Nation im Ausverkauf
Prostitution und Chauvinismus in Rußland
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Abstract
Die Prostituierte ist eine zentrale Figur der russischen Kultur. Sie ist Metapher für das traditionell als weiblich verstandene Rußland und dient den Medien und der Literatur täglich dazu, eine russische Identität zu schaffen. Das Geflecht von Kunst und Ideologie, das die metaphorische postsowjetische Prostituierte hervorgebracht hat, ist wie diese selbst: Es zielt in erster Linie auf Männer. Über das Symbol der Prostituierten wird Kritik geübt am Ausverkauf Rußlands an den Westen, dessen Kapitalismus seit 1989 auch in Rußland alles und jeden in eine Ware verwandelt habe. Vor allem bringt die postsowjetische Prostituierte aber die Angst russischer Männer zum Ausdruck, da sie machtvolle Verführerin ist und doch keinen Phallus hat.
(Osteuropa 6/2006, S. 99122)
Volltext
Als· Ende April 1997 ein paar Schiffe aus dem Westen im Hafen der ukrainischen Stadt Sevastopol’ anlegten, stand zur Begrüßung bereits eine Gruppe von Prostituierten Spalier. Was in Anbetracht der traditionellen Verbindung zwischen Landgang und bezahltem Sex zunächst nicht ungewöhnlich war – nur daß diese Frauen die Matrosen nicht mit offenen Armen, sondern mit Streikposten empfingen. Die Seeleute waren Teil der NATO-Operation Sea Breaze, einer Reihe von Truppenmanövern im Schwarzen Meer. Die NATO hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt und keinen problematischeren Ort aussuchen können: War die russische Regierung doch empört über die bevorstehende NATO-Osterweiterung. Hinzu kam der seit dem Zusammenbruch des Sowjetregimes schwelende Territorialkonflikt zwischen der Ukraine und Rußland um die mehrheitlich russischsprachige, von Chruščev 1954 der Ukraine „geschenkte“ Krim. Am „Rußland-Tag“, der an die Einverleibung der Krim ins russische Zarenreich durch Katharina die Große erinnert, berichtete die russischsprachige Zeitung Krymskoe Vremja über eine Gruppe Prostituierter, die zum Boykott der NATO-Seemänner aufgerufen hätten: „Sollen die sich doch von den Frauen der Offiziere bedienen lassen, die uns die NATO-Schiffe eingebrockt haben“, wurde eine der Aktivistinnen zitiert. „Wir für unseren Teil werden die ungebetenen Gäste mit Tomaten und verfaulten Eiern empfangen!“ Diese Worte sind fast zu schön, um wahr zu sein, und es beschleicht einen der Verdacht, daß der Reporter sie erfunden hat, um seiner Geschichte mehr Pfeffer zu geben. Doch ob erfunden oder echt – die Äußerung ist beispielhaft für eine Sexualisierung von Grenzen, die die Prostitution oftmals zur Metapher für internationale Beziehungen macht: die Prostituierte verweigert sich den NATO-Soldaten, so wie das Land diesen den Zugang zu seinem kostbaren und ungeschützten Warmwasserhafen hätte verweigern sollen. Im vergangenen Jahrzehnt kam die Figur der russischen Prostituierten im symbolischen Kampf um Rußlands Seele immer wieder zum Einsatz. Der Zusammenbruch des rußländischen Staates, der Niedergang des Patriotismus sowie die Abwesenheit einer tragfähigen nationalen Idee bevölkern gemeinschaftlich die Bühne der rußländischen Medien und der Kulturindustrie mit Geschichten und Bildern von sexuell enthemmten jungen Frauen, die ihren Körper verkaufen und zahlungskräftigen Kunden ihre Dienste anbieten. Häufig wurden Medien und Kulturindustrie für den Prostitutions-Boom verantwortlich gemacht, der in den letzten Jahren der Perestrojka einsetzte, und den man der Tatsache zuschreibt, daß junge Frauen und Mädchen im ganzen Land so sein wollten wie die russischen Edelprostituierten auf der Leinwand. Und so schiebt man es auch auf die Perestrojka und die darauf folgenden Versuche einer „ökonomischen Schocktherapie“, daß das ganze Land nur noch von der Logik des Kaufens und Verkaufens beherrscht wird, und alles, was irgendeinen Wert hat, zynisch an den Meistbietenden verhökert wird. Im folgenden soll es weniger um das soziale Phänomen der Prostitution gehen als vielmehr um ihre metaphorische Bedeutung. Prostitution und sexuelle Sklaverei sind im heutigen Rußland zweifellos sehr reale und ernste Probleme; kaum ein Monat vergeht, ohne daß irgendeine westliche Nachrichtenquelle von den physischen und psychischen Erniedrigungen all jener Frauen berichtet, die sich der wachsenden Zahl von Prostituierten in der ehemaligen Sowjetunion angeschlossen haben – sei es aus ökonomischer Verzweiflung oder aus der irrigen Annahme, daß ihnen das Verkaufen ihres Körpers zu einem „guten Leben“ verhelfen werde. Die Zeitungen sind voll von Berichten über naive junge Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, die mit der Aussicht auf gutbezahlte Jobs ins Ausland gelockt wurden, nur um sich schließlich irgendwo in Europa oder im Nahen Osten als Sexsklavinnen in einem Bordell wiederzufinden. Doch auf die Prüfungen im Alltag ganz realer Prostituierter einzugehen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, in dem es um Repräsentation und Konsum gehen soll, nicht um Alltag und individuelle Psychologie. Erörtert wird vielmehr, auf welche Art und Weise Rußland, russische Kultur und russische Identität (russkost’) von den Medien und der Kulturindustrie des Landes für das Publikum konstruiert werden. Millionen russischer Zuschauer und Leser haben ein ausgeprägtes Empfinden dafür, in welches Chaos ihr Land in den 1990er Jahren stürzte – nicht nur aufgrund ihrer täglichen Erfahrungen, sondern auch, weil Medien und Kulturindustrie spezifische Erzählmuster erzeugen, die dieses Chaos sowohl konstruieren als auch verstehen helfen – und auf Publikumswirksamkeit angelegt sind. Das Los der realen postsowjetischen Prostituierten ist schrecklich, aber davon handelt diese Geschichte nicht. Streng genommen handelt sie nicht einmal von Frauen. In den meisten Fällen funktioniert das Geflecht von Kunst und Ideologie, das die metaphorische postsowjetische Prostituierte hervorgebracht hat, wie diese selbst: Es zielt in erster Linie auf Männer ab. Ein kurzer Blick auf die Funktion der Prostituierten in Rußlands kultureller Mythologie der Vor-Perestrojka-Zeit zeigt uns, daß die Prostituierte selten als eigenständiges Subjekt vorkommt. In der Regel dient sie als Folie für den männlichen Helden bzw. versinnbildlicht einen wichtigen Schritt in seiner moralischen oder psychologischen Entwicklung. Die postsowjetische Prostituierte ist da keine Ausnahme. Befrachtet mit einer Symbolik, die in einem eklatanten Mißverhältnis zu ihrem Status steht, wird sie zum Zeichen für die nationale Demütigung Rußlands – für die Verzweiflung eines Landes, das gezwungen ist, seine natürlichen und geistigen Ressourcen an skrupellose Abnehmer aus anderen Ländern zu verkaufen. Manchmal ist das Szenario auch optimistischer, und die Prostituierte repräsentiert den ungebrochenen Nationalstolz und die moralische Überlegenheit unter widrigen Umständen. Dies deckt sich mit der jahrhundertealten Tradition, Rußland weiblich zu codieren: als Frau, die mal als strenge und unduldsame Mutter Rußland auftritt und ihre Söhne zu ihrer Verteidigung zusammentrommelt, und mal als unschuldige Jungfrau, die von Eindringlingen aus Ost wie West geschändet wird. Trotz dieser durchgängigen symbolischen Feminisierung des Landes, und obwohl männliche Prostitution so gut wie nie thematisiert wird, repräsentiert die russische Prostituierte die nationale Demütigung nicht etwa als weibliche, sondern als eine männliche Erfahrung. Sie steht für die Ängste einer postsowjetischen Männlichkeit in der Krise, wobei der Verlust der imperialen Bedeutung, der Ansturm des Marktes und der Wettbewerb mit einem triumphierenden Westen gewissermaßen als sexuelle Demütigung des Mannes konstruiert werden. Und obwohl eine weibliche Prostituierte Rußland verkörpert, obwohl sie im Kontext einer spezifisch heterosexuellen gewalttätigen Geschäftswelt zum Opfer wird und ihre Geschichte sogar dem klassischen Muster einer melodramatischen Heldin entspricht, besteht ihr dunkelstes Geheimnis für die kulturelle Vorstellungswelt Rußlands doch darin, daß sie, zumindest symbolisch ein Transvestit ist. Das macht aus ihrer Geschichte allerdings noch kein Crying Game à la russe. Im Gegenteil: Während Jaye Davidson in Neil Jordans Film in der Rolle der Dil ihren Liebhaber schockt, indem „sie“ die Beine spreizt und den Blick auf einen Penis freigibt, bringt die postsowjetische Prostituierte die Angst russischer Männer gerade dadurch perfekt zum Ausdruck, daß sie – die machtlose Verführerin – eben keinen Phallus hat. Die russische Prostituierte und ihre literarische Herkunft xxx When out of the gloom of error With the hot word of conviction I drew out your fallen soul, And, full of deep torture, Wringing your hands, you cursed The vice that had corrupted you. … Believe me: I listened, not unmoved, I greedily caught every sound… I understood everything, unhappy child! All is forgiven and all is forgotten. Come into my home And be its mistress! N. A. Nekrasov: „When out of the gloom of error“ Allem Anschein zum Trotz kann die postsowjetische Prostituierte in Literatur und Film auf eine tadellose Herkunft verweisen und ihren Stammbaum bis zu klassischen russischen Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten zurückverfolgen. Die literarische Tradition Rußlands ist gefallenen Frauen gegenüber ausgesprochen tolerant, und behandelt sie häufig weniger als individuelle Figuren denn als Verkörperungen eines moralischen Dilemmas. Nikolaj Nekrasovs Gedicht Wenn aus der Verirrung Finsternis (Kogda iz mraka zablužden’ja, 1845) lieferte eine Vorlage für die Prostituierte in der Literatur, die bis zum heutigen Tage ihren Widerhall findet: Das lyrische Ich lauscht der Leidensgeschichte einer Prostituierten und ermöglicht ihre Erlösung, indem er ihr einen Heiratsantrag macht: „Und trete ein ganz keck und frei, zur Dame meines Hauses wirst Du“. Der Topos der gefallenen Frau verbindet zwei Hauptthemen der russischen Literatur miteinander: moralische Integrität und sozioökonomischen Status. Dies trifft ebenso auf die postsowjetische Prostituierte zu. Gleiches gilt von der von Olga Matich entwickelten Typologie der gefallenen Frau und ihrer „männlichen Gegenstücke“: Weibliches Opfer und männlicher Täter, weibliches Opfer und männlicher Erlöser, weibliches Opfer/Erlöserin und männliches Opfer, sowie weiblicher Täter und männliches Opfer. Daß die gefallene Frau in den Kategorien von Leiden und Erlösung definiert wird, dürfte Leser russischer Literatur kaum überraschen, sind diese Themen doch von zentraler Bedeutung für die literarische Tradition im allgemeinen und Dostoevskijs Werk im besonderen. Matich erinnert an die zahlreichen Versuche russischer Helden, eine Prostituierte bzw. gefallene Frau zu „retten“, die für gewöhnlich als Opfer widriger Umstände dargestellt wird: Nechljudov und Katjuša Maslova aus Leo Tolstojs Auferstehung, der „Mann aus dem Kellerloch“ und Liza aus Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, und natürlich die Wandlung der Nastja Krjukova von einer Prostituierten zur utopisch-sozialistischen Schneiderin in Černyševskijs Was tun?. Der Impuls, solche Frauen zu retten, kann in einer Vielzahl von Motiven begründet sein – von einer Mischung aus Eitelkeit und falsch verstandenem sozialen Verantwortungsgefühl bis hin zu einem egoistischen Herrschaftsbedürfnis. Es ließe sich in der Tat argumentieren, daß die Erlösungsversuche nichts anderes sind als die Sublimierung einer anfänglich von der Prostituierten ausgelösten sexuellen in eine moralische Erregung: Ihre Notlage und nicht ihr Körper macht sie so verführerisch. Tolstojs Katjuša Maslova, die letzte in einer langen Reihe von Prostituierten in der russischen Literatur jenes Jahrhunderts, ist sich bereits 1899 so sehr über ihren seelischen und sexuellen Status im klaren, daß man beinahe denken könnte, sie sei mit Matichs Typologie vertraut gewesen. Sie beschließt, den Mann, der sie verführt und dabei ihr Leben zerstört hat, nicht so leicht davonkommen zu lassen: „Sie würde sich ihm nicht hingeben, ihm nicht gestatten, ihre Seele so zu benutzen wie er ihren Körper benutzt hatte.“ Bevor er den Erlösungsversuch unternehmen kann, muß der männliche Protagonist die Prostituierte gedanklich erst von einem Sexual- in ein Moralobjekt umwandeln. Gleichwohl könnte die Prostituierte auch als Instrument der Erlösung und nicht so sehr als deren Objekt verstanden werden. Mit einer Ausnahme gründen die genannten Modelle auf einem sexuellen Rollentausch, der eine „soziale Degradierung“ des Mannes zur Folge hat. Das dritte Modell, das weibliche Opfer, das zugleich Erlöserin ist, kommt am prononciertesten in Dostoevskijs Werk zum Ausdruck. Obzwar Dostoevskij das Thema der Erlösung durch Leiden nicht erfunden hat, wurde es bald schon mit seinen Werken und den moralischen Imperativen der gesamten russischen Literaturtradition assoziiert. Seine Fokussierung auf weibliche Opferbereitschaft und Erlösung spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausformung des Bildes von der sich aufopfernden russischen Heldin. In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch hat der Erzähler die Phantasie, daß er die Prostituierte Liza „erheben“ wird – eine Parodie jenes utopischen Idealismus, der in vergleichbaren Szenen bei Černyševskij zum Ausdruck kommt. Am Ende der Erzählung nimmt Liza, die sich der Degradierung des Erzählers bewußt wird, „in einer Art neuen Machtverteilung und Inversion des klassischen Erlöser-Modells die Rolle der Erlöserin ein“. Sonja aus Dostoevskijs Schuld und Sühne ist sicherlich insofern Opfer, als sie ihren Paß gegen den gelben Prostituierten-Schein tauscht, um ihre Familie aus dem Elend zu holen. Gleichwohl besteht ihre Rolle im Roman vor allem darin, den Helden dabei zu unterstützen, den Pfad von Sünde, Hybris und Mord zu verlassen. Es ist Sonja, der im Roman „die Rolle der christusähnlichen Erlöserin zufällt“. Obwohl sich die Figur der leidenden Frau, die zugleich Opfer und Erlöserin ist, auch in der Sowjetzeit hartnäckig hielt – Solženicyns Matrjona ist vielleicht das berühmteste Beispiel –, war sie nach 1920 nur noch selten eine Prostituierte. Gewiß, sie tauchten noch in der Literatur auf, die Revolution und Bürgerkrieg dokumentierte – angefangen mit Kat’ka in Aleksandr Bloks Dvenadcat’ (Die Zwölf), jener Prostituierten, die die Genossen-Harmonie der revolutionären Soldaten gestört hatte – und die erst mit ihrem Tod wiederhergestellt wird – bis hin zu den Soldatenhuren in Isaak Babel’s Konarmija (Die Reiterarmee). Während der Phase der Neuen Ökonomischen Politik blühte die Prostitution als soziales und kulturelles Phänomen wieder auf: Ihre Verbreitung war eine Reaktion auf die erneut ins Recht gesetzten Kräfte des Marktes, und die Prostituierte spiegelte diese in Film und Literatur. Nun wurde die Prostitution als ein soziales Problem behandelt, das sich eher mittels Arbeit und Umerziehung als durch romantischen Idealismus ausrotten ließ. Wenn überhaupt, lag die Rolle des Erlösers nun beim Staat und bei den Ärzten, die im Namen einer aufgeklärten Wissenschaft handelten. Mit Beginn der 1930er Jahre wurde der Krieg gegen die Prostitution für gewonnen erklärt, und das Phänomen hörte offiziell auf zu existieren. Die Prostituierte verschwand von der Bildfläche und tauchte erst wieder auf, als Gorbačevs Perestrojka schon in vollem Gange war. Natürlich gab es weiterhin käuflichen Sex in Bahnhöfen, Devisenhotels und bei besonderen Anlässen für die Parteielite. Doch auch wenn es zahlreiche Beweise dafür gibt, daß die Prostitution als soziales Phänomen weiterhin existierte, so verstummte zumindest der Diskurs darüber: Für Kunst und Literatur eignete sich dieses Thema nicht mehr. Perestrojka-Prostituierte Daß so ein Film gemacht wird, kommt einem Aufruf zur Prostitution gleich. So was gehört verboten. Ein Moskauer Polizist, 1989 Daß die Prostitution in der Sowjetunion kein Thema mehr war, war eine notwendige Folge ihrer angeblichen Ausmerzung als soziales Übel. Doch der Verlust ihres Stellenwerts verweist auch auf grundlegendere Merkmale der Sowjetkultur in der Zeit vor Glasnost. In einer Gesellschaft, in der Geld und Marktbeziehungen nicht die vorherrschenden Tauschmittel waren, mußte die metaphorische Macht der Prostitution begrenzt sein. Auch wenn das Land als weiblich dargestellt wurde, stand Mutter Rußland nicht vor dem Problem, ihre Dienste ausländischen Kunden anzubieten. Im Zweiten Weltkrieg – eindeutig die größte internationale Krise der Sowjetunion – galt es vielmehr, Mutter Rußland vor der Schändung durch einen gewalttätigen Eindringling zu schützen, nicht so sehr vor der Verführungskraft eines reichen Ausbeuters. Die Prostitution ist, sofern sie strafbar ist, das klassische Beispiel für ein „Verbrechen ohne Opfer“: Niemand kommt dabei direkt zu Schaden. Die Lösung moralischer Dilemmata unter Stalin – und selbst noch unter Brežnev – kostete durchaus Opfer, doch als Metapher ist die Prostitution gänzlich ungeeignet, wenn es etwa um die Denunziation von Freunden und Nachbarn bei den Behörden geht. Die gängige Metapher für den „Ausverkauf“ war eher faustischer denn sexueller Natur: Man verkaufte seine Seele, nicht seinen Körper. Eine der Herausforderungen, vor die sich die Kunst der Tauwetterperiode gestellt sah, war daher nicht nur die Beschäftigung mit den Opfern des Stalinismus, sondern auch mit denen, die aktiv daran mitgewirkt hatten, das Leben anderer Menschen zu zerstören. Unter der oppositionellen Intelligencija der Nachstalinzeit war der „Ausverkauf“ an die Behörden und die Anpassung an die niederdrückenden Zwänge des Sowjetsystems eine Frage des Nachgebens gegenüber Erpressung – mit dem Verlust von Grundrechten oder Privilegien bei entsprechender Weigerung – bzw. schleichender Kompromisse – eine Reihe kleinerer Zugeständnisse führt den Betreffenden auf einen Weg, der irgendwann unweigerlich mit der totalen Kapitulation endet. Der Autor, der dieses Dilemma am besten auf den Punkt brachte, ja als Meister dieses Genres gelten kann, war zweifellos Jurij Trifonov. In seinem 1976 erschienenen Roman Dom na naberežnoj (Das Haus an der Moskva) erzählt er die Geschichte eines völlig normalen und sympathischen jungen Mannes, der während der Stalinzeit seinen Lehrer verrät; seine Novelle Obmen (Der Tausch) hingegen zeigt die banaleren Teufelspakte, die man während der Brežnev-Phase der „Stagnation“ einging: Nach und nach gibt die Hauptfigur all ihre Prinzipien auf, um ihre winzige Wohnung gegen eine größere einzutauschen. Mit dem Anbrechen der Perestrojka änderten sich auch die vorherrschenden Metaphern. Und zwar nicht nur, weil der Staat rapide die Fähigkeit verlor, seine Bürger zu moralischen Kompromissen mit dem System zu zwingen, sondern auch weil nun für das System selbst Fragen von Geld und Marktbeziehungen rasch in den Vordergrund traten. Einer der prominentesten und umstrittensten Romanschriftsteller Rußlands scheint diese Veränderung früher als andere vorausgesehen zu haben: Zwischen 1980 und 1982 schrieb Viktor Erofeev an einem Roman namens Russkaja krasavica (Die russische Schönheit, dt. unter dem Titel Die Moskauer Schönheit), der erst 1990 in der UdSSR veröffentlicht werden sollte. Die obszöne Sprache des Romans – die vor dem Ende der 1980er Jahre in der UdSSR undruckbar war – und die drastischen Beschreibungen sexueller Gewalt brachten das Buch einer intellektuellen Leserschaft nicht gerade näher, während seine Erzählweise, der Bewußtseinsstrom, all diejenigen, die nur auf den Kitzel aus waren, eher abschreckte. Die Moskauer Schönheit erzählt die Geschichte eines schönen „Luxusluders“ namens Irina Tarakanova (wörtlich Irina Kakerlake), die – obgleich streng genommen keine Prostituierte – der kommunistischen Nomenklatura, Künstlern und deren Dunstkreis zu Diensten ist. Tarakanova ist die perfekte weibliche Verkörperung eines verderbten, merkantilen Rußlands an der Schwelle zur Perestrojka: Zu einer Zeit, die von Günstlingswirtschaft geprägt ist und in der Erfolg oder Scheitern nahezu ausschließlich von Beziehungen abhängen, bietet sie ihre Dienste an, ohne dafür Geld zu nehmen. Sie ist keine Prostituierte, aber eine Hure. Wie so oft in Erofeevs Werk schlummern auch in Die Moskauer Schönheit unter der modernen Erzähltechnik und der skandalträchtigen Gossensprache Themen aus literarischen Klassikern, die der Autor zu neuem Leben erweckt: Diesmal ist es die leidende, schöne „gefallene Frau“ als Symbol für Rußlands Erlösung. Erofeev ist einer der reflektiertesten postmodernen Autoren Rußlands, und sein Zugriff auf das Thema ist leicht als Parodie zu entschlüsseln. Irina Tarakanova steht eindeutig für das neue Rußland („Zwei Schicksale sollten sich entscheiden: Meines und das von Rußland.“). Sie ist überzeugt, daß sie Rußlands Seele retten wird, weil „Schönheit die Welt retten wird“ – wie Fürst Myškin in Dostoevskijs Der Idiot behauptet, was also stimmen muß. Letztlich sollte jedoch kein Werk der „Hochliteratur“ wie Die Moskauer Schönheit das Bild der Perestrojka-Prostituierten prägen; diese Ehre fiel Interdevočka (Intergirl) zu. Viktor Kunins Roman aus dem Jahre 1988, der ein Jahr später von Petr Todorovskij verfilmt wurde, erzählt die melodramatische Geschichte von Tanja, die tagsüber als Hilfskrankenschwester und abends gegen Devisen als Prostituierte arbeitet. Obwohl sie ihr unlauter erworbenes Geld für Luxusartikel und teure Klamotten ausgibt, gilt ihre Hauptsorge den Freunden und der Mutter, einer gesundheitlich angeschlagenen Frau mittleren Alters. Nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen heiratet Tanja einen ihrer Freier, einen schwedischen Geschäftsmann, der sie fern von Mutter und Heimat in ein Haus mit allen Annehmlichkeiten westlichen Vorstadtlebens und der ganzen Wärme eines skandinavischen Winters verpflanzt. Tanjas Beziehung zu ihrem Ehemann verschlechtert sich rapide, als sie zunehmend von Langeweile und Heimweh befallen wird. Trost findet sie nur in der Freundschaft zu einem sowjetischen LKW-Fahrer, der ihre einzige Verbindung zu ihrem alten Leben ist. Am Ende der Geschichte hat der LKW-Fahrer wegen seines Umgangs mit Tanja den Job verloren, die Mutter begeht Selbstmord, weil sie dem geheimen Leben ihrer Tochter auf die Spur gekommen ist, und die völlig aufgelöste Tanja selbst stirbt bei einem Verkehrsunfall. Dieser rasend erfolgreiche Kassenschlager schreit förmlich nach einer politischen Lesart. Die Prostituierte steht symbolisch für die gesamte sowjetische Gesellschaft: „Metaphorisch gesprochen wird jeder und jede in die Prostitution gezwungen.“ Provokant ist eine andere Interpretation der Perestrojka-Prostituierten: Werke wie Interdevočka werfen ein Schlaglicht auf die Ängste der Intelligencija um die Kultur in einer Ära des globalen Marktes. Zweifellos „dominiert bei Interdevočka das Lexikon der Ökonomie, nicht das des Sex“. Der Roman selbst – mit einem kurzen Vorwort des russischen Sexologen Igor’ Kon versehen, der Kunins Werk für seinen sozialen Nutzwert lobt – ist, was seine Sprache angeht, bemerkenswert keusch. Er enthält weder obszöne Ausdrücke noch explizite Beschreibungen sexueller Handlungen. Die Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften würde sich schwertun, den Film nicht für Jugendliche freizugeben. Doch gibt es in Interdevočka eine ganz andere Form von Geilheit: eine Fixiertheit auf alle möglichen Marken und Warennamen, die jedesmal gnadenlos wiederholt werden, wenn von Kleidung, Autos, Make-up, Parfüm und dergleichen die Rede ist. Allesamt Westimporte, versteht sich – Waffen, mit deren Hilfe der korrupte materialistische Westen in das unschuldige Rußland eindringt, um es in Versuchung zu führen und zu erniedrigen. Natürlich ist für all diese Lesarten von Interdevočka der Umstand entscheidend, daß Tanja eine Devisenprostituierte ist, die in ihrem Streben nach Dollars und Mark für den Rubel nur Verachtung übrig hat. Tatsächlich findet Tanja in einem ausländischen Wagen den Tod, dessen Name auf jenen Teil ihres Körpers verweist, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdient hat: ein Volvo. Wenn wir uns den häufigen Rekurs auf weibliche Symbole für Rußland vergegenwärtigen, wird Tanjas Geschichte zu einer offensichtlichen Allegorie für Rußlands Beziehung zum Westen: Reich an natürlicher Schönheit, verkauft sich Rußland an ausländische Freier, nur um anschließend von Heimweh und Reue überwältigt zu werden. Obwohl Interdevočka letztlich nur ein Roman bzw. Film war, markiert das Werk einen Wendepunkt für die soziale Konstruktion der Prostituierten. Die Filmkritiker fürchteten, daß die Präsentation der mit importierten Klamotten ausstaffierten und im Luxus schwelgenden Hauptdarstellerin Elena Jakovleva Millionen junger Sowjetmädchen dazu verleiten würde, in die Fußstapfen ihrer Stiletto-Absätze treten zu wollen. Und obwohl man es sich zu einfach macht, wenn man die Schuld für alle sozialen Übel der Zeit bei den Medien sucht, ist doch unstrittig, daß die Zahl der Prostituierten in den Jahren nach Erscheinen des Films dramatisch in die Höhe schnellte. Ohne Frage gibt es klare sozioökonomische Gründe für dieses Phänomen, die nichts mit der korrumpierenden Macht von Film und Literatur zu tun haben, doch der Film lieferte ein leicht verdauliches Erzählmuster als Vorlage, das zu einer Verschärfung der Entwicklung beigetragen haben dürfte. Mehr als ein Jahrzehnt später warf man dem Film Interdevočka immer noch routinemäßig vor, an Rußlands Prostitutionsproblem schuld zu sein. 1999 brachte die Mai-Ausgabe der populären Filmzeitschrift Kino-Park einen Artikel unter dem Titel „Wie man Interdevočka der Prostitution bezichtigte“, in dem Professoren, Polizisten und sogar Prostituierte die These vertreten, Todorovskijs Film sei – trotz seines tragischen Endes – dafür verantwortlich, Mädchen vom rechten Pfad der Tugend abgebracht zu haben. Kurioserweise greift der Artikel dabei selbst auf die Metapher der Prostitution zurück, um zu erklären, wie ein Film über die Prostitution reale Mädchen und Frauen dazu bringen konnte, für ihren Lebensunterhalt anschaffen zu gehen: Er erklärt die Produzenten des Films zu Zuhältern, die die russische Öffentlichkeit auf den Strich schicken. Nach 1991: Auf dem Markt Es gibt Nationen und Kulturen, die einfach wissen, wie man Frauen kauft und verkauft… In der Theorie konnte die russische Hochkultur (kul’tura) das nicht ertragen. Kaufen und Verkaufen löste bei ihr Kultur-Krämpfe aus. Sie war auf einzigartige Weise un-geldgierig. Ohne vorherige gründliche Prüfung der Angelegenheit erklärte sie Frauen einfach für unbezahlbar. Aus diesem Grund hat die russische Kultur ein derart verkrampftes Verhältnis zur Prostitution. Viktor Erofeev Intergirl erschien nur zwei Jahre nach dem paradigmatischen Moment, der die Sexualität wieder zu einem wichtigen Bestandteil der russischen Öffentlichkeit machte: Als bei einer von Phil Donahue und Vladimir Pozner moderierten sowjetisch-amerikanischen Satelliten-Telefontalkshow eine Frau aus dem russischen Studiopublikum erklärte: „In der Sowjetunion gibt es keinen Sex.“ Ihre Worte waren nicht ganz ernst gemeint und wurden mit Sicherheit falsch verstanden – sie bezogen sich auf Sex als Thema in den Medien und der Unterhaltung, nicht auf die körperliche Betätigung –, doch sie wirkten wie eine Art Kampfansage: Denn in den vergangenen Jahren mühte sich Rußland nach Kräften, die Frau Lügen zu strafen. Talk-Shows, Filme, Romane und praktische Ratgeber begegnen dem russischen Konsumenten heute auf Tritt und Schritt, und wer in einer Großstadt lebt, hat die Auswahl zwischen zahlreichen Sexshops und kann alle erdenklichen Plastikspielzeuge und batteriebetriebenen Geräte mit nach Hause nehmen, die es zu Sowjetzeiten nie so recht geschafft hatten, als Produktkategorie in die Fünfjahrespläne aufgenommen zu werden. Und obwohl der Gesetzgeber immer wieder versucht, die Pornographie einzudämmen oder gleich ganz zu verbieten, sind einschlägige Magazine und Videos heute fast genauso leicht erhältlich wie ein Laib Schwarzbrot (wenn auch nicht ganz so billig). Da die russische Kultur im Grunde gleichzeitig eine sexuelle wie eine Markt-Revolution erlebt hat (obwohl beide Behauptungen durchaus problematisch sind), ist der Sex-Diskurs unentwirrbar mit dem ökonomischen verbunden. Das hat zur Folge, daß Frauenkörper und weibliche Sexualität auf eine in der russischen Geschichte beispiellose Weise zu Waren gemacht wurden. Seit anderthalb Jahrzehnten erscheinen Stellenanzeigen, in denen attraktive junge Frauen für Sekretärinnenjobs gesucht werden, mit dem beiläufigen Zusatz, daß die Frauen „bez kompleksov“, also „frei von Hemmungen“ sein sollten – ein kaum verschlüsselter Verweis auf die horizontalen Pflichten der Sekretärin gegenüber ihrem Chef. Und genauso wie sich europäische und amerikanische Werbespots schöner Frauen bedienen, um Autos oder Bier zu verkaufen, greift die russische Werbung auf halbnackte, sexuell verfügbare Schönheiten zurück, um damit für die abwegigsten Dinge zu werben: Vor einiger Zeit warb ein Plakat für ein Kopiergerät, indem es eine Frau zeigte, die sich in aufreizender Pose auf dem Kopierer räkelte – darunter der Slogan „ona ne otkažet“ – ein Wortspiel, das suggeriert, daß weder das Kopiergerät versagen noch die Frau Nein sagen wird. Ähnlich sinnträchtig war eine West-Reklame aus dem Jahr 1999: Darauf war eine schöne Stewardeß zu sehen, die neben einem gutaussehenden männlichen Passagier sitzt. Sie hat ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, und ihre von einem schwarzen Spitzen-BH kaum verhüllten Brüste quellen aus der aufgeknöpften Uniform. Obwohl der Mann ihr in die Augen sieht, zeigt das Logo der Zigarette geradewegs auf den Ausschnitt der Frau, und der Slogan über beiden Köpfen verkündet: „Alles ist möglich.“ Diese Reklame ist besonders bezeichnend, da sie eine Verbindung zwischen dem sexuellen Warencharakter der Frau und den quälerischen Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen herstellt. Die Kleidung des Mannes und das Gesicht der Frau deuten stark darauf hin, daß beide Russen sind – doch das Kunstprodukt, das den beiden unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet, erscheint in ausländischer Verpackung: Das Farbschema ist bei Marlboro abgekupfert – unbestrittene Lieblingsmarke bei den russischen Rauchern, die sie sich leisten konnten –, während der Name für sich spricht. West präsentiert einen relativ unkomplizierten Zusammenhang zwischen Sexualität, männlichem (russischen) sexuellen Erfolg und westlicher Konsumkultur. Ende der 1990er Jahre war dieses Idyll freilich eher die Ausnahme als die Regel. Auch hier spielt die Figur der Prostituierten wieder eine zentrale Rolle: Immer wieder stellvertretend für Rußland insgesamt verkauft sie ihre Dienste, sich selbst, und oft genug auch ihren Stolz. Das Drama des postsowjetischen Rußland in punkto internationaler Prostitution vollzieht sich also stets auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Auf der empirischen Ebene gibt es eine ungehemmt wachsende Zahl hochbezahlter Callgirls, die den „neuen Russen“ und ausländischen Geschäftsleuten zur Verfügung stehen, einen Boom russischer „Versandhaus-Bräute“ sowie den einschlägig bekannten Handel mit Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, die in alle Welt verkauft werden. In allegorischer Hinsicht wird der „Export“ russischer Frauen unweigerlich mit der kurzsichtigen Verscherbelung russischer Ölreserven für den westlichen Verbrauch gleichgesetzt. Die russische Frau ist Teil einer Konstellation von Symbolen, die für die russischen Ängste vor einer zunehmenden Kommodifizierung stehen. In der russischen Vorstellungswelt erfüllt die Prostituierte, die westliche Freier bedient, weitgehend dieselbe Funktion wie das Baby, das von kinderlosen Paaren aus Amerika oder Europa adoptiert wird, oder die populären Großstadtmythen über Entführungsopfer, denen man Organe entnimmt und diese anschließend auf dem Schwarzmarkt der Transplantationsmedizin verhökert. In all diesen Fällen wird etwas nach allgemeinem Empfinden Intimes oder sogar Heiliges auf Gedeih und Verderb der Willkür des postkommunistischen globalen Marktes ausgeliefert, und Rußland wird zu einem Lager für menschliche Ersatzteile. Rita Prozorova, die Heldin in Sergej Pugačevs Roman Ty prosto šljucha, dorogaja! (Du bist einfach eine Schlampe, Schätzchen!), entkommt der sexuellen Sklaverei in der Provinz, nur um sich anschließend von Organhändlern in der Hauptstadt anwerben zu lassen. Sie entkommt nur, weil sie genügend Berichte im Fernsehen gehört hat, um die drohende Gefahr zu erkennen: Bei irgendeinem Millionär in Chicago setzt die Herzklappe aus, und in Moskau oder Sankt Petersburg verschwindet ein Mensch. Genauso wird sie verschwinden, damit ihre Niere irgendwo in San Francisco amerikanisches Urin verarbeiten kann. Sterben, bloß damit in San Francisco einer pissen kann? Ihr könnt mich mal! Ritas Flucht vor den Organhändlern ist parallel zu ihrer Flucht aus der Prostitution aufgebaut: Um nicht zum Opfer zu werden, schreckt sie auch vor Selbstmord nicht zurück. Ritas Geschichte ist nur insofern ungewöhnlich, als sie selber als Actionheldin in Erscheinung tritt und zudem eine hoffnungslos unsympathische Figur ist: Der Roman beginnt damit, daß sie nacheinander ihre Mutter, einen Nachbarn und einen Polizisten umbringt, und das alles auf dreißig Seiten. Sie ist auch keine professionelle Prostituierte. Diese sind in der russischen Populärliteratur in der Regel weitaus anziehender, und ihre Geschichten zielen darauf ab, beim männlichen Publikum diverse widerstreitende Gefühle wachzurufen. Auf der sexuellen Ebene trägt die Geschichte der russischen Prostituierten zu einem wachsenden Minderwertigkeits- und Unsicherheitskomplex bei russischen Männern bei, für den die zahlreichen Publikationen und Sendungen, die sich vor allem an männliche Konsumenten richten, ein schlagender Beweis sind. Allein die Tatsache, daß es in Rußland Männermagazine und Softpornos gibt, deutet auf die Bedrohung durch ausländische Konkurrenz hin: Egal, wie sehr sie um Originalität bemüht sind: Erotika und Pornographie für den männlich-heterosexuellen Markt in Rußland können ihre ausländischen Ursprünge nicht leugnen. Der Playboy-Klon Andrej, das erste Hochglanz-Männermagazin in der ehemaligen UdSSR, entlarvte derlei Ängste gleich in seiner allerersten Ausgabe in einem Cartoon: Zwei Prostituierte präsentieren sich auf einer Moskauer Straße. Die erste, eine Russin, steht unter dem „M“ eines Metro-Schilds und betrachtet voller Entsetzen eine schwarze Frau, die an das „M“ eines McDonald’s-Schilds gelehnt steht. Solche Publikationen posaunen die Tugenden der russischen Frau in die Welt hinaus und wiederholen das Mantra russischer Männer, daß die Frauen nirgendwo so schön seien wie in Rußland. Doch sie bekräftigen auch die Gefahr, daß diese Frauen die Aufmerksamkeit reicher Ausländer erregen werden – durch angeschlossene Projekte wie Andrejs eigene Website. Ironischerweise zogen sich diese Publikationen, die anfänglich so schamlose Anleihen bei westlichen Vorbildern wie Playboy und Penthouse gemacht hatten, letzten Endes auf eine national-chauvinistische Haltung zurück, als Playboy und Penthouse ihre eigenen russischen Ausgaben auf den Markt brachten. Magazine wie Andrej erlebten dieselben Ängste wie ihre (männlichen) russischen Leser, als sie sich plötzlich ausländischer Konkurrenz gegenübersahen. Wenn die Darstellungen in Medien, Pornographie, Literatur und Film als Indikatoren gelten können, dann droht der russischen Männlichkeit von überall her Gefahr, sowohl an der Heimatfront als auch seitens des Westens. Die 1990er Jahre sahen die Blüte einer Literatur, die den vermeintlich traurigen Zustand postsowjetischer Männlichkeit zum Gegenstand hatte: Lina Tarachovas Vospitat’ mužščinu (Wie man einen Mann großzieht, 1992), Vladislav Vladislavskijs Esli ty mužščina (Wenn du ein Mann bist, 1991) und Aleksandr Nikulins Mužskoj razgovor (Männergespräche, 1990) behaupten allesamt, daß es sich beim russischen Mann um eine gefährdete Spezies handelt. Diese Bücher sind zum Großteil pädagogischer Natur und darauf angelegt, der jüngeren Generation traditionelle männliche Werte zu vermitteln. Es sind Bücher für Jungen und ihre Lehrer. Sie sind offenbar die Reaktion auf eine Klage, die häufiger von russischen Frauen als von russischen Männern geäußert wird: Dem Vorwurf nämlich, daß das Sowjetsystem „infantile“ und „abhängige“ Männer hervorgebracht habe. Der prominenteste Vertreter dieser Sichtweise ist vielleicht kein geringerer als Viktor Erofeev, der Autor der Moskauer Schönheit, dessen Essaysammlung Männer (Mužščiny) (1997) Gelegenheitsarbeiten versammelt, die in solchen Magazinen wie Andrej und der russischen Ausgabe des Playboy erschienen. Die Artikel in Andrej waren ursprünglich in einer wöchentlichen Kolumne namens „Männerrechte“ erschienen, und die sechste Ausgabe aus dem Jahre 1995 brachte einen Artikel von Erofeev mit dem Titel Polet ‚oblaka v štanach‘ (Der Flug der ‚Wolke in Hosen‘). Nach einigen Seitenhieben auf den Feminismus und seine Gefahren – und reichlich selbstgefälligen Ausführungen zur westlichen Debatte über sexuelle Belästigung – setzt Erofeev den Leser davon in Kenntnis, daß „das Los der Männer in Rußland zwar anders aussieht, aber darum nicht weniger dramatisch ist“, weil der russische Mann nicht etwa nur unter Beschuß stehe, sondern schlichtweg nicht mehr existiere. Dank der Sowjetmacht – die, wie Erofeev zugibt, von Männern errichtet wurde – habe der russische Mann jene Ehre und Freiheit verloren, die das Gütezeichen wahrer Männlichkeit seien. Auch wenn der russische Mann immer noch Mensch (čelovek), „Kerl“ (mužik) und Ehemann (muž) sei, umschrieben all diese Begriffe letztlich doch nur begrenzte und unbefriedigende Rollen für den eigentlichen, „echten“ Mann. Erofeev deutet an, welches Schreckgespenst die russische Männlichkeit plagt: das der westlichen Kultur und des westlichen Mannes. Wo der russische Mann bereits der Vergangenheit angehört, bleibt die russische Frau ganz und gar real: „Die Frau besteht aus Bedürfnissen. In Rußland haben wir tonnenweise Bedürfnisse. Darum ist Rußland eine Frau. Und die russische Frau macht sich keine Illusionen: Sie weiß, daß es in Rußland keine Männer gibt. Daher will sie raus aus Rußland.“ Einmal mehr ist diese sexuelle Drohung untrennbar mit einer ökonomischen verbunden: Einerseits beklagt sich der von Andrej beschworene russische Mann über die Konkurrenz westlicher Männer, andererseits sieht das Magazin Rußland von der konkurrierenden amerikanischen Popkultur bedroht und muß selbst darum kämpfen, seine Marktanteile gegenüber den aus Amerika importierten Männermagazinen zu behaupten, insbesondere gegenüber dem russischen Playboy, der sich inhaltlich nur geringfügig von der US-Version unterscheidet. Erofeevs Artikel setzt die beliebte These von den russischen Männern, die nichts taugen, in Beziehung mit dem – als problematisch empfundenen – Umstand, daß russische Frauen sich in den Westen „exportieren“. Mit ein paar Federstrichen verbindet der Autor der Moskauer Schönheit die Krise der russischen Männlichkeit mit den Themen Prostitution, internationale Geschäftswelt und Rußlands Beziehung zum Westen zu einem übergreifenden Diskurs über verletzten nationalen und männlichen Stolz. Wie also versucht die russische Populärkultur jenes Gefühl von Demütigung und Verrat zu exorzieren, für das symbolisch die Prostituierte steht, die schamlos Grenzen überschreitet und Körperflüssigkeiten austauscht? Sie greift ganz einfach auf ein ausgelutschtes Klischee aus Prostitutionserzählungen zurück und gibt diesem einen nationalistischen Dreh: Attraktivität und Wert der Prostituierten werden dadurch belegt, daß der Westen dafür zu zahlen bereit ist – doch ihre Spiritualität und die letztendliche Überlegenheit des russischen Mannes offenbaren sich, wenn sie ihre Dienste um der Liebe und nicht um des Geldes willen anbietet. Im großen und ganzen verkehrt die Prostituierte nur mit ihren ausländischen Freiern auf einer geschäftlichen Ebene – dem russischen Helden schenkt sie sich ohne Gegenleistung. Der Moment, in dem die Prostituierte aufhört, Geld zu nehmen, kommt oft tatsächlich einer Wiederherstellung der russischen Qualitäten des Helden gleich. 1993 produzierten der Regisseur Ivan Ščegolev und der Drehbuchautor Lev Korsunskij die eher plumpe Komödie Amerikanskij Deduška (Der amerikanische Großvater), der letzte Film des beliebten Schauspielers Evgenij Leonov. Dieser spielt einen Emigranten, der aus Brooklyn in seine russische Heimat zurückkehrt, um sich eine Grabstelle zu kaufen, seine Beerdigung zu planen und zu Hause im Kreise seiner Lieben zu sterben. Diese verfolgen freilich weitaus handfestere Ziele. Der unerklärlichen Logik einer Filmkomödie gehorchend, ist Leonov in den USA zu Reichtum gekommen – dafür ist Amerika schließlich da –, und so ist er bald von zahlreichen Schmarotzern umgeben, die versuchen, soviel Geld wie möglich aus ihm herauszuquetschen, bevor er das Zeitliche segnet. Im Laufe der Handlung begegnet Leonov auf dem Weg zu einem Hotelrestaurant einer Russin, die der Zuschauer unschwer als Prostituierte erkennt – sie trägt die typische „Uniform“: High Heels, Netzstrümpfe, Minirock und grelles Make-up. Leonov begreift aber nicht, daß es sich um eine Professionelle handelt: Er war zu lange im Ausland, um wissen zu können, daß es in Rußland heutzutage von Callgirls nur so wimmelt. Trotz seiner Amerikaerfahrung fehlt ihm offenkundig das Näschen dafür, eine Hure zu erkennen. Die Prostitution wird vielmehr implizit als rein russisches Phänomen gekennzeichnet. Da wir uns in einer Komödie befinden, zumal einer mit dem Wort „amerikanisch“ im Titel, hat das Ganze natürlich ein Happy-End. Und so kommt es anstelle eines tragischen Finales mit Begräbnis am Ende zu Leonovs Hochzeit mit der Prostituierten, die inzwischen schwanger ist. Leonov ist nach Hause gekommen, um zu leben, nicht um zu sterben. In diesem Plot steckt eine ganze Menge Material: Spätestens seit der Russischen Revolution sind Emigration und Exil symbolisch mit Bildern des Todes verbunden worden, wobei die Fremde stets für das Land der Toten stand. Auch Interdevočka bedient sich dieser Tradition. Tanjas neue Heimat wird als Land gezeichnet, das sie zuerst lebendig begräbt und dann tatsächlich umbringt. Leonovs Happy-End ist die Kehrseite der Tragödie bei Interdevočka: Die Prostituierte findet ihr Glück, indem sie einen ausländischen Freier heiratet, der sich als Russe entpuppt. Sie trägt zu seiner Versöhnung mit den geldgierigen Verwandten bei, und die Neuvermählten bleiben in ihrer Heimat, um Kinder großzuziehen statt ins Ausland zu gehen und dort zu sterben. Hier unterstützt die Prostituierte die Wiedereingliederung in die russische Heimat und verhilft den „Familienwerten“ zu neuer Geltung – ein Gegenbild zum Exil und der bedrückenden Dominanz reiner Marktbeziehungen. Eine ähnliche Rolle als „Fremdenführerin“ spielt die Devisenhure in dem Actionstreifen Vse to, o čem my tak dolgo mečtali (Alles, wovon wir so lange geträumt haben), auch wenn der Film tragisch endet. Ein junger Mann wird von einem alten Armee-Kameraden dazu verleitet, aus Westeuropa Drogen nach Rußland zu schmuggeln, ohne zu begreifen, daß es sich um ein abgekartetes Spiel handelt, bei dem er gefaßt und getötet werden soll. Obwohl er angewiesen wurde, ohne Pause durchzufahren, läßt er sich, angelockt von den Lichtern einer deutschen Stadt, auf den Besuch eines Striplokals ein, wo er sich sogleich zu einer platinblonden Stripperin hingezogen fühlt, die er für eine „echte Deutsche“ hält. Als es ans Zahlen geht, stellt sich natürlich heraus, daß sie Russin ist und, oh Wunder, Natascha heißt – in ganz Europa und im Nahen Osten laufen russische Prostituierte immer unter dem Namen „Natascha“. Es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung, in deren Folge der Protagonist im Knast landet. Bald findet sich Natascha, die ihn zunächst als typischen zerlumpten Russen verachtet hatte, in einer für Frauen aus der Ex-UdSSR nur allzu vertrauten Rolle wieder: Sie bringt dem jungen Mann Päckchen ins Gefängnis. Nach einem Kickbox-Kampf, der für einen Mitgefangenen tödlich endet, gelingt ihm der Ausbruch, mit silberner Körperfarbe bemalt und mit nichts als einem Lendentuch bekleidet. Bei ihrem Wiedersehen entpuppt sich Natascha als Fremdsprachensekretärin, die unter dem Versprechen, als Übersetzerin arbeiten zu können, ins Ausland gelockt wurde, wo man ihr den Reisepaß wegnahm und sie zur Sexsklavin machte. Dank ihr gelingt es dem Helden, seinem Leben eine Wende zu geben. Natascha bringt ihn in eine orthodoxe Kirche, wo er, von der Macht der Ikonen überwältigt, in Ohnmacht fällt. Er kehrt zurück nach Rußland und wird auf den Glauben seiner Väter getauft, unter den Augen einer nun etwas züchtiger bekleideten, selig lächelnden Natascha. Bald darauf wird diese schwanger, und das Paar schmiedet Pläne für eine glückliche Zukunft. Bevor sie und der Held jedoch ihr neues Leben beginnen können, wird Natascha von Gangstern erschossen. Alles, wovon wir so lange geträumt haben ist ein Prostitutions-Melodram à la Dostoevskij, in dem die Heldin zur Erlösung ihres Geliebten beiträgt. Hier werden diese abgedroschenen Themen freilich in eine Welt der internationalen Geschäfte und der nationalen Ernüchterung übertragen. Als der Held noch in der Armee diente, träumten er und sein Freund von einem Leben in Saus und Braus, wie es nur im Westen möglich war. Doch als er in Deutschland ankommt, ist der Westen für ihn bloß ein Gefängnis. Seine Stellung im Leben ist zugleich typisch für so viele junge Russen, die nach der Entlassung aus der Armee ziellos und desillusioniert sind, als auch symbolisch für die russische Männlichkeit im allgemeinen. Gehörte er früher noch zu einer Organisation aus lauter Kameraden, die ihm einen gewissen Halt und ein Ziel gaben, so muß er nun selbst einen Platz für sich finden in einer rauhen, unwirtlichen Welt. Was Natascha angeht, so verlangt sie zwar von Ausländern Geld für ihre sexuellen Dienstleistungen, gibt sich dem Helden aber unentgeltlich hin und ermöglicht ihm so die Wiedereingliederung in die traditionelle russische Wertegemeinschaft. Eine Prostituierte namens Natascha spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Erlösung des Helden in Viktor Dosenkos Bestseller-Actionroman-Serie Bešenyj (Verrückter Hund) – der Spitzname des Protagonisten Savelij Govorkov. Die fünfte Folge, Mest’ Bešenogo (Die Rache des verrückten Hundes), setzt mit dem Begräbnis von Savelijs letztverstorbener Freundin Natascha ein. So gut wie alle Geliebten verwandeln sich nämlich schon bald in schöne Leichen, die von Bešenyj gerächt werden müssen – mit Ausnahme der minderjährigen Rozočka, die er schließlich heiratet. Direkt im Anschluß an die Beerdigung begegnet er einer schönen jungen Prostituierten, die so heißt wie seine Geliebte, und räsoniert über diesen an sich wenig bemerkenswerten Zufall. Natascha hat zwar ihren freien Tag, doch als sie ihm in die Augen sieht, ist ihr gleich klar, was er jetzt braucht. Sie weiß, was es heißt, einen geliebten Menschen zu begraben, hat sie doch selbst vor drei Jahren ihre kleine Tochter verloren, die von einem Betrunkenen überfahren wurde. Angesichts der Beerdigung der anderen Natascha kehren die Erinnerungen an den Tod der eigenen Tochter zurück: „Auf ganz und gar weibliche Weise spürte sie, daß er Hilfe brauchte, daß ihm etwas Tragisches widerfahren war.“ Sie nimmt ihn mit nach Hause, wo sie einen Cognac nach dem anderen kippen und auf die gefallenen Afghanistan-Veteranen anstoßen. Über kurz oder lang landen sie im Bett, und das hat für beide etwas Erlösendes: Die abgebrühte Natascha ist nervös und aufgeregt wie beim allerersten Mal, und Bešenyj wird von einer Epiphanie ereilt, wie sie in der modernen Literatur beispiellos ist: Als er anal in sie eindringt, ruft er ihren Namen und kommuniziert so mit dem Geist seiner verstorbenen Geliebten, während die lebendige Natascha den ersten Orgasmus ihres Lebens hat. Nun kann Bešenyj sich wieder seiner Mission widmen und Rußland vor seinen Feinden befreien – Natascha hingegen ist durch den Analsex mit ihm wie verwandelt. „Sie war innerlich ruhig und froh gestimmt: zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sie sich rein und unbeschmutzt.“ In den späten 1990ern war die Prostituierte mit Herz bereits wieder ein derart allgegenwärtiger Bestandteil der Populärkultur, daß sie sich als Zielscheibe für Satire geradezu anbot. Viktor Pelevins Roman Žizn’ Nasekomykch (Das Leben der Insekten, 1997) – eine Tierfabel, in der fast alle Hauptfiguren Insekten sind, die sich mit den Absurditäten des modernen Rußland herumschlagen müssen – bedient sich einer Prostituierten, um eines von Pelevins Lieblingszielen aufs Korn zu nehmen: den ultranationalistischen, pseudomystischen Diskurs über Rußlands Schicksal. Eine der Hauptfiguren, ein Amerikaner namens Sam Sucker, auf Geschäftsreise in Rußland, ist in Wahrheit ein Moskito, der nach Moskau gekommen ist, um Kostproben der dortigen Küche (sprich: russischen Bluts) zu sammeln. Kurz nach seiner Ankunft lernt er eine russische Fliege namens Natascha kennen, die Sams russische Kompagnons sogleich als Prostituierte ausmachen. Pelevin gelingt es hier, sowohl Interdevočka als auch Kornej Čukovskijs klassisches Kindergedicht Mucha-Cokotucha, in dem eine Fliege von einem Moskito gerettet wird, zu parodieren. Wie Tanja in Interdevočka ist auch Natascha eine Enttäuschung für ihre kranke Mutter – in diesem Fall eine ans Haus gefesselte Witwe, die die Überreste von Nataschas Vater verspeist hat, während sie darauf wartete, daß ihre Eier ausschlüpfen –, weil sie sich im Tausch für ein besseres Leben dafür entschieden hat, ihren Körper zu verkaufen. Nachdem Sam und sie in unberührter Natur miteinander geschlafen haben, flüstert Natascha ihrem ausländischen Kavalier eine naive Frage ins Ohr: „Sam… Stimmt es, daß es in Amerika jede Menge Scheiße gibt?“ Sam nickt begütigend und versichert ihr, daß er tatsächlich aus dem Land des Überflusses kommt. Doch wie so viele ihrer Vorgängerinnen nimmt auch diese Natascha ein tragisches Ende. Sie ist sich Sams Liebe derart sicher, daß sie sogar Englisch lernt, um sich auf den unvermeidlichen Abschied vorzubereiten („Please cheese and pepperoni“), doch Sam denkt nicht daran, sie mitzunehmen. Natascha ist untröstlich und begeht Selbstmord, indem sie sich an einem Streifen Fliegenfänger-Papier erhängt. Nymphomanie: Die Prostituierte als „Seelenbarometer“ „Ich war einmal stolz auf mein Land. Dann wurde es verraten, zerstört und geschändet, wie eine billige Schlampe. Man hat zugelassen, daß es entweiht wurde. Was sich heute Rußlands Staat schimpft, ist nichts, auf das man stolz sein könnte, man schämt sich höchstens dafür. Dieses Land ist wie eine Prostituierte, die für jeden dahergelaufenen Kerl die Beine breit macht. Und sogar ihre Jungen frißt, wie ein Schwein!… Gut, das reicht. Machen wir weiter. Ich hatte Ideale. Keine besonders feinsinnigen Ideale, aber immerhin solche, die von jedem normalen Menschen respektiert wurden. Nun werden diese Ideale verhöhnt, verleumdet und in den Dreck gezogen, und jeder feige Hund, der vorher keinen Mucks gemacht hätte, kann jetzt öffentlich darauf spucken! Wenn ich das sehe, könnte ich die Leute umbringen! Aber dann müßte ich ganz schön viele umbringen…“ Dmitrij Ščerbakov, Nimfomanka: Bespoščadnaja strast’ Dies ist das Lamento von Sever Belov, dem Helden aus Dmitrij Ščerbakovs grellem Reißer Nimfomanka: Bespoščadnaja strast’ (Die Nymphomanin – Leidenschaft kennt keine Gnade), dem zweiten Teil einer Trilogie über eine sexsüchtige, doch hochmoralische Frau und ihren mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Ehemann, die es mit der russischen und tschetschenischen Mafia aufnehmen. Sever weiß, wovon er spricht: Er hat die besten Jahre seines Lebens damit zugebracht, ein Land zu retten, das gar nicht gerettet werden will, und seine Frau Mila ist eine Berufsprostituierte, deren „Krankheit“ – ein physisches Bedürfnis nach Vergewaltigung und Demütigung – sie jedes Mal wieder ins Bordell treibt, nachdem sie eben erst den Klauen ihres letzten Zuhälters entkommen ist. Sever erzählt die Geschichte seinem besten Freund, dem Chirurgen Pavel Kuzoslev, dessen Sorge um die Belovs dazu führt, daß er sich zum Psychoanalytiker weiterbildet, um Mila von ihrer Nymphomanie zu heilen und Sever von seiner „reaktiven Psychose“, die schon zu einem Selbstmordversuch geführt hat. Und wie reagiert der gute Doktor auf Severs Tirade? „Du schaust zuviel in die Glotze!“ Alle drei Teile von Dmitrij Ščerbakovs „Nymphomanin“-Trilogie („Die Nymphomanin“, „Die Nymphomanin – Leidenschaft kennt keine Gnade“, und „Die Nymphomanin – Die Liebe einer Hure“, datieren aus den späten 1990ern, und obgleich es keine Anzeichen dafür gibt, daß sie jemals die Beliebtheit von Interdevočka erreichen werden, bilden sie doch den postsowjetischen Prostitutionstext par excellence. Sämtliche oben diskutierte Themen spielen eine Rolle: Grenzüberschreitungen, ein feminisiertes Rußland und der Westen, die Prostituierte als Symbol für die russischen Rohstoffressourcen, der Fokus auf den männlichen Helden und vor allem die Prostituierte als christusähnliche Erlöserin. Im ersten Roman geht es um die Geschichte von Sever Belov und Mila, die beide nach einem Verkehrsunfall das Gedächtnis verloren haben. Als sie sich wieder begegnen, wissen sie nicht einmal mehr, daß sie zuvor ein Paar waren, doch sofort verbindet sie eine große Leidenschaft. Und noch etwas anderes: Beide verfügen über außergewöhnliche Fähigkeiten. Sie können eine Aura ausstrahlen, die verhindert, daß die Leute sich an sie erinnern; sie besitzen übernatürliche Kräfte und einen eisernen Willen; Belov kann Dutzende von Menschen mit bloßer Hand töten und bringt Mila diese Fähigkeit bald ebenfalls bei. Doch Mila kann noch etwas anderes: Als erotische Tänzerin treibt sie Männer wie Frauen in sexuelle Ekstase. Nach dem Unfall findet Sever Arbeit als Mechaniker und wird bald von der örtlichen Mafia angestellt. Mila wird zur begehrtesten Prostituierten in einem Edelbordell, und so sehr sie sich auch selbst für ihre Beschäftigung verachtet, kann sie die Prostitution doch nicht aufgeben. Aus Gründen, die bis zum Ende des ersten Romans nicht ganz klar werden, hat sie ein unstillbares Verlangen danach, vergewaltigt und – physisch wie verbal – mißhandelt zu werden. Belovs Freund, der Arzt, beschreibt Milas Nymphomanie sogar als etwas Physiologisches: Wenn ihr Gehirn nicht die erforderlichen Impulse durch die Vergewaltigungen bekommt, wird es sich buchstäblich selbst zerstören. Als Sever und Mila sich ineinander verlieben – wie sich herausstellt, zum zweiten Mal –, zehrt es ernsthaft an ihrer Beziehung, daß Sever Mila nie genügt – obwohl seine übermenschlichen Kräfte sich auch aufs Schlafzimmer erstrecken – normalerweise sind die beiden die ganze Nacht zugange. All dies spielt sich im Kontext eines virulenten Rassismus und einer beiläufigen Verachtung für demokratische Reformen ab. Severs Feinde im ersten Roman sind vornehmlich Tschetschenen und Georgier, die er routinemäßig als černožopaja maz’ („schwarzer Abschaum“) oder černomazy (die russische Entsprechung für „Nigger“) bezeichnet. Seine Lösung für das Tschetschenen-Problem ist einfach: Alle Tschetschenen aus Rußland ausweisen und die Grenzen zu Tschetschenien für immer dicht machen! Sein Urteil über die El’cin-Regierung ist ähnlich kompromißlos, wenn auch weniger hitzig: Beiläufig erwähnt der Erzähler 1991 als das Jahr, in dem der Kreml endgültig unter den „Einfluß amerikanischer Agenten“ geraten sei. Severs nationalistischer Stallgeruch, der bereits zu einem frühen Zeitpunkt verbreitet wird, wird noch weiter gestärkt, wenn der Leser erfährt, daß Sever in seinem früheren Leben Grenzsoldat war und seine ganze Mühe darauf verwendete, den Raub russischer Rohstoffressourcen zu verhindern. Dieses Detail ist besonders wichtig im Hinblick auf Severs Probleme mit Mila: Selbst nachdem er sie aus dem Bordell befreit hat, hat sie immer noch das körperliche Bedürfnis, mißbraucht zu werden, und zwar von mehr als einer Person. Severs einzige Lösung besteht darin, sein eigenes Bordell aufzumachen, in dem Mila die Hauptrolle spielt und er für ihren Schutz sorgt. Natürlich ist es ein freundlicheres, sanfteres Bordell, gleichsam ein Freudenhaus mit menschlichem Antlitz. Unter Sever und Mila verbessert sich das Leben der Prostituierten, die für sie arbeiten, ganz erheblich. Doch Sever, unser starker russischer Actionheld, muß letztlich auch für die Frau, die er liebt, den Zuhälter machen. Gegen Ende des ersten Romans findet Pavel, Severs Chirurgen-/Psychoanalytiker-Freund, die Wurzel von Milas Nymphomanie. Vor dem Unfall war Milas Liebe zu Sever so stark, daß sie wie eine Droge wirkte: Ohne ihn ging es nicht. Während ihres Krankenhausaufenthalts nach dem Unfall hat ihr eine skrupellose Ärztin, die ihre weiblichen Patienten gern in die Prostitution treibt, ein Aphrodisiakum gespritzt, um ihr erotisches Potential auszuloten. Zu Milas Pech wird zur gleichen Zeit eine Gruppe junger Krimineller wegen kleinerer Verletzungen im selben Krankenhaus behandelt. Diese vergewaltigen Mila, während sie unter dem Einfluß des Aphrodisiakums steht. Gegen ihren Willen hat dieses Erlebnis sie erregt, doch inzwischen haßt sie sich dafür, weil sie weiß, daß irgendwo da draußen ihr Geliebter lebt, an dessen Namen sie sich zwar nicht erinnern kann, den sie aber betrügt. Unbewußt beschließt sie, daß sie seiner nicht wert ist, und daß die Welt ein schlimmer Ort voller böser Menschen ist, die böse Dinge tun. So wird es zu ihrem einzigen Lebensziel, sich vergewaltigen und mißbrauchen zu lassen und dadurch anderen Frauen dieses Schicksal zu ersparen. In den Worten des Doktors: „Milas System ist zu einer Art Barometer geworden, das auf die geistige Atmosphäre der Gesellschaft reagiert. Wenn sie von zuviel Bösem umgeben ist, versucht sie das Böse zu reduzieren … auf die einzige Weise, die sie kennt.“ Darüber hinaus ist Mila auf einzigartige Weise mit ihrem Heimatland verbunden. Bevor sie nach dem Unfall Sever wiederbegegnet, wird sie nach Paris gebracht, wo sie in einem Nachtclub als Tänzerin arbeiten soll. Doch sie muß sofort wieder nach Hause geflogen werden, weil sie fast buchstäblich an Heimweh stirbt. Sie kann Rußland nicht verlassen, weil es das Land der Aufrichtigkeit ist, selbst das Böse ist hier aufrichtig, offen, und tut nicht moralisch. Im Westen ist das anders. Der Westen ist durch und durch verlogen. Das Böse ist überall, aber es gibt sich immer den Anschein von Respektabilität […] Im Westen hat weder das Gute noch das Böse eine Seele. Dort lebt man nur für den momentanen Vorteil, der alle anderen moralischen Werte überlagert. Und dafür ist Mila ein zu empfindliches Instrument. In den Osten kann sie freilich auch nicht gehen, denn dort sind die Menschen Tiere, denen jeglicher Sinn für Gut und Böse fehlt. Mila ist quasi die alltägliche Apotheose der Prostituierten als Erlöserin: Ihre Libido ist das Kreuz, das sie zu tragen hat. In diesen Romanen ist es nicht die Schönheit, sondern die Nymphomanin, die die Welt retten wird. Ihr Status ist eine Quelle verqueren Stolzes: Mila ist weitaus moralischer als fast alle Menschen in ihrer Umgebung, und ihre Schönheit ist unübertroffen. Sogar ihre Demütigung dient einem höheren Zweck. Doch diese Demütigung teilt sie letztlich mit ihrem Mann. Sever steckt sowohl als Liebhaber wie auch als Patriot in der Zwickmühle: Der Gegenstand seiner Zuneigung ist zwar schön wie eh und je, suhlt sich aber im Schmutz und scheint weit davon entfernt zu gesunden. Was heißt das also für die postsowjetische Prostituierte? Warum verwenden derart viele Künstler, Schriftsteller, Kritiker und Filmemacher sie als Vehikel, um ihre Gedanken zu Rußland, zur Männlichkeit und zum Westen auszudrücken? Die symbolische Prostituierte rekapituliert weitestgehend den Reiz und die Funktion der „echten“ Prostituierten: Der Kunde kann zur Befriedigung seiner Lust ihre Dienste erwerben, hat aber keine Garantie, daß er sich damit nicht große Unannehmlichkeiten einhandelt. Das russische Publikum konsumiert Geschichten von fiktiven Prostituierten aufgrund ihres schlüpfrigen Unterhaltungswertes und macht sich in der Regel nicht bewußt, daß diese als Vehikel für die Übermittlung bestimmter – und nicht immer willkommener – ideologischer Botschaften dienen. So verbreitet die metaphorische Prostituierte bestimmte Ideologien wie „textuell übertragbare Krankheiten“. Ob sie nun eine Quelle nationalen Stolzes ist oder lediglich Demütigung verursacht – sie ist ungemein effizient darin, ideologisches wie finanzielles Kapital einzubringen. Bedient sich die Werbung sexuell verfügbarer Frauen, um ihre an sich nicht besonders aufregenden Waren an den Mann zu bringen, so gehen die Produzenten der Kulturindustrie mit der postsowjetischen Prostituierten hausieren, um den Konsumenten damit ihre ganz eigene Vorstellung einer „russischen Idee“ zu verkaufen – die diese dann als Teil eines Unterhaltungspakets erwerben. Aus dem Amerikanischen von Axel Henrici, Dresden
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