Titelbild Osteuropa 11-12/2006

Aus Osteuropa 11-12/2006

Revolutionäre Eliten, pragmatische Massen
Der Pyrrhussieg der polnischen Populisten

Jadwiga Staniszkis

Volltext als Datei (PDF, 66 kB)


Abstract in English

Abstract

In Polen ist eine neotraditionalistische Elite an die Macht gekommen, die mit einer populistischen Rhetorik von sich reden macht. Diese Elite hat das Gefühl, keine Kontrolle über die Prozesse zu haben, für die sie die politische Verantwortung trägt. Sie war lange Zeit marginalisiert und begreift erst jetzt, daß die europäische Integration und die Globalisierung ihrer Macht Grenzen gesetzt haben und daß ein hierarchisches Regieren nicht mehr möglich ist. Um von ihrer Verunsicherung abzulenken, bedient sich diese Elite einer imitierten nationalistischen Ideologie. Da sich die polnische Gesellschaft pragmatisch an die neuen europäischen Gegebenheiten anpaßt, ist der Erfolg der Nationalisten allerdings ein Pyrrhussieg. Überleben werden sie nur können, wenn sie in die politische Mitte zurückkehren.

(Osteuropa 11-12/2006, S. 7–12)

Volltext

Revolutionen sind gesellschaftliche Eruptionen. Das bedeutet nicht, daß mit ihnen immer ein tiefgreifender Systemwandel einhergeht. Häufig sind Revolutionen nichts anderes als die Radikalisierung einer bestehenden Systemlogik, die in ein neues institutionelles Gewand gekleidet wird. Gleichzeitig sind Revolutionen auch Augenblicke des Stockens, Phasen, in denen der Elitendiskurs blockier ist. Diese Ambivalenz beruht paradoxerweise darauf, daß die Revolutionäre und ihre Gegner ähnlich argumentieren. Beide berufen sich auf den „Mehrwert“ ihres Weltbilds und sind davon überzeugt, daß die beiden Weltbilder einander ausschließen. Wenn, wie derzeit in Polen, sich zwei imitierten Ideologien gegenüberstehen, die bewußt so stilisiert sind, daß sie das politische System polarisieren, dann drängt sich der Eindruck auf, daß beide Seiten radikalisiert sind und es ihnen an Diskursfähigkeit mangelt. Zudem deformiert die Polarisierung die ursprüngliche Idee beider. Die beiden gegenwärtig stärksten Parteien Polens, Prawo i Sprawiedlowiść (Recht und Gerechtigkeit, PiS) und Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, PO), betrachten heute „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ immer mehr als Normen, die einander ausschließen. Dabei waren die beiden Parteien ursprünglich nicht zuletzt deswegen so attraktiv gewesen, weil sie beide – ähnlich wie einst die Solidarność ﷓ „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ in einem einzigen politischen Projekt verbunden hatten. Die Radikalisierung und Polarisierung der ideologischen Auseinandersetzung, die sich unter anderem daran zeigt, daß die PiS immer das „nationale Interesse“ beschwört, steht in fundamentalem Gegensatz zu dem, was in der polnischen Gesellschaft passiert. Diese gewöhnt sich seit 1989 langsam aber unverkennbar an die aus dem westeuropäischen Kapitalismus übernommenen Institutionen und Verfahren. Die Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen ist zum Beispiel nur möglich, wenn substantielle von formaler Gerechtigkeit unterschieden wird. Dies schließt aus, daß bestimmte Normen absolut gesetzt werden. In den Vordergrund tritt eine neue Form der „Effektivität“: Widersprüchliche Normen werden auf den kleinsten gemeinsame Nenner gebracht und so gleichzeitig realisiert. Diese beschleunigte gesellschaftliche Rationalisierung, die mit einer fortschreitenden Individualisierung der Suche nach Überlebensstrategien verbunden ist, führt in eine völlig andere Richtung als die imitierten Ideologien der gegenwärtigen politischen Eliten. Die Gesellschaft scheint dabei schneller als die Eliten die Grenzen der Politik zu erkennen. Es ist bezeichnend, daß Arbeitnehmerorganisationen vor allem beklagen, daß sie keinen Verhandlungspartner hätten, daß die Staatsverwaltung machtlos sei gegen Staatsbetriebe, die sich der staatlichen Kontrolle entzogen haben, und machtlos gegen Firmenkonglomerate mit ausländischer Kapitalbeteiligung. So wächst die Kluft zwischen den Eliten, die sich in eine immer radikalere Identitätspolitik verstricken ﷓ was in erster Linie auf das Gefühl zurückzuführen ist, daß die Politik den gesellschaftlichen Entwicklungen machtlos gegenübersteht – und einer immer pragmatischeren Gesellschaft. Diese Kluft ist wohl eines der charakteristischen Merkmale der gegenwärtigen Transformationsphase in Ostmitteleuropa. Diese Beschreibung der gegenwärtigen Lage in Polen ist jedoch zu einfach. Zum einen, weil vor allem die lokalen Eliten viel pragmatischer agieren und zur Kooperation bereit sind. Dies ändert aber nichts an der Härte der rhetorischen Auseinandersetzung. Zum anderen gibt es neue Entwicklungen in Polens Nachbarschaft. Insbesondere in den EU-Staaten ist eine deutliche Renationalisierung im Gange, der Glaube an das Projekt der europäischen Einheit schwindet. Gleichzeitig nimmt die rußländische Politik immer militärischere Formen an. Aus diesem Grund ist der zunächst anachronistisch erscheinende ostmitteleuropäische Neotraditionalismus so irrational doch nicht. Seit den polnischen Wahlen Ende 2005 sind in ganz Ostmitteleuropa Parteien an die Macht gekommen oder bestätigt worden, die eine nationalistische oder populistische Rhetorik pflegen. In der Slowakei hat eine radikale kleine Partei der ganzen Koalition diese Rhetorik aufgezwungen. In Polen hat die PiS, die zuvor eher der politischen Mitte zugeordnet wurde, als stärkste Partei der Regierungskoalition diese Rhetorik bewußt gewählt. Ihre neotraditionalistische Ideologie ist bewußt imitiert und absichtlich übertrieben. Sie dient dazu, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu festigen. In diesem Ziel ähnelt sie der Rhetorik einer anderen Partei, die ebenso wie die PiS die Gerechtigkeit im Namen führt – der türkischen Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP) unter Ministerpräsident Erdoğan. Gleichzeitig ist sie aber auch schlicht Ausdruck von Ratlosigkeit. Diese Ratlosigkeit hat etwas damit zu tun, daß die ostmitteleuropäischen Eliten Schwierigkeiten haben, sich an die Regeln des postpolitischen Diskurses der europäischen Bürokratie anzupassen. Diese Regeln kennen keine kollektiven Interessen, sondern setzen Prozeduren fest; ihre Rationalität ist formaler, nicht substantieller Natur. Dies ist nicht nur ein Bruch mit der naturrechtlichen Tradition. Es ist eine Verdrängung ethischer Kategorien aus dem öffentlichen Raum. In den Ländern, in denen die moralische Entrüstung ein Katalysator für die Beseitigung des Kommunismus war, ist eine solche Selbstbeschränkung nur schwer zu akzeptieren. Gleiches gilt für die spezifische „Effektivität“ des kleinsten gemeinsamen Nenners, die sich auch hier zeigt. Wie stark sich die normativen Standards der Politik in Polen von denen Westeuropas unterscheiden, zeigt ein im Herbst 2006 ergangenes Urteil des polnischen Verfassungsgerichts über die Grenzen der Pressefreiheit. Das Verfassungsgericht ging davon aus, daß es eine klare Normenhierarchie gebe: Würde – Freiheit – Wahrheit. Wenn die Würde einer Person durch die Berichterstattung verletzt worden sei, habe der Journalist selbst dann strafrechtliche – und nicht nur, wie zuvor in Polen üblich, zivilrechtliche – Konsequenzen zu gewärtigen, wenn der beschriebene Sachverhalt der Wahrheit entspricht. Nicht nur die Einschränkung der Pressefreiheit, sondern das ganze Bedürfnis nach einer eindeutigen Normenhierarchie widerspricht der politischen Praxis der Europäischen Union und ihren rechtsphilosophischen Grundlagen. Denn in der EU herrscht ein unausgesprochener Konsens, daß Normen nicht zu sehr vereinheitlicht werden dürfen, daß eine gewisse normative Ambivalenz zugelassen werden muß, damit die Gemeinschaft nicht gefährdet wird. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Relativismus in der EU zum Wert an sich und absolut gesetzt wird. Er ist lediglich eine Folge der komplexen Struktur der Union. Eine solche Philosophie der Selbstbeschränkung ist für eine politische Elite nur schwer zu akzeptieren, die ihre Mission in einer „moralischen Revolution“ sehen. Wie man an der PiS sehen kann, ist Regieren für sie vor allem eines: Erziehen. Wie notwendig dies sei, glauben sie am Beispiel Spaniens zusehen, das der PiS als Negativmodell gilt: Gestern noch katholisch und traditional wie Polen, heute schon postmodern. Wenn dann auch noch diese Selbstbeschränkung in den zwischenstaatlichen Beziehungen ethisch gerechtfertigt wird – wenn etwa „Gerechtigkeit“ als Gleichverteilung des Nutzens definiert wird oder als Anwendung der gleichen Regeln für alle – dann wächst die Hilflosigkeit erst recht. Noch mehr verstärkt wird sie dadurch, daß ein Teil der polnischen Elite Probleme hat, sich in Politiknetzwerken ohne klare staatliche Hierarchie zu bewegen und die innere Rationalität der europäischen Institutionen als Diktat empfindet. Hier steht die PiS in der Tradition des Postthomismus, der auch die Lehre von Johannes Paul II. und die Solidarność geprägt hat: Sie hängt einer ständischen und hierarchischen Staatslehre an, lehnt individuelle Autonomie ab und stellt die Würde der Person sowie das Naturrecht höher als die Freiheit. Aus all diesen Gründen hat die neotraditionalistische Elite in Ostmitteleuropa das Gefühl, keine Kontrolle über die Prozesse zu haben, für die sie die politische Verantwortung trägt. Dieses Ohnmachtsgefühl hat eine subjektive Seite: ein mangelndes Verständnis der Grundlagen moderner Macht. Es hat aber auch eine objektive Seite: die von der Globalisierung verursachten strukturellen Sachzwänge und die durch europäische Integration entstandene institutionalisierte Gleichzeitigkeit mehrerer Rationalitäten. Ein großer Teil der polnischen Elite begreift erst jetzt und mit großen Schmerzen, daß ihrer Macht Grenzen gesetzt sind und ein hierarchisches Regieren nicht mehr möglich ist. Diese Politiker beginnen zu verstehen, daß allenfalls noch eine „unscharfe Steuerung“ (fuzzy regulation) möglich ist, in dem in Politiknetzwerken, auf die die staatliche Verwaltung keinen direkten Zugriff hat, die Rahmenbedingungen staatlichen Handelns und die Prinzipien der Kooperation mit anderen Akteuren ausgehandelt werden. In jedem dieser Netzwerke bedienen sich die Akteure eines hochspezialisierten Diskurses, in dem Professionalitätsstandards mehr zählen als die Standards der nationalen Politik. Der Verweis auf ein übergreifendes „nationales Interesse“ wirkt daher nicht nur unprofessionell, er wird regelrecht unmöglich. Die auffällige Parallelität, mit der sich die Rhetorik des „nationalen Interesses“ in den postkommunistischen ostmitteleuropäischen Staaten verstärkt hat, und die gleichzeitige Radikalisierung der machtlosen Eliten deuten allerdings darauf hin, daß etwas Grundsätzlicheres passiert. Antinomien der Transformation Erstens häufen sich Konflikte, die etwas mit der spezifischen Transformationsphase zu tun haben. Auch innenpolitisch sind strukturelle Sachzwänge entstanden, und es gibt keine dominante Rationalität mehr, was den Politikern, die Ende 2005 an die Macht gekommen sind, gerade erst bewußt wird. Zum einen wurden die Liberalisierungsschritte nicht in der richtigen Reihenfolge unternommen – wofür nicht zuletzt die mechanische Integration in die EU verantwortlich war. So wurde etwa das von Milton Friedman formulierte Prinzip mißachtet, daß die Einführung neuer Institutionen dem Entwicklungsstand eines Landes entsprechen müsse. Dies führte dazu, daß sich polnisches nationales Kapital nur schwer akkumulieren konnte und die Umorientierung auf größere Märkte Schwierigkeiten bereitete, was die Transformationskosten erheblich erhöhte. Staaten, in denen die Liberalisierung und Europäisierung langsamer als in Polen erfolgte, konnten zwar ihren nationalen Kapitalismus zunächst besser konsolidieren. In der Slowakei etwa hat das autoritäre Regime Vladimír Mečiars eine solche Verzögerung bewirkt und dadurch nationale Experimente ermöglicht. Dafür ist aber der Öffnungsschock heute um so größer, und der „Aufstand der Eliten“, der sich in nationalistischer Rhetorik äußert, fällt noch radikaler aus. Zum anderen wurde die Erwartung enttäuscht, daß ausländisches Kapital nicht nur einen sprunghaften technologischen Fortschritt, sondern zugleich eine andere administrative Kultur schaffen würde. Statt dessen verband sich ausländisches Kapital nur allzu oft mit dem polnischen „politischen Kapital“, das sich auf den (post)kommunistischen Machtapparat stützt. So konnten auch internationale Unternehmen von dem klientelistischen Zugang zum Staat profitieren. Erinnert sei an Privatisierungen, bei denen polnische Oligarchen auf einen strategischen Investor gedrungen hatten, weil sie so eine profitable Vermittlerrolle einnehmen konnten. In jenen Fällen, in denen eine solche Privatisierung vor der Auflösung eines ehemals staatlichen Monopols erfolgte, führte dies sogar dazu, daß das ausländische Unternehmen nun eine Monopolrente einstreicht und daher nicht auf Innovation und Effizienz setzt, sondern auf eine Fortsetzung der alten Umverteilung. Diese beiden Fehlentwicklungen könnten mit einer durchdachten institutionellen Strategie korrigiert werden. Dies wäre allerdings kein leichtes Unterfangen. Viel einfacher ist es, einen Sündenbock zu suchen, sich eine wirtschaftsnationalistische Rhetorik zuzulegen und einige verfehlte Renationalisierungsprojekte zu verkünden. Politisch ist es sogar für eine kurze Zeit rentabler. Zweitens wurde die Elite, die heute in Polen wie in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten an die Macht kommt, zu kommunistischen Zeiten nicht darauf vorbereitet, einmal eine konstruktive Rolle zu spielen. Auch nach dem Umbruch von 1989 blieb sie lange marginalisiert. Dies ist ein weiterer Grund für ihr Gefühl der Bedrohtheit und ihr gesteigertes Mißtrauen. Jahrelang wurde sie von einen Staat marginalisiert, der klassische Macht über Menschen ausübte. Um so größer ist der Schock, da sie nun selbst an der Macht ist, daß an die Stelle dieser Macht moderne Regierungstechniken getreten sind und Macht nicht mehr konkrete Regeln vorgeben kann, sondern nur noch als abstrakte Metaregulierung existiert ﷓ also nur noch Regeln regulieren und unterschiedliche Rationalitäten harmonisieren kann. Das Gefühl der Fremdheit, das besonders im Kontakt mit der Europäischen Kommission auftritt, wird noch verstärkt durch die hohen Kosten, welche die von der EU verlangte Neuordnung der nationalen Volkswirtschaften forderte. Dieser Fremdheit tut auch die Tatsache keinen Abbruch, daß die Europäische Kommission die beste Verbündete der neuen Mitgliedstaaten ist, fordern sie doch gemeinsam eine Gleichbehandlung alles Mitgliedstaaten, während viele der westeuropäischen Altmitglieder zu einer nationalen Interessenpolitik zurückkehren. Drittens zeichnen sich neue Bedrohungen am Horizont ab. In den Augen der PiS ist die größte die Annäherung Deutschlands und Rußlands. Die PiS muß sich vorwerfen lassen, daß sie eine Grundregel der Diplomatie verletzt hat: daß man immer bessere Beziehungen zu seinen Nachbarn pflegen muß, als diese sie untereinander haben. Deutschlands Rußlandpolitik, die auf „Annäherung durch Verflechtung“ setzt, trifft sich mit der Strategie Rußlands, Deutschland zur Legitimation des Putin-Systems zu verwenden und seine Gas- und Ölinfrastruktur mit Hilfe deutscher Investitionen zu modernisieren. Zudem investiert Rußland selbst im Westen, um eine strategische Präsenz aufzubauen – und weil es vielen Politiker einen persönlichen Vorteil bringt. Für beide Länder hat diese Kooperation vielleicht einen höheren Preis, als es bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. Gleichwohl kann insbesondere für Deutschland der Nutzen ebenfalls sehr hoch sein. Die politischen Eliten in Ostmitteleuropa nehmen die Annäherung von Deutschland und Rußland als bedrohliche Einkreisung wahr. Mißtrauisch stimmen müssen da natürlich Spekulationen, daß ein deutsch-rußländisches Konsortium, an dem über RosUkrĖnergo rußländisches politisches Kapital (Gazprom) beteiligt ist, das ukrainische Pipelinesystem übernehmen könnte – was der Ukraine ermöglichen soll, die für 2007 angekündigte Erhöhung der Gaspreise um 40 Prozent zu finanzieren. Dies verletzt das polnische Bedürfnis nach regionaler Sicherheit – und zwar nicht nur in energiepolitischer Hinsicht. Hinzu kommt, daß Polen mittlerweile den Preis für seine Unterstützung der Orangenen Revolution in der Ukraine zahlt. Der Stern der orangenen Kräfte ist schon wieder gesunken und ihre Gegner, die jetzt wieder an der Macht sind, vergessen nicht so schnell, daß vor allem Polen Ende 2004 auf eine moralische Rationalität gepocht hat und so das Europaparlament dazu gebracht hat, sich auf die Seite Juščenkos zu schlagen. Heute ist längst klar, wie naiv die damalige polnische Ostpolitik war, und Polen sucht bereits den Kontakt zu Janukovič. Geblieben ist der polnischen Elite aber das Gefühl, sich mit ihrer idealistischen Politik lächerlich gemacht zu haben und heute isoliert zu sein. Überaus deutlich zeigen sich an diesem Beispiel die Probleme der polnischen Elite, mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Rationalitäten umzugehen. Der Pyrrhussieg der PiS Reagiert die polnische Elite auf ihre Machtlosigkeit und ihr Gefühl der Fremdheit in der Europäischen Union mit einer nationalistischen Rhetorik und einer Radikalisierung, so ist die Gesellschaft paradoxerweise relativ gleichgültig. Dies überrascht besonders deswegen, weil ein Großteil der Bevölkerung risikobereit und optimistisch ist. Dies zeigt sich etwa daran, daß die Zahl der Menschen wächst, die zur Migration bereit sind. Hinzu kommt eine Bildungsexplosion: Seit 1990 ist der Anteil der Menschen mit Hochschulabschluß von sieben auf elf Prozent gestiegen. Gerade die Gruppe der 20–40jährigen verfügt über ein wachsendes Selbstbewußtsein. Die Politiker dieser Altersklasse hingegen hängen dem Neotraditionalismus an. Dies spiegelt sich bereits in den Kommunalwahlen vom Herbst 2006 wider. Die populistische Samoobrona (Selbstverteidigung) und die nationalistische Liga Polskich Rodzin (Liga polnischer Familien, LPR) haben gegenüber den Parlamentswahlen des Jahres 2005, die sie in die Regierung brachten, deutlich verloren. In zwölf von 16 Wojewodschaften konnte die LPR nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde überspringen. Auch für die etwas gemäßigtere PiS hat sich der funktionale Nationalismus als dysfunktional erwiesen. Vor allem Einwohner von Großstädten, junge Menschen, Angehörige der Mittelschicht und Menschen mit höherem Bildungsabschluß haben der PiS den Rücken gekehrt und die Platforma Obywatelska gewählt. Die nationalistische und populistische Rhetorik hat die PiS von Wählern abhängig gemacht, die eine flexiblere Strategie – etwa eine „große Koalition“ mit der PO oder einen partiellen Verzicht auf staatliche Intervention, etwa im Gesundheitswesen ﷓ als Statusgefährdung betrachten und der PiS als Schwäche auslegen. Selbst die Parlamentsfraktion der PiS orientiert sich mittlerweile an Wählern, die ursprünglich Samoobrona oder LPR wählten, und blockiert – gegen den Willen der Kaczyńskis ﷓ mit radikalen Plänen eine Kooperation mit der PO. Jüngstes Beispiel war die von der LPR initiierte Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Die PiS-Führung hat zwar ihre wichtigsten Ziele erreicht: Sie hat den Militärgeheimdienst aufgelöst und ein Lustrationsgesetz verabschiedet. Dabei hat sie aber die Kontrolle über die eigene Partei und über das Parlament verloren, da diese die Imitation als ideologisches Programm und die Identitätspolitik als Regierungshandeln mißverstanden. Die nächsten zwei Jahre werden zeigen, ob die PiS aus diesem Pyrrhussieg lernen und den Rückweg in die politische Mitte antreten wird. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, Darmstadt, Andrea Huterer und Volker Weichsel, Berlin

Volltext als Datei (PDF, 66 kB)