Titelbild Osteuropa 10/2006

Aus Osteuropa 10/2006

Editorial
Wüste Worte, kühle Kalküle

Andrea Huterer, Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 10/2006, S. 3–4)

Volltext

Polens Forderung nach einer Energie-NATO sind ungehört verhallt. Tschechien war bescheidener, konzentrierte sich auf einen anderen Rohstoff – und hatte mehr Erfolg. Die deutsch-tschechische Bier-Allianz, die sich gemeinsam gegen die Anwendung von EU-weiten Mindeststeuersätzen für Alkoholika auf den Gerstensaft wehrt, hat das drohende Unheil Anfang November 2006 fürs erste abgewehrt. Die Beispiele sind Lehrstücke über die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Die vier Staaten schlossen sich vor fünfzehn Jahren zur Visegrád-Gruppe zusammen, um gemeinsam den Weg nach Westen anzutreten. Doch schon in den 1990er Jahren sprachen die vier Staaten nur selten mit einer Stimme. Auch Deutschland maß der Gruppe keine allzu große Bedeutung bei. Doch seit der Osterweiterung der EU gibt es die Idee, daß die ostmitteleuropäischen Staaten als Regionalgruppe in der Union auftreten könnten. Ein Anlaß für Osteuropa, der Substanz solcher Vorschläge auf den Grund zu gehen. Konflikt und Kooperation sind in den Bereichen Identität, Sicherheit und Wohlfahrt ganz unterschiedlich verteilt. Die Vergangenheitspolitik als Arena der Selbstvergewisserung ist ein zentrales Konfliktfeld zwischen Deutschland, Polen und Tschechien. Die Gewaltexplosion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sorgt noch immer periodisch für Verwerfungen. Auf Zeiten der Entspannung folgen Phasen der verbalen Eskalation. Lange galt die deutsch-polnische Aussöhnung als vorbildlich, das deutsch-tschechische Verhältnis trotz der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 als kühl. Seit dem Machtwechsel in Polen Ende 2005 wird zwischen Warschau und Berlin wieder so hitzig über die adäquate Erinnerung an Krieg und Vertreibung gestritten, daß die laue Beziehungstemperatur zwischen Prag und Berlin sehr angenehm erscheint. Sicherheit im klassischen Sinne gibt es nicht mehr als Thema zwischen den EU-Staaten. Allein dies ist ein untrügliches Zeichen, welche Veränderungen seit 1989 stattgefunden haben. Statt dessen werden heute Grundsatzfragen der institutionellen Ordnung diskutiert. In Polen sind europaskeptische Kräfte an der Macht. Tschechiens Präsident Václav Klaus hat sich weit über Prag hinaus als Kritiker einer „bürokratischen und gleichmacherischen“ EU einen Namen gemacht. Und auch in Ungarn gibt es Anzeichen dafür, daß der europapolitische Konsens bröckelt. Doch ist die Debatte über den europäischen Verfassungsvertrag in den Visegrád-Staaten offen und vielstimmig. Von einer Sonderstellung Ostmitteleuropas in der EU kann spätestens seit dem Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden keine Rede mehr sein. Dies gilt um so mehr, blickt man in die einzelnen Politikfelder der EU. Die pragmatische Haltung aller vier Visegrád-Staaten steht in scharfem Gegensatz zu den teils harschen Worten in der Vergangenheitsdebatte und zu mancher Grundsatzkritik an der EU. Zwar herrscht auch in vielen Fragen des europäischen Binnenmarktes und der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz Dissens zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn. Doch dominieren hier kühle Kalküle sowie ein gemeinsames Bewußtsein, daß letztlich ein Kompromiß auch den eigenen Interessen dienlicher ist als der Versuch, diese engstirnig durchzusetzen.