polnischer Patriot. Militärisch bestens ausgebildet, kämpfte er 1776 auf Seiten der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg, wurde dort zum Brigadegeneral ernannt und war mit George Washington und Thomas Jefferson befreundet. In Polen musste er sich 1792 wie 1794 trotz glänzender Feldzüge den überlegenen russischen Truppen geschlagen geben. Dieses tragische Scheitern wurde zum Symbol für die vergeblichen Freiheitskämpfe Polens. Seine vielseitigen Talente – er malte, dichtete und komponierte – sowie sein liebenswürdiger und starker Charakter mit Fehlern und Schwächen ergänzten das Bild des Feldherrn. Eindruck machte nicht nur sein Einsatz für die amerikanische Unabhängigkeit, sondern auch seine Ernennung zum Ehrenbürger Frankreichs nach der Revolution von 1789. Folgerichtig stiftete Kościuszko sein in den USA erworbenes Vermögen, um schwarze Sklaven zu befreien. Ebenso hob er die Leibeigenschaft auf seinem litauischen Gut auf – unter der Bedingung, dass die dort ansässigen Bauern Schulen in ihren Dörfern einrichteten. Während des Aufstandes von 1794 propagierte er die „polnische Nation“ nicht mehr – wie bisher – als den Adel, sondern als das gesamte Volk, die Städter, die Bauern, die Frauen, die Juden. Niemand sollte ausgegrenzt werden, der ihr angehören wollte. Seine politischen Überzeugungen ließen ihn zum Repräsentanten eines reformfähigen, republikanischen Polen werden. Zugleich verkörperte er die Sehnsüchte des erniedrigten polnischen Volkes. All dies schuf die Bedingungen, aus denen ein Held gemacht wird – ein „Held zweier Welten“, der alten Adelsrepublik wie der neuen bürgerlichen Gesellschaft, des nationalen Patriotismus wie des Weltbürgertums. Flugblätter, Lieder und Gedichte, Romane und Erzählungen sowie unzählige bildliche Darstellungen nährten, in unterschiedlicher Form je nach den Zeitumständen und politischen Absichten, seine Popularität. Es entstand ein regelrechter Kult um ihn, gemischt aus Wahrheit und Wunschdenken. Bis heute ist Kościuszko die volkstümlichste historische Persönlichkeit in Polen. (Abb. 1 und 2) Vielleicht wurde er zum Idealfall eines Helden, weil er niemals wirkliche politische Macht erhielt: Er musste keine unbequemen und ungeliebten Entscheidungen treffen, die seinen Ruhm hätten verblassen lassen. Suvorov hingegen erscheint auf den ersten Blick als reiner Kriegsheld. In der Satire und Karikatur seiner militärischen Gegner wurde er als blutrünstiges Monster dargestellt, in Russland dagegen als überlegenes militärisches Genie verehrt. Er verkörperte die siegreichen Kriege gegen das Osmanische Reich 1774 und 1787 sowie die militärische Unterdrückung sowohl des Volksaufstandes unter Führung des Kosaken Emel’jan I. Pugačev (1742–1775), der 1774 die zarische Herrschaft bedrohte, als auch des Freiheitskampfes der Polen zwanzig Jahre später. Seine Persönlichkeit enthält jedoch zusätzliche Facetten. Seine Soldaten liebten ihn – so heißt es wenigstens –, weil er wie sie lebte und keine Privilegien beanspruchte. Hochgebildet inszenierte er sich als „natürlicher Mensch“ und gemäß der russischen Tradition als „Gottesnarr“, der mit asketischer Lebensweise sowie Vortäuschung einer Geisteskrankheit oder „Kindlichkeit“ den Widerspruch zwischen christlichen Zielen und weltlicher Wirklichkeit aufdeckte, dabei sogar dem Herrscher die Wahrheit sagen konnte. Zwar blieb Suvorov loyal, lehnte die Französische Revolution ab und beteiligte sich nicht an einer Adelsverschwörung gegen den Zaren, aber seine offenen Worte machten ihn bei Hofe nicht beliebt. Er fiel trotz seiner außerordentlichen militärischen Erfolge in Ungnade und starb vereinsamt. So war er nicht nur der „Held“ seiner Soldaten, sondern auch ein Symbol würdigen, ehrenvollen Auftretens gegen die Mächtigen in einer Welt des Überganges. Stutzig wurde ich, als sich das Kościuszko-Museum in Solothurn weigerte, Abbildungsvorlagen für den Aufsatz zur Verfügung zu stellen. Bald erfuhr ich den Grund: Vertreter eines Verbandes von Polen in der Schweiz forderten mich ultimativ auf, den Beitrag – von dem sie nur den Titel kannten – zurückzuziehen und jeglichen Vergleich zwischen Kościuszko und Suvorov zu unterlassen. Es gehe nicht an, einen wahren Volkshelden mit einem Kriegsverbrecher in Beziehung zu setzen (Suvorovs Truppen hatten bei der Eroberung Warschaus 1794 ein entsetzliches Blutbad unter der Bevölkerung angerichtet, was durchaus in meinem Aufsatz zu lesen war). Allein schon dadurch, dass ich in der Überschrift den Begriff „Held“ in Anführungszeichen gesetzt habe, beleidige ich die Gefühle des polnischen Volkes. Falls ich mich weigere, ihrer Forderung nachzukommen, würden sie eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Antirassismus-Gesetz erwägen. Obwohl ich mich in der Tat weigerte, ist es dazu dann allerdings nicht gekommen. An diesem Beispiel wird deutlich: „Held“ und „Volk“ stehen in dichter Beziehung. Kościuszko und Suvorov konnten nur zu „Helden“ werden, weil sie im „Volk“ beliebt waren, dessen Wünsche und Sehnsüchte ausdrückten, zugleich aber von den Medien, durch die Darstellung in der Öffentlichkeit, „gemacht“ wurden. Der Kult um Kościuszko nahm dabei, nicht zuletzt aufgrund des Verlaufs der polnischen Geschichte, derartige Formen an, dass er von manchen geradezu als Heiliger gesehen wird, an dessen Bild man nicht kratzen darf. Das weist darauf hin, dass wir in die Betrachtung des Verhältnisses von „Held“ und „Volk“ immer auch den Umgang mit diesen Vorstellungen einbeziehen müssen. Wer beansprucht, das „Volk“, das durchaus keine homogene Gruppe darstellt, zu repräsentieren und für es zu sprechen? In welcher Weise wird versucht, die Bilder eines „Helden“ in einen kollektiven Erinnerungsbestand, in ein Gemeinwissen, einzubringen, das wiederum auf die individuelle Erinnerung und damit auf die Steuerung individuellen Verhaltens einwirken soll? Bei Kościuszko ist es die Tradition des adlig-ritterlichen und zugleich bürgerlich-aufgeklärten Polen, der Wille, sich die Freiheit und Unabhängigkeit zu erkämpfen, gepaart mit der Opferrolle des tragischen Scheiterns, aus dem messianistisch doch die Erlösung, die neue Freiheit entstehen wird. Dieses Bild hat sogar über Polen hinausgewirkt. Das gilt nicht nur für die USA nach 1776 oder für Frankreich nach 1789. Auch in den nationalen Freiheitsbewegungen Osteuropas war Kościuszko hochangesehen. Und in der Schweiz ist er ebenfalls bei vielen beliebt – mit einem etwas anderen Akzent als in Polen: Die Schweizer fasziniert der Mensch Kościuszko, seine Größe im Scheitern. Schang Hutters Gedenkfigur von 1967 in Solothurn drückt diese Sichtweise aus: Sie stellt einen armseligen „Helden“ dar, aber einen Menschen mit aufrechtem Gang. Kościuszko ist tatsächlich so etwas wie ein „Held des Weltbürgertums“, nicht nur einer nationalen Idee. [Abb. 3 und 4] Suvorov ist außerhalb Russlands nicht unbedingt populär, in Polen teilweise verhasst. In der schweizerischen Erinnerung an ihn, so wie sie sich öffentlich äußert, steht auch nicht der Mensch im Vordergrund. Sein Ansehen verdankt er hier den Überquerungen der Alpenpässe, seiner Sorge um die Disziplin der Soldaten und vor allem den politischen Zusammenhängen: als Repräsentant des Kampfes gegen die französische Ordnungsmacht während der Helvetik und als Mittel, um die schweizerisch-russischen Beziehungen zu würdigen. Dafür steht das 1898 eingeweihte Denkmal in der Schöllenen samt den Gedenkfeiern und den Besuchen russischer Delegationen sowie musealer Würdigungen. [Abb. 5] Dieser Vergleich zwischen Kościuszko und Suvorov macht darauf aufmerksam, dass wir auch zwischen einer Innen- und einer Außenwahrnehmung der „Helden“ unterscheiden müssen. So wie bei Suvorov die Innen- von der Außenwahrnehmung erheblich abweicht, gestaltet sich die Konstruktion seines Bildes komplizierter als bei Kościuszko. In der russischen realistischen Malerei gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird auf mehreren Gemälden Suvorov inmitten seiner ihn verehrenden Soldaten gezeigt – etwa von Vasilij I. Surikov (1848–1916) 1899 bei der Alpenüberquerung. [Abb. 6] Das konnte in der damaligen Zeit durchaus als kritischer Seitenhieb auf den Zarismus verstanden werden: Suvorov war bei Hofe nicht geschätzt gewesen, und die vertrauensvolle Nähe zwischen den Soldaten und dem Feldherrn entsprach nicht dem hierarchischen Denken an der Staatsspitze. Darüber hinaus dürfte dort auf Missfallen gestoßen sein, dass Surikov auch die Angst und Unsicherheit der Soldaten vor dem Hinabgleiten in den Abgrund ausdrückt. Aus dem Ersten Weltkrieg gibt es dann Bilder, die Suvorov als übermächtige Persönlichkeit darstellen, der Russland vor den Deutschen beschützt und den Truppen den Weg weist. Diese Stilisierung setzt sich gewissermaßen in den Stalinismus hinein fort. Suvorov wird während des Zweiten Weltkrieges in die Reihe der Kriegshelden gestellt, die Russland zum Sieg geführt haben und nun wieder als Vorbild dienen können. Ein Beispiel findet sich in den Illustrationen der „TASS-Fenster“ beim Vormarsch der Roten Armee 1944, den Propagandabildern der sowjetischen Nachrichtenagentur, mit denen vordergründig an ähnliche Formen während des Bürgerkrieges nach der Oktoberrevolution angeknüpft werden sollte. [Abb. 7] Suvorovs Beziehung zum „Volk“ wird nicht mehr thematisiert, er ist zum „Führer“ seiner soldatischen Helden-„Enkel“ geworden. Dieses Bild wird im wesentlichen bis heute gepflegt. Der Wandel der Heldenkonstruktion lässt sich an einem weiteren Bildervergleich verdeutlichen. Zu Vasilij Surikovs wichtigsten Gemälden zählt „Die Bojarin Morozova“ von 1887. [Abb. 8] Die hier dargestellte Frau gehörte in der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur zu einem der bedeutendsten Adelsgeschlechter Russlands, sondern zugleich zu den aktivsten Anhängerinnen der Altgläubigen, die die damalige Kirchenreform nicht mitmachen wollten und dafür bereit waren, Diskriminierungen, Verfolgungen und sogar den Tod auf sich zu nehmen. Als sie sich weigerte, der Aufforderung des Zaren zu folgen, sich der offiziellen Kirche zu beugen, wurde sie 1671 mit ihrer Schwester verhaftet. Nach Folterungen und Gefängnisaufenthalt starben beide vier Jahre später, eingegraben in ein Erdloch, den Hungertod. Surikovs Bild zeigt den Augenblick des Abtransportes der Bojarin. Da sie es abgelehnt hat, freiwillig zum Verhör zu gehen, wird sie auf einem Schlitten gefahren. Dies ist der Mittelpunkt des Bildes. Hocherhobenen Hauptes und trotzigen Blickes gibt sie ihrer Überzeugung Ausdruck. Man hört geradezu die Ketten klirren, mit denen sie festgebunden ist, die aber ihren Willen und ihren Mut nicht brechen können. Ihre Hand reckt sie hoch mit dem Zwei-Finger-Zeichen des Kreuzschlagens – im Unterschied zum Drei-Finger-Zeichen der Kirchenreformer. Jenes Zeichen der Altgläubigen wiederholt ein wie ein Bettler gekleideter Mann, der am unteren rechten Bildrand im Schnee sitzt: Es ist ein „Gottesnarr“, der sich freiwillig eine Kette um den Hals gelegt hat, an dem ein Kreuz hängt. Gottesnarren, eine häufige Erscheinung in der Geschichte Russlands – Suvorovs Selbstinszenierung ist uns schon begegnet –, lebten asketisch und hielten der „sündigen“ Welt den Spiegel vor, nicht zuletzt den Herrschenden und auch der Kirche, die den Ansprüchen des christlichen Glaubens nicht genüge. Sie repräsentierten eine „verkehrte“ Welt, eine Möglichkeit des „Eigen-Sinns“ und des Widerstandes gegenüber einer Welt, wie sie nicht sein sollte. Vom Volk verehrt, konnten Staat und Kirche oft nicht viel gegen sie ausrichten, doch seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden sie zusehends verfolgt. Der Gottesnarr auf unserem Bild verkörpert die Reinheit des alten Glaubens und die Stimme des Volkes. Unterstrichen wird dies durch das Verhalten von Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten, die Surikov vor allem auf der rechten Bildseite darstellt. Sie zeigen deutlich ihre Sympathie mit der Bojarin. Auf der linken Bildseite stehen hingegen ihre Gegner: Geistliche, Adlige, Staatsbeamte etwa, die die Verhaftete verhöhnen. Dazwischen sehen wir noch einige Neugierige. Die Bojarin erscheint somit als Heldin, die das Volk – zumindest einen großen Teil – vertritt, allerdings nicht harmonisierend, sondern mitten in einem Konflikt, der an die Grundfesten des Staates rührt und die Gesellschaft spaltet. Als das Gemälde ausgestellt wurde, erregte es erhebliches Aufsehen. Wieder konnte die Art, wie das Thema ausgeführt worden war, als Kritik am Zarismus verstanden werden: Im Mittelpunkt stand eine Frau als Heldin, die eine Gegnerin des Zaren und der Kirche gewesen war. Die Volksmenge unterstützte sie, während die Vertreter des Staates und der Kirche eher negativ gezeichnet wurden. Diese Darstellung gewann dadurch besondere Brisanz, dass wenige Jahre zuvor, 1881, eine Frau, Sof’ja Perovskaja, das erfolgreiche Attentat auf den Zaren Alexander II. geleitet hatte. Manche sahen deshalb in dem Gemälde eine indirekte Unterstützung der revolutionären Bewegung. Auf Gemälden aus der Stalin-Zeit erscheint das „Volk“ bestenfalls als Staffage – als Marschkolonne, als aufmerksame Zuhörer einer Rede Stalins, als jubelnde Masse. „Helden“ werden hingegen unentwegt produziert: vor allem Stalin, aber auch andere hohe Persönlichkeiten des Regimes, Arbeiterinnen und Arbeiter, die Bestleistungen gezeigt hatten, vorbildliche Sportler, Piloten, die eine wagemutige Rettungstat vollbracht hatten, Grenzwächter, militärische Helden der russischen Vergangenheit – wie Suvorov – und des Bürgerkrieges. Hier, in der „sozialistisch-realistischen“ Malerei, werden dem „Volk“ „Helden“ dargeboten, zu denen es aufblicken und Vertrauen haben oder an deren Einstellungen und Leistungen es sich orientieren soll. Anders als in Surikovs Gemälden weisen die „Helden“ nicht auf eine Kritik an den Herrschenden hin, sondern es wird das Interesse der politischen Führung deutlich, das „Volk“ als Objekt zu betrachten, das es zu lenken gilt. Alle sollen angespornt werden, zu „Helden“ zu werden, wie das System sie braucht. Offen und öffentlich kann einem solchen Verständnis in dieser Zeit, als der Terror zum Systemmerkmal wurde, nichts entgegengestellt werden. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution von 1917 sah das Verhältnis von „Held“ und „Volk“ noch anders aus als im Stalinismus. Dies lässt sich anschaulich am Beispiel der Fotografie zeigen. In der Sammlung Herzog in Basel befinden sich zwei Fotoalben aus dem Volkskommissariat für Aufklärung, die die Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag der Revolution 1918 und zum 1. Mai 1919 thematisieren. Hier erscheint das „Volk“ noch als Subjekt der Geschichte. Die Bauern der „Komitees der Dorfarmut“ richten im November 1918 ihre Kantine und ihr Besprechungszimmer im Winterpalast des Zaren ein – besser könnte nicht symbolisiert werden, dass eine Revolution stattgefunden hat und das „Volk“ den Anspruch erhebt, die Macht zu besitzen. Gleichzeitig ist das Narva-Stadttor mit zwei Transparenten verkleidet, die in monumentaler Größe einen Arbeiter und einen Bauern abbilden. Auf der Torkrone prangt eine höchst moderne Losung: „Wir sind die Macht“. Auffällig oft tauchen Kinder auf den Fotografien auf. Gewiss werden sie bei diesen Gelegenheiten von den Politikern und Funktionären benutzt, um politische Parolen zum Ausdruck zu bringen, aber ihnen wird auch ein hoher Stellenwert für die Entwicklung der Revolution zugemessen. Darüber hinaus verdeutlichen die Fotos den Stolz der Kinder, dass sie in diesen schwierigen Zeiten einmal im Mittelpunkt stehen, dass alle Augen auf sie als Garanten der sozialistischen Zukunft – einer gerechten Gesellschaft freier Menschen – schauen, dass sie die „Helden“ der neuen Zeit sind. Die Gruppenaufnahmen von den Feierlichkeiten verweisen schließlich darauf, dass das „Volk“, die Menschenmassen, die sich auf den Straßen bewegen, keine disziplinierte, geschlossene Formationen bilden, sondern spontan umhergehen, ohne dass ich damit lenkende Elemente ausschließen will. Die Stadt – in beiden Alben ist es Petrograd – ist im übrigen zu einem Theater geworden. Künstler verschiedenster Richtungen konnten Plätze, Brücken und Strassen ausschmücken – nicht unbedingt zur Zufriedenheit der Bevölkerung, der manchmal die avantgardistischen Dekorationen unverständlich blieben. Dennoch: Die Menschen spielen in diesem Theater, besetzen die Räume neu. Die Körpersprache des Stalinismus ist hier noch nicht zu erkennen. Stattdessen unterstreichen die Fotos von 1918 und 1919, als erstrangige Quelle genau betrachtet und in den Kontext der Zeit gestellt, Eindrücke der Offenheit, Vielfalt, Spontaneität, Faszination und Hoffnungen, die noch eng mit den sozialistischen Utopien verbunden sind. Im Stalinismus finden wir dann die wuchtigen Blöcke marschierender Rotarmisten, Gewerkschaftler oder Sportler. Die Massen erstarrten im Ornament, wie Andreas Guski im Anschluss an Siegfried Kracauer festgestellt hat. Er hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Gegensatz zu „den entmündigten Massen stalinistischer Staatsinszenierungen“ in den „Massenveranstaltung der frühsowjetischen Ära“ ein „System der Gegenwerte und der Gegenbilder zur offiziellen […] Kultur“ ausgebildet habe, das man mit dem Kulturtheoretiker Michail Bachtin (1895–1975) als Form einer „Lachkultur“ verstehen könne. Die Autoritäten der Gesellschaft danken befristet ab, um einem Gegenregime des Spotts, der Satire und der Groteske Platz zu machen. Die „Gegenbildlichkeit“ der Menschen in den Feierlichkeiten nach der Oktoberrevolution bezog sich zum einen auf die Zeichen des alten zaristischen Systems – in den Denkmälern, in der Umbenennung von Straßen und Plätzen, in neuen künstlerischen Formen in unterschiedlichsten Stilen, in den Symbolen der revolutionären Zeit –, zum anderen forderte sie das utopische Reich der Freiheit ein, das die Revolution versprochen hatte anzustreben. Zehn Jahre später vollzog sich allmählich der Umschlag in eine autoritäre Machtkultur. Auf den Fotos von 1918 und 1919 erscheint das „Volk“ in seiner individuellen Vielfalt als der „Held“, der sich seinen Weg in die Zukunft selbst sucht. Seit den 1930er Jahren wird, um noch einmal Andreas Guski zu zitieren, das „demokratische Potential“ verdrängt durch Bilder homogener Massen, die nur noch einen Regisseur und ein Publikum haben: den Generalsekretär der Partei und seine engsten Vertrauten, die bis zum Ende der Sowjetunion von der Tribüne des Moskauer Lenin-Mausoleums herab mit versteinertem Lächeln den defilierenden Massen ihren Segen erteilten. Gewiss wäre dies alles noch zu differenzieren und durch Analysen zu vertiefen. Welche Schlussfolgerungen lassen sich vielleicht schon auf der Grundlage der angeführten Beispiele ziehen? Zunächst einmal zeigt sich, dass ein „Held“ nicht einfach dadurch existiert, dass sich jemand dazu erklärt oder eine besondere Tat begeht. Er muss als solcher wahrgenommen werden. Eine Gruppe oder eben das „Volk“ definiert seinen „Helden“, und es definiert sich selbst über ihn, bindet seine Mitglieder über ihn enger aneinander. Wer aber ist das Volk? In der russischen Begriffstradition steht das „Volk“ der „Gesellschaft“ gegenüber, bezieht sich also sozial auf die unteren Schichten. Zwischen „Held“ und „Volk“ können sich Mitglieder der „Gesellschaft“ schieben oder auch Angehörige des „Volkes“, die sich von ihm lösen wollen, im russischen Verständnis etwa „Kleinbürger“. Auf keinen Fall ist das „Volk“ identisch mit „Nation“. Auch in anderen Ländern wird man unterscheiden müssen. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Kościuszko. Er war zunächst, unterstützt durch eine frühe Stilisierung in den damaligen Medien, ein Held der Unterschichten, namentlich der Bauern, der sozialen und nationalen Minderheiten, aber nur eines Teils des Adels und der Geistlichkeit. Diese konnten sich mit seinen sozialen und politischen Vorstellungen nicht identifizieren. Erst als sich sein Heldenmythos als dauerhaft erwies und als Symbol des Strebens nach staatlicher Unabhängigkeit gebrauchen ließ, wurde von diesen Vorstellungen weitgehend abstrahiert und er zum nationalen Heldensymbol. Weiterhin wird deutlich, dass es offenbar verschiedene Arten von Helden gibt. Ein Typus drückt eine bestimmte Lebensform aus, eine Welt, die von der Bevölkerung oder zumindest einem Teil von ihr als die ihre angesehen wird. Diese Popularität macht den jeweiligen Menschen zum Helden. An ihm kann man sich orientieren, in ihm seine Wünsche und Gefühle vertreten sehen. Allerdings wird auch dieser „Held“ immer wieder neu „gemacht“, neu konstruiert. Der populäre Volksheld geht in den Erinnerungsbestand, in das „kulturelle Gedächtnis“ des Volkes ein und prägt zugleich die individuelle Erinnerung an das, was man gerne möchte. Doch Politiker, Medienleute, Künstler können auf das Heldenbild Einfluss nehmen, so wie es sich auch im Individuum verändert, je nach der eigenen Situation, dem Wandel der Lebenswelt. Das heißt, die Produktion und der Umgang mit „Helden“ hängen eng mit Erinnerungsprozessen im einzelnen historischen Akteur wie in der Gesellschaft zusammen. Ein anderer „Helden“-Typus ist umstritten, zwischen verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb eines „Volkes“ oder gar zwischen „Völkern“ in den jeweiligen nationalen Konstruktionen. Über einen solchen „Helden“ als Verkörperung „geglaubter“ oder „gemachter“ Überzeugungen kann man sich abgrenzen gegenüber anderen. Hier spielt dessen Stilisierung vielleicht eine noch größere Rolle als im ersten Fall, da die Abgrenzung leicht zum Konflikt führen kann. Kościuszko steht unter anderem für die Befreiung von zaristischer Herrschaft, aber aufgrund seines Lebensweges und seiner politischen Vorstellungen könnte er auch zum Symbol einer Versöhnung zwischen dem polnischen und dem russischen Volk werden. Bei Suvorov ist das kaum denkbar. Für viele Russen ist er ein positiv besetzter „Held“, für viele Polen hingegen der Inbegriff eines „Negativ-Helden“. Eine Sonderform stellt ein „Held“ oder eine „Heldin“ dar – so wie die Bojarin Morozova –, die das Vorbild für eine bestimmte Gruppe war und in späterer Zeit – hier von einem Künstler – mit einer politischen Absicht wieder in Erinnerung gerufen wird. Sie ist nun keine „Volksheldin“ mehr, die Erinnerung an sie soll aber die jetzigen Wünsche des „Volkes“ unterstützen. Das leitet über zu den „Helden“, die ausschließlich „gemacht“ sind, um das „Volk“ zu manipulieren und zu mobilisieren – für den Krieg, für die Akzeptanz des Systems, für bestimmte Leistungen oder Aktivitäten; die stalinistischen „Helden“ sind hier ein extremes Beispiel. Schließlich gibt es aber auch das „Volk“, das selbst der „Held“ ist, wie wir am Beispiel der Fotografien aus der Zeit unmittelbar nach der Oktoberrevolution gesehen haben. Die „Helden“, wie sie als neue Denkmäler oder auf Straßenschildern erscheinen, dominieren nicht das „Volk“, sind vielleicht Orientierungspunkte, spiegeln eher die offene Situation. Diese Identität von „Held“ und „Volk“ ist eine konkrete Utopie, eine Gegenkultur zur autoritären Machtkultur mit ihren erstarrten Heldenbildern, wie sie sich dann bald wieder durchsetzt. Offenbar haben die Vorstellung eines „Helden“ sowie die Zusammenhänge zwischen „Held“ und „Volk“ etwas mit Befreiung, Hoffnung und Erinnerung zu tun. Wer stark genug ist, seinen Weg selbst zu suchen, sich dabei seinen Erinnerungen kritisch und selbstbewusst stellt, braucht weniger die „großen Helden“ – die außergewöhnlichen Menschen, die über das Normalmaß hinausragen – zur Identifikation, um seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Eher wird eine Orientierung an den „kleinen Helden“ des Alltags erfolgen, deren Werte und Einstellungen den eigenen nahekommen. Viele der Aussagen, die ich hier dargelegt habe, besitzen allgemeinen Charakter und wären vermutlich auch von Quellen abzuleiten, die nicht aus Osteuropa stammen. Dennoch ergeben sich spezifische Elemente, etwa in den utopischen Zügen mancher Helden-Bilder – bei unseren Beispielen namentlich unmittelbar nach der Oktoberrevolution – oder bei den besonderen Zusammenhängen von „Held“ und „Volk“ in Osteuropa. Obwohl durchaus auch erfolgreiche Persönlichkeiten – wie die Raumfahrtpioniere Jurij A. Gagarin (1934–1968) und Valentina V. Tereškova (geb. 1937) – gefeiert und verehrt werden, fällt auf, dass verhältnismäßig häufig Menschen vom „Volk“ als „Helden“ betrachtet werden, die gescheitert sind, die schwer gelitten, aber doch ihren Stolz und ihre Würde bewahrt haben. Auch in anderen Gesellschaften finden wir „Helden“, die für ihre Überzeugungen verfolgt wurden und gestorben sind und mit denen sich das „Volk“ identifizieren kann. Aber es herrscht hier offenbar doch das Bild des erfolgreichen, siegenden „Helden“ vor, während in Osteuropa die Popularität gescheiterter, leidender „Helden“ stärker vertreten ist. Jedenfalls erschließen sich uns über die Beziehungen zwischen „Held“ und „Volk“ neue Zugänge zu Osteuropa, die unsere Vorstellungen von dieser Großregion differenzieren.

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