Titelbild Osteuropa 4/2006

Aus Osteuropa 4/2006

Editorial
Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung

Astrid Sahm, Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 4/2006, S. 5–6)

Volltext

"Nie wieder!" Nach jeder von Menschen verschuldeten Katastrophe erklingt diese Maxime des Handelns. Doch Tschernobyl ist anders. Die Tragödie, die in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1986 auf der Steuerwarte von Block 4 des 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegenen Atomkraftwerks ihren Ausgang nahm, hat diesem Gebot einen neuen Sinn verliehen. Für eine ganze Generation von Menschen, die in den radioaktiv kontaminierten Gebieten von Belarus, der Ukraine und Rußland leben, durchzieht es als Verbot den Alltag: Nie wieder diese Wiese betreten, nie wieder diesen Wald durchstreifen, nie wieder diesen Acker bestellen zu dürfen. 20 Jahre sind seit dem größten Reaktorunfall der Menschheit vergangen, und noch immer sind es zehn Jahre, bis die Hälfte des radioaktiven Isotops Cäsium-137 zerfallen sein wird. Eine Fläche von fast 150 000 km² in Belarus, der Ukraine und in Rußland, wo zum Zeitpunkt der Katastrophe über sieben Millionen Menschen lebten, ist verstrahlt. Diese Verbote, symbolisiert und sichtbar gemacht von den in trügerisch idyllischen Landschaften rostenden Warnschildern, sind nur ein kleiner Ausschnitt der Katastrophe. Die medizinischen, politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen des Unglücks sind omnipräsent. Sie haben die Ukraine, vor allem aber Belarus, wo ein knappes Fünftel der Bevölkerung in den kontaminierten Gebieten lebt, tiefgreifend verändert. Gleichzeitig sind diese Folgen des Reaktorunglücks weniger faßbar. Die drei ostslawischen Staaten durchleben seit Ende der 1980er Jahre einen derart umfassenden gesellschaftlichen Wandel, daß die Zuordnung einzelner Erscheinungen zu der Reaktorkatastrophe sehr schwierig ist. Dies öffnet Spekulationen und Verharmlosungen Tür und Tor. Eine davon ist die Rede von den vierzig Todesopfern, die der Unfall gefordert habe. An einer solchen Behauptung kann nur festhalten, wer den signifikanten Anstieg der Krebsrate in Belarus und der Ukraine, die erhebliche Zunahme von Schilddrüsenerkrankungen, die hochgeschnellten Raten der Säuglingssterblichkeit und der Fehlbildungen sowie alle anderen oft gleichzeitig auftretenden und einander wechselseitig verstärkenden psychischen und physischen Erkrankungen auf den allgemeinen gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenbruch zurückführt. Daß der Beweis für den Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition und den Erkrankungen dennoch geführt werden kann, demonstriert Sebastian Pflugbeil in diesem Band. Das Leben mit diesen gesundheitlichen Folgen führt zur Hilflosigkeit und Resignation bei den Menschen in den verstrahlten Regionen. Durch die radioaktive Kontamination und die Umsiedlungen hat sich ihr Lebenswert radikal verändert, wie sich in den einfühlsamen Ausführungen von Alfredo Pena-Vega erkennen läßt. Diese Erfahrungen prägen, wie David Marples in diesem Band zeigt, gleichzeitig das Verhältnis der betroffenen Menschen zum Staat: Die Allmacht der Katastrophe bildet in dem am meisten betroffenen Belarus eine der mentalen Grundlagen der autoritären Herrschaft Aljaksandar Lukašėnkas. All das ist das Vermächtnis von Tschernobyl, das eine Armee aus Hunderttausenden von Katastrophenhelfern nicht "liquidieren“ und 20 Jahre "Sanierungspolitik“ nicht bewältigen konnten. Zugleich ist Tschernobyl Verpflichtung. "Habe, erwerbe, produziere, behalte nichts, was dich solche Fehler machen läßt!“ Dieser von Ludger Lütkehaus in Anlehnung an Günther Anders formulierte kategorische Imperativ nach Tschernobyl gilt in Osteuropa vor allem für Rußland. Dort arbeitet bis heute das Herzstück der sowjetischen Nuklearindustrie. Doch scheint gerade Rußland, wo einige der Verantwortlichen für die fatale Desinformationspolitik nach der Katastrophe vom 26. April 1986 weiter leitende wissenschaftliche ämter innehaben, aus Tschernobyl keine Lehren gezogen zu haben. Wie Robert Darst, Jane Dawson und Adam Stulberg in diesem Band zeigen, will Rußland nach dem Bedeutungsverlust des militärischen Nuklearpotentials nun seine "zivile“ Atomindustrie zum global player machen. Dies ist nicht nur in ökologischer Hinsicht bedenklich. Die Unterscheidung von ziviler und militärischer Atomkraft ist Wunschdenken. Technisch sind sie siamesische Zwillinge. Angesichts der Tatsache, daß Staaten, die über einen kommerziellen Nuklearkreislauf und das entsprechende Know-how verfügen, binnen weniger Wochen Atomwaffen herstellen können, stellt die Verbreitung der Atomkraft kein Proliferationsrisiko, sondern eine Proliferationsgewißheit dar. Dabei liegen die Alternativen auf der Hand. In ganz Osteuropa ist das Potential regenerativer Energien groß. Gezeitenkraftwerke oder Windparks auf Land oder vor der Küste können kommerziell betrieben werden, wenn der Staat die systematische Bevorzugung der Atomkraft durch riesige Investitionszuschüsse aufgibt. Noch viel größer ist freilich das Energieeinsparpotential. Zusammengenommen entkräften diese Optionen, wie Felix C. Matthes argumentiert, die These, die Reduktion von Kohlendioxidemissionen zur Verlangsamung des Klimawandels und der Ausstieg aus der nuklearen Stromgewinnung seien unvereinbare Ziele. Dies anzuerkennen, ist die Verpflichtung von Tschernobyl. Einigen Dörfern in Belarus widerfuhr 1986 ein Schicksal, das sie vier Jahrzehnte zuvor schon einmal durchgemacht hatten. 1944 wurden sie von deutschen Truppen dem Erdboden gleichgemacht. 1986 ließen die Leiter des sowjetischen Katastrophenmanagements sie in der Erde vergraben, um zu verhindern, daß Wind und Wasser die in hoher Konzentration auf diese Dörfer niedergegangenen Radionuklide verbreiten. Dies ist nur einer der zahlreichen Fäden der Verantwortung, die Deutschland mit Belarus und der Ukraine verbinden. Zu den größten Trägern der deutsch-belarussischen Partnerschaftsprojekte, die in der Folge der Katastrophe von Tschernobyl entstanden sind, gehört das Internationale Bildungs- und Begegnungszentrum (IBB) in Dortmund. Das IBB hat diesen Band großzügig unterstützt.