Das Komplementärgesetz
Šostakovič und Prokof'ev
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Abstract
Sergej Prokof'ev und Šostakovič hatten sich nichts zu sagen, und sie konnten einander nicht hören. Das ganze Wesen Prokof'evs läuft Šostakovič ästhetisch und strukturell zuwider. Gleichwohl gibt es auch Berührungspunkte. Prokof'ev und Šostakovič gehören zusammen wie die materielle und die geistige Welt. Mit den beiden sollte man es daher halten wie mit Goethe und Schiller: Statt darüber zu diskutieren, wer besser und bedeutender sei, sollte man sich daran erfreuen, daß Deutschland zwei so große Dichter besitzt und die Welt zwei derartige Komponisten.
(Osteuropa 8/2006, S. 4960)
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Es ist eine undankbare Aufgabe, Parallelen und Gegensätzen im Leben und Schaffen Prokof’evs und Šostakovičs nachzugehen. Damit verstoße ich gegen mein Prinzip, das Osip Mandel’štam treffend auf den Punkt gebracht hat: „Vergleiche nicht, der Lebende ist unvergleichbar.“ Das Vergleichen war aber im Laufe von vielen Jahren eine meiner wichtigsten Arbeitsmethoden, denn ich hielt Vorlesungen zur Geschichte der Klaviermusik, bei denen es häufig um Interpretationen derselben Klavierstücke in verschiedenen Epochen und in unterschiedlichen Kulturen ging. Doch seit einiger Zeit bin ich immer stärker vom absoluten Wert der Dinge und des Tuns sowie vom isomorphen Wesen der Kunst, insbesondere der Musik mit der ihr eigenen Organizität überzeugt. Man könnte das allgemein als phänomenologischen Ansatz bezeichnen. Man kann auch mit der Bibel sagen: „Jedem das seine.“ Auf jeden Fall sollte man es mit Prokof’ev und Šostakovič halten wie mit Goethe und Schiller: Statt darüber zu diskutieren, wer besser und bedeutender sei, sollte man sich daran erfreuen, daß Deutschland zwei so große Dichter besitzt. Dennoch ist das Bedürfnis zu vergleichen ein natürlicher Zug des Menschen mit seiner spezifischen Bewertungsfähigkeit und seinem Kunstsinn. Wir dürfen lediglich nicht vergessen, daß Vergleiche schnell veralten. Wir müssen also ständig neue Vergleichsmethoden suchen, da diese immer auf zeitbedingten Werturteilen beruhen. Der Vergleich von Prokof’ev und Šostakovič ist ein exemplarischer Fall. Der Stoff des sowjetischen geistigen Lebens ist völlig zerschlissen, die alten Urteile sind nahezu verschwunden. Stößt man doch wieder einmal auf sie, so wundert man sich, wie langlebig Stereotype sein können. Nehmen wir den ZK-Beschluß „Über die Oper von Vano Muradeli ‚Die große Freundschaft’“ von 1948. Die Musik der berühmtesten sowjetischen Komponisten der 1930er und 1940er Jahre wird darin als „volksfeindlich“ bezeichnet. Hier ist die antiquierte Pseudomoral der Narodniki (Volksfreunde) am Werk. Sie wird benutzt, um ein Urteil „im Namen des Volkes“ zu fällen. Während aber die Narodniki auf den Zaren schossen, wollten ihre Nachfolger der Stalinzeit die begabtesten Künstler ausschalten. Wer nicht direkt umgebracht oder ins Lager geschickt wurde, dem wurde die Gesundheit gebrochen. Davon zeugt das relativ kurze Leben vieler Komponisten: Nikolaj Mjaskovskij starb im Alter von 65 Jahren, Sergej Prokof’ev mit 62, Vissarion Šebalin mit 61 und Dmitrij Šostakovič mit 69 Jahren. Ist es aber nicht erstaunlich, daß sich die sowjetische Musik sogar nach dem Beschluß von 1948 kaum veränderte? Alle bedeutenden Komponisten blieben sich treu. Und keiner der Komponisten, die Šostakovič und Prokof’ev als Vorbild vorgehalten wurden, erreichte ein höheres Niveau – Mittelmaß blieb Mittelmaß. Welche inhaltliche Bedeutung hat dann der Beschluß von 1948? Keine. Es sei denn, man wollte der Einschüchterung eine solche Bedeutung zuschreiben. „Die Gerechtigkeit wird siegen“, sagte neulich ein bekannter Musikwissenschaftler aus Anlaß eines anderen Jubiläums. Doch was bedeutet „Gerechtigkeit“, wenn es um Kultur geht? Höchstens, daß sich das durchsetzt, was Stalin und Ždanov verbieten wollten. Leider ist nicht einmal sicher, ob das dann gerecht zu nennen wäre. Jede Antithese ist unweigerlich an die These gekettet. Šostakovič in den 1920er Jahren Die russischsprachige Šostakovič-Diskussion wird weiter von überkommenen Vorstellungen vom jungen Šostakovič dominiert. Dies gilt für alle Genres. Solide Musikanalysen entdecken in jedem seiner Werke aus den 1920er Jahren Innovatives und einen „Erfindungsgeist“ (Thomas Mann); die Belletristik fabuliert in Allgemeinplätzen: „Er war natürlich und fröhlich, ein glänzendes Talent, unter dem äußeren Druck wurde er zum mürrischen, pedantischen Eigenbrötler.“ Oder mit etwas anderem Akzent: „Sein Talent war flatterhaft und oberflächlich, aber der äußere Druck stählte ihn und unterdrückte seine Hastigkeit und den deplazierten Wagemut.“ Es wird viel vom „jungen Petrograd“ (Leningrad) gesprochen, davon, daß die Künstler dieser Stadt der Sozialutopie einer umfassenden Erneuerung anhingen. Auch wenn ich riskiere, ebenfalls Belletristisches von mir zu geben, so möchte ich doch ebenfalls von der Bedeutung Leningrads für Šostakovič zu dieser Zeit sprechen, denn diese war sehr groß. Es geht mir dabei aber um etwas anderes. Šostakovič verbrachte seine jungen Jahre in einer sterbenden Stadt, einer Stadt, die von den Behörden vernachlässigt wurde, deren Einwohner verschwanden – in die Emigration oder in den Tod. Diese Stadt war erschöpft, ausgelaugt. 1919 schrieb der große Historiker der Stadt Nikolaj Anciferov: Das Getöse der Stadt ist verebbt. Langsam kriechen die Straßenbahnen, immer bereit stehenzubleiben. Verschwunden ist der gewohnte Lärm der vorbeifahrenden Karren, Kutschen und Automobile […] Die Fußgänger gehen mitten auf der Straße, wie in alten italienischen Städten. Überall unbebaute und verwahrloste Plätze […] Im Frühling wuchern diese Plätze und Straßen zu. Die Luft ist erstaunlich rein und frisch geworden. Der übliche Schleier aus Asche und Rauch über der Stadt ist verschwunden. Petersburg ist wie gewaschen. Hier wird die ruhige Feierlichkeit einer Geisterstadt evoziert. Solche Bilder, die der junge, mit Intuition und Empfindsamkeit begabte Šostakovič erlebte, können für sein Schaffen nicht ohne Belang gewesen sein. In vielen seiner Kompositionen schimmert das Angesicht des Sterbenden durch, insbesondere dort, wo Šostakovič musikalische Landschaften Petersburgs entwirft. So ist im ersten Teil der Elften Symphonie („Der Winterpalais-Platz“) der Hauch des Todes zu spüren. Auch in der Vierzehnten und Fünfzehnten Symphonie ist das Ausscheiden aus dem Leben ein zentrales Thema – wenn nicht sogar das einzige. Die morbide Petersburger Atmosphäre ist auch dort spürbar, wo der Komponist mit Tönen die Leere des Raums wiedergibt – etwa im erwähnten „Winterpalais-Platz“ oder in Symphonie- und Kammerwerken, z.B. in der Koda der Vierten Symphonie und im ersten Teil des Trios für Klavier und Violine, op. 67. Dasselbe gilt für die Abschnitte, in denen ein langsames Annähern musikalisch dargestellt wird, es also um die Überwindung von Raum geht. Zu denken ist an den Ansturm in der Siebten Symphonie und an das erste Thema im Finale des erwähnten Trios. Seit jeher löste das Anschleichen Angst aus. Ein kongeniales Beispiel aus der Literatur ist das Gedicht von Anna Achmatova Erster Fernbeschuß von Leningrad (Pervyj dal’nobojnyj v Leningrade, 1941), das eine tragische Variation zu Aleksandr Bloks Der Laut kommt her (Približaetsja zvuk) darstellt. War also Šostakovič in den 1920er Jahren wirklich ein „fröhliches Genie“, das sich später unter dem Einfluß äußerer Umstände wandelte? Die Oper Die Nase, die ersten drei Symphonien und das Präludium und Scherzo für Streichoktett, op. 11, zeugen vom Gegenteil. In allen diesen Werken ist Unruhe, oftmals fieberhafte Hektik, manchmal auch Melancholie zu spüren. Und all das in der für Petersburg so typischen Stimmung, in der die Seele von Sorgen und Vorahnungen erfüllt ist. Wir stoßen auf dasselbe Petersburger „Katastrophenbewußtsein“, wie es bei Dostoevskij und Čajkovskij zu finden ist: Der Blick auf die Welt steht im Zeichen des tödlichen Ausgangs oder der „Umkehr“ – der Wortsinn der griechischen „Katastrophe“. Der Tod wird hinausgeschoben, man versucht ihn zu vergessen, wie im Finale der Nase, aber die musikalische Sprache, der jegliche Konsonanz fehlt, verrät ihn. Prokof’ev zur Sowjetzeit Wer war Prokof’ev als Mensch? Welche sind die Eigenschaften des musikalischen Phänomens „Prokof’ev“? Da ist zunächst der Wille zum Erfolg, das heißt der Wunsch, eine kompositorische Absicht gleich welcher Art perfekt und ohne Zaudern zu realisieren. Immer rechnet er mit einem schnellen Publikumserfolg. Dafür gibt es genug Beispiele. Im Grunde besitzt Prokof’evs Musik immer eine Erfolgsgarantie, denn sein Stil ist markant, kommunikativ und konstant bis zum Umfallen. Es gibt keinen anderen sowjetischen Komponisten, für den der Stil mehr bedeutet hätte als für Prokof’ev. Der Stil war für ihn wahrhaftig das, was das Wort im ursprünglichen griechischen Sinn meint: eine „tragende Säule“, die seinem Schaffen ein Gleichgewicht verlieh. Er „prokof’evisierte“ jede Idee, jeden Stoff. Heute würde man sagen, Prokof’evs Musik ist sehr semiotisch. Daher ist es Prokof’ev wie jenen wenigen anderen Komponisten, die ähnliche Musik schufen, gegangen: Er wurde kaum nachgeahmt und nur selten neu interpretiert. Das letztere ist verständlich. Seine Werke lassen sich nicht auf irgendeine bestimmte Weise auslegen. Sie sind dermaßen monolithisch, daß es unmöglich ist, etwas daraus „hervorzumeißeln“. Gerade diese Möglichkeit muß ein Interpret aber haben, will er eine neue Facette eines Stücks zur Geltung bringen. In Prokof’evs Musik gibt es keine Freiräume für interpretatorische Improvisation, es mangelt ihr an „Wasser und Sand“, jenen Materialien, die nicht nur in der Natur, sondern auch in der Kunst wichtig sind, um Leben zu schaffen. Daher erlaube ich mir eine bittere – aber durch persönliche jahrelange Erfahrung als Hörer bestätigte – Feststellung: Prokof’evs Stil versiegt, ihm fehlt das Lebenselixier neuer Interpretationen oder zumindest neuer Instrumentalisierungen. Ich kann mir beispielsweise keine verschiedenen Interpretationen seines Dritten Klavierkonzerts vorstellen, so glatt ist es aufgebaut – ohne jeglichen „Spalt“ –, und so scharf ist das Relief der Tempi. Eine gewisse Kompensation für Prokof’evs kompositorischen Absolutismus bietet sein außergewöhnliches theatralisches Talent, sein Wille zum Theater. Seine acht Opern und sieben Ballette sind unbestritten Meisterwerke. Das wichtigste ist aber, daß Prokof’ev seine alltäglichen Erfahrungen zu einem Drama verarbeitete, mit verschiedenen Charakteren, einer bestimmten Bühneneinteilung (Vorbühne, Kulisse), mit einer spannenden Handlung. Hören Sie seine Musik, nicht nur die Theatermusik, lesen Sie seine Tagebücher und Briefe, und Sie werden den Eindruck bekommen, Prokof’ev spiele auf der Bühne das Stück seines Lebens. Wenn das stimmt, dann ist es durchaus verständlich, daß Prokof’ev sich in der Sowjetunion so wohl fühlte: Auf der Bühne des sowjetischen Lebens wurde ein unendliches propagandistisches Spektakel dargeboten, eine „Komödie vom Dienst am Volk“, wie der Regisseur und Dramaturg Nikolaj Evreinov es nannte. Denken wir dies mit dem absolutistischen – unerschütterlichen und in sich ruhenden – Stil Prokof’evs zusammen, so können wir behaupten, daß Prokof’ev ungeachtet seiner relativ großen persönlichen Unabhängigkeit in höherem Maße ein sowjetischer Komponist war als Šostakovič, der in der UdSSR alle nur denkbaren Auszeichnungen bekommen hat. Der omnipräsente Šostakovič Šostakovič beharrt auf nichts und stützt sich auf keine stilistischen Vorgaben. Er ist einfach ein genialer Komponist mit tragischem Temperament. Er entfaltet seine Musik für alles und jeden, ohne dabei die „Klänge des Lebens“ zu durchfiltern oder die dichte Klangwelt, die den professionellen Komponisten umgab, zu durchsieben. Er erschließt sich und verarbeitet alle Stoffe für seine Musik mit seinem tragischen, um nicht nochmals zu sagen: katastrophischen Bewußtsein. In diesem Sinne war es ihm gleichgültig, aus welchem Material er seine musikalische Form goß und welches Thema er bearbeitete. Prokof’ev war das Thema in seinen sowjetischen Jahren ebenfalls gleichgültig, das musikalische Material aber wählte er sorgfältig aus: Es mußte den kompromißlosen Anforderungen seines Stils gerecht werden, und der Stil hat bei ihm vieles kompensiert. Šostakovič aber wählte nicht nur eine unglaubliche Fülle an Genres und Themen – z.B. in seiner Musik der frühen 1970er Jahre (Marsch der sowjetischen Miliz für Blasorchester, das Dreizehnte Streichquartett, der Liederzyklus „Die Treue“ für Männerchor nach Worten von Evgenij Dolmatovskij, die Fünfzehnte Symphonie. Er komponierte darüber hinaus „scheckig“, warf verschiedenste Klänge in einen Topf. Ist es möglich, daß Šostakovič komponierte, ohne sich dabei Gedanken zu machen und ohne sich umzuschauen? Ist Philip Herschkowitz Ausspruch über Šostakovič, er sei ein „genialer Pfuscher“, doch mehr als nur ein Vorurteil eines Vertreters der Neuen Wiener Schule und Webern-Schülers? Šostakovič schien vom Strom des Lebens getrieben zu werden, ohne etwas anzunehmen und abzulehnen. Seine Musik bestätigte auf paradoxe Weise die Bedeutung der Wörter „klassisch“ und „Klassik“, die von Jorge Borges entweder entdeckt oder erfunden wurde: „classis“ – „Flotte“ . Auf dem Strom des Lebens gleitet die klassische Kunst ins Uferlose des Seins und behält dabei ihre feste Form und ihre höhere Ordnung. Seien wir ehrlich: Der spannungsvolle, dissonante Šostakovič ist nicht das, was wir unter „Klassik“ verstehen. Doch die genannte Wortbedeutung weist ihm seinen wahren Platz in der zeitgenössischen Kultur zu. Oder ist das alles nur ein Wortspiel? Dagegen spricht, daß es etwas gibt, was zweifellos zu seinem Leben als Privatmensch und Künstler gehört und viele Aspekte dieses Lebens erklärt. Ich meine Šostakovičs Liebe zum Schicksal, amor fati, wie es Nietzsche genannt hat. Es geht darum, nicht nur sein Kreuz zu tragen, sondern auch die persönliche Integrität zu bewahren, die „Schätze“ des Lebens zu bewahren, all das für wertvoll zu halten, was das Dasein enthält und mit sich bringt, sogar das Leiden. Die Rede ist nicht von der christlichen Tugend der Demut – nichts weist bei Šostakovič auf Demut hin. Er hat sein Kreuz bewußt getragen und versuchte immer, im Angesicht der Gefahr und der Versuchung seine Würde zu bewahren. Aber er ging den Prüfungen nicht aus dem Weg, die ihm sein sowjetisches Schicksal bereitete, dem grausamen Druck nicht und der heuchlerischen Verehrung nicht. Beide stürmten oft gleichzeitig auf ihn ein, was die psychische Gesundheit des Komponisten gefährdete. Šostakovič sagte nie „nein“, suchte weder Konfrontation noch Anerkennung. Amor fati führte und beschützte ihn. Wenn auch von christlichem Glauben bei Šostakovič nicht die Rede sein kann, so muß man doch von einer „unbewußten Religiosität“ (Vladimir Solov’ev) als natürlichem Zustand des Künstlers und von einem Heilselement in all den Schicksalsprüfungen sprechen. Religion bedeutet wörtlich „Wiederherstellung der Verbindung“. So spüren und hören wir, wie Šostakovič auf die alte klassische Tradition zurückgreift, wie er im Dialog mit Bach, Beethoven, Musorgskij und Mahler steht. Nicht auf Zitate und Anspielungen kommt es an – so viele es auch geben mag –, sondern auf das Bedürfnis nach geistigen Begegnungen im unendlichen Raum der Kultur. Diese Begegnungen stärkten Šostakovič in seiner realen Existenz und gaben ihm die Kraft, der sowjetischen Gleichschaltung zu widerstehen. Berührungspunkte Bei Šostakovič gab es zwar Anspielungen und Zitate, aber keine Stilisierungen. Bei Prokof’ev ist das anders: er stilisiert (Klassische Symphonie, Symphoniette, op. 5/48), aber die Prokof’evisierung der musikalischen Sprache ist überall offensichtlich, die zentralisierende Fähigkeit des Stils auf die Spitze getrieben. Das führt uns zu einigen Parallelen zwischen den beiden Komponisten. Ich möchte auf einzelne Musikstücke und musikalische Motive eingehen und gestehe, daß solche Parallelen mich zum Vergleichen zwingen. Urteile will ich allerdings vermeiden. Die Musik der beiden hat zahlreiche kommunikative Anknüpfungspunkte, regt den Zuhörer zum Mitfühlen und Mitdenken an. Für sie gilt das „Komplementärgesetz“, sie gehören zusammen wie die materielle und die geistige Welt. Die Entscheidung für diese oder jene Musik wird dadurch überflüssig oder zumindest äußerst subjektiv. Die Sechste und die Neunte Symphonie Nehmen wir Prokof’evs Sechste Symphonie Es-Moll, op. 111 (1945–1947) und Šostakovičs Neunte Symphonie Es-Dur, op.70 (1945). Beide wurden nach dem Krieg und – wenn man so will – „auf den Sieg“ geschrieben. Beide fielen aus dem bisherigen Schaffen Šostakovičs und Prokof’evs heraus. Nach der Fünften Symphonie im Empire-Stil nähert sich Prokof’ev im ersten Teil der Sechsten Symphonie dem russischen lyrisch-dramatischen Symphonismus. Dort finden sich auch verdichtete Trauertöne, etwa das dunkle Es-Moll und ein Marschthema in der Durchführung. Das Finale hingegen, das wie eine typische Prokof’evsche Buffonade für Orchester beginnt, endet mit einer tragischen Auflösung mit dröhnendem Schlagzeug und heulendem Blech. Šostakovič hingegen bemüht sich in seiner Neunten Symphonie geradezu, sich von der tragischen Schwere seiner Kriegssymphonien zu befreien. Die Kürze, der transparente Klang (das Orchester ist nur zweifach besetzt), die überwiegend schnellen Tempi und – was am wichtigsten ist – Anspielungen auf die Wiener Klassiker machen diese Musik zu einem wahrhaften „Seufzer der Erleichterung“ nach all dem Überlebten und Vollbrachten. Aber sie ist auch eine Geste voll bitterer Ironie, mit der Šostakovič auf die an ihn gerichteten Erwartungen antwortet, daß seine Neunte eine Hymne auf den Sieg werden solle. Prokof’evs Sechste war ebenfalls eine Überraschung, schließlich hatte er 1945 eine symphonische Ode auf das Ende des Krieges geliefert, die wie ein Siegesfeuerwerk klang – im Orchester spielen vier Klaviere, acht Harfen, vier Saxophone. Die Sechste Symphonie hingegen klingt, als schäme sich Prokof’ev für den Empire-Stil der Kriegsjahre. Er fügte so viel persönlich Gefärbtes ein, wie es ihm möglich war. Die Sechste war zweifellos ein Ausgleich für all seine staatstreuen Werke der 1940er Jahre wie die Fünfte Symphonie, die Ode zum Kriegsende und die Musik zum Film Ivan Groznyj. Kann man diese Kompositionen Prokof’evs als „Anti-Šostakovič“ bezeichnen, wie ich dies einmal getan habe? Ich vermute, Prokof’ev hatte keine bewußte Einstellung „gegen“ etwas: gegen die extrem expressive und extrem dissonante Musik Šostakovičs und gegen all das, wofür Šostakovič in der sowjetischen Musik stand. Aber das ganze Wesen Prokof’evs läuft Šostakovič ästhetisch und strukturell zuwider. Daß sie sich nichts zu sagen hatten, ist allgemein bekannt. Ich würde hinzufügen: Sie konnten einander nicht hören. Dur und Moll Um so interessanter ist es, über Berührungspunkte zwischen Šostakovič und Prokof’ev auf der Ebene des Tongeschlechts nachzudenken. Dur gilt bekanntermaßen traditionell als Symbol für Freude, Moll für Trauer. Der „Positivist“ Prokof’ev bevorzugt in den meisten seiner Symphonien Moll. Das gleiche gilt für Šostakovič. Sehr bezeichnend aber ist, daß beide in extremen musikalisch-dramatischen Situationen zum Dur greifen. Man denke an den zweiten Satz von Šostakovičs Achter Symphonie und den Beginn der elften Szene („Straße des von Franzosen besetzten Moskaus“) in Prokof’evs Oper Krieg und Frieden. In den beiden Fällen haben wir es mit einem „Gewalt-Dur“ zu tun. Ich weiß nicht, wie man diese chromatischen Verschiebungen der Dur-Harmonik sonst nennen könnte, den schreienden – wenn nicht heulenden – Klang des Orchesters, das straffe rhythmische Gerüst der Musik. Dies ist nicht einfach nur Gewalt, es ist eine lustvolle Gewalt, die sich daran berauscht, daß sie ungesühnt bleiben wird. Über diese Facette in Šostakovičs Schaffen habe ich bereits mehrmals geschrieben. Zu Prokof’ev erlaubte ich mir einst bei einem Vortrag die Bemerkung, daß er ein „Feueranbeter“ ist, so wie er das brennende Moskau im Krieg und Frieden darstellt. Um es etwas anders zu formulieren: Die neue russische Musik verwandte bereits vor Prokof’ev das Dur, um die Schrecken eines kriegerischen Überfalls zu schildern. Als erster hat das vermutlich Nikolaj Rimskij-Korsakov in seiner Legende von der unsichtbaren Stadt Kitež getan. Die genialen Meister der Petersburger Schule Prokof’ev und Šostakovič setzten die Tradition des „bösen Dur“ fort, die ebenso langlebig ist wie das Böse in der Geschichte Rußlands und seiner beiden Hauptstädte. Šostakovič schrieb seine letzte, die Fünfzehnte Symphonie mit 65 Jahren (vier Jahre vor seinem Tod), und sein letztes Werk, die Sonate für Bratsche und Klavier, beendete er einen Monat vor seinem Tod. Die Fünfzehnte könnte man als Reich der Schatten bezeichnen. Sie ist voll von Reminiszenzen an Šostakovičs frühe Werke und von musikalischen Zitaten aus Rossini und Wagner. Wagners Schicksals- und Todesthema aus der Götterdämmerung räumt alle Zweifel an dieser Deutung aus. Rossinis Thema taucht in der Fünfzehnten als unsterbliche Banalität auf: als Erkennungsmelodie „der Arbeitermassen“. Gegen diesen Bolschewismus, diese Allmacht der Mehrheit, leistete Šostakovič sein Leben lang Widerstand. Im Finale scheidet er unter Begleitung der kleinen Schlaginstrumente von uns. Als würden die Zeichen seines Lebens von einer Tafel gewischt. Als allerletztes wird das markanteste Zeichen seines Lebens entfernt: das Thema des Überfalls aus der Siebten Symphonie. In der Bratschensonate gibt es ebenfalls einen Schattenreigen. Vor der Reprise des Scherzo erklingen Schatten-Themen auf: verschiedene Themen aus der unvollendeten Oper Die Spieler, aus dem Präludium und der Fuge D-Moll, op. 87, aus der Suite für zwei Klaviere, op. 6. Man sagt, so sei es in der Minute des Todes: Alles Erlebte durchliefe die Erinnerung. Šostakovič geht nicht in Frieden, oh nein, aber er sucht doch und wartet auf das Ende. Vor dem Vergangenen mag er sich dabei fürchten, vielleicht aber auch nicht. In die Zukunft blickt er jedenfalls nicht, wirbt nicht um ihre Gunst. Der 62jährige Prokof’ev schließt sein musikalisches Schaffen mit der Siebten Symphonie ab. Was auch immer zu diesem Stück gesagt wird: Meines Erachtens ist es keine Abschiedskomposition. Der Komponist war bereit, weiter zu leben, sonst wäre er mit dem Finale seiner Symphonie nicht so pragmatisch umgegangen. Er hat nämlich zwei Schlußvarianten komponiert. Die eine ist sanftmütig und friedlich, die andere ist inoffiziell als „munterer Schwanz“ bekannt: ein schnelles Crescendo in Des-Dur. Prokof’ev erfüllte ohne Murren irgendeinen Wunsch von oben, daß die Musik „optimistisch“ sein soll. Es war ihm wichtig, wenigstens den Hauch einer Chance zu haben, am offiziellen Kulturleben teilzuhaben. Auch das war Prokof’ev, derselbe Prokof’ev, der in früheren Jahren für jede Note gekämpft hatte, der den unsterblichen Satz sprach: „Dann wird die Oper eben nicht aufgeführt, aber Hackfleisch lasse ich nicht aus mir machen.“ Derselbe Prokof’ev, der noch 1948 seinen Willen nicht brechen ließ. Eine solche Wende ist wirklich erstaunlich. Insbesondere wenn man an einige biographische Parallelen zwischen Šostakovič und Prokof’ev denkt. Nachdem Sergej Ėjzenštejn, mit dem Prokof’ev seine wichtigsten Erfolge als Filmmusikmacher gefeiert hatte, 1948 gestorben war, erwiderte Prokof’ev auf das Angebot, erneut Filmmusik zu komponieren: „Mit dem Tod von Sergej Michajlovič ist meine Kinokarriere beendet.“ Und daran hielt er sich eisern. Šostakovič reagierte vollkommen anders auf den Tod „seines“ Regisseurs Grigorij Kozincev: Das hat mich stark getroffen, sehr erschüttert […] Vermutlich werde ich dennoch weiter Filmmusik machen. Das ist eine so spannende Aufgabe. Übrigens komponierte Šostakovič nach dem Tod Kozincevs auch keine Filmmusik mehr. Aber die beiden ersten Reaktionen sind äußerst typisch. Prokof’ev trifft eine klare Entscheidung, er beschließt, während Šostakovič „sich auf dem Strom des Lebens treiben läßt“, ohne irgendwelche Verbote zu akzeptieren, ohne sich selbst oder den anderen etwas aufzuerlegen. Gott hat ihn vor einem Finale wie jenem aus der Siebten Symphonie Prokof’evs bewahrt. Wäre ihm aber etwas Ähnliches passiert, was hätte er wohl gemacht? Ich vermute, seine Entscheidung wäre kompromißlos gewesen. Wie dem auch sei: Šostakovič ging mit Würde. Über Prokof’evs Abgang liegt ein Schatten. Vom Altern Hier muß ich anmerken, daß es für mich um Šostakovič und Prokof’ev geht, wie ich sie mit meinen siebzig Jahren wahrnehme. Allerdings ist meine Wahrnehmung ihrer Musik seit langem konstant. Jedenfalls hätte ich auch früher behauptet, daß Prokof’evs Werke nicht altern. Das Erste Klavierkonzert, op. 10 ist nach wie vor ein glanzvolles Stück des Zwanzigjährigen, der gerade das Konservatorium beendet hat. Die Worte meines Lehrers, Professor Natan Perel’man, über Prokof’ev sind bis heute einzigartig und werden es bleiben: „Ich erinnere mich an ihn als einen jungen Mann mit goldenen Locken, und nun ist er grau und schwermütig.“ Die Klavierkonzerte Prokof’evs bleiben jedoch jung, alle, nicht nur das erste. Sie sind Musik für junge Menschen. Vor der Oper Krieg und Frieden habe ich größten Respekt. Man könnte sie mit den Worten Vasilij Rozanovs über die Puškinzeit als „seltsame Ewigkeit“ bezeichnen. Die wunderbaren Konturen der Epoche Puškins sind wie kaum etwas anderes in der russischen Kultur erhalten geblieben. Prokof’evs Schaffen, das Puškin enger verbunden ist als Tolstoj, wird auch gegen jede spätere Reflexion bestehen. Es leuchtet und kennt weder Verlust noch Zugewinn. Šostakovičs Musik hingegen ändert ihr Alter. Die Kompositionen aus seiner Jugend scheinen älter zu werden, sie bekommen neue und verlieren alte Inhalte. Die exzentrische Oper Die Nase wirkt mal wie Lyrik, mal wie eine Tragödie; die Ballette – insbesondere Das Goldene Zeitalter – verblassen, ihr Humor nutzt sich ab, zumindest können sie nicht als Beispiel für den paradoxen, für die Kunst so typischen „Rückwärtslauf der Zeit“ dienen: daß das frühe Werk frischer wirkt als das späte. Šostakovičs reife Werke (ab Mitte der 1930er Jahre) haben einen ganz anderen Sinn bekommen oder zumindest zusätzliche Bedeutungen erhalten. Heute lassen sich im Finale der Fünften Symphonie das barocke Golgatha-Motiv und in den Klangbildern der Zehnten Symphonie autobiographische Elemente erkennen. Auch die Symbolik der Achten Symphonie wurde erst im Laufe der Zeit begreifbar. Genauso verdeutlicht sich heute die „unbewußte Religiosität“ des späten Šostakovič, wobei man wieder fragen kann, ob sie tatsächlich „unbewußt“ war. Aus dem Russischen von Irina Pohlan, Bruchsal
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