(Ko-)Operation Kunst-Räume
Plädoyer für ein virtuelles „Beutekunst“-Museum
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Abstract in English
Abstract
Das Problem der „kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter“ belastet die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland. Dabei bietet sich eine bisher nicht beachtete Lösung des Konflikts an: die Einrichtung eines virtuellen „Beutekunst“-Museums. Der virtuelle Raum ermöglicht eine Zusammenführung der Objekte in ihren ursprünglichen Sammlungskontexten. Die Einbindung weiterführender Informationen macht den historischen Kontext greifbar und das virtuelle Museum zu einem Informationsraum des gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses.
(Osteuropa 1-2/2006, S. 459495)
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„Rückführungen finden zur Zeit nicht statt, und das wird wohl in den nächsten Jahren so bleiben“. So faßte im Juni 2005 die damalige Kulturstaatsministerin Christina Weiss die Diskussion über die sogenannte „Beutekunst“ zwischen Repräsentanten Deutschlands und Rußlands zusammen. Daran ändert auch die im Oktober 2005 auf einer Konferenz in Moskau vereinbarte verstärkte Zusammenarbeit von Museumsfachleuten aus beiden Ländern nichts. Zwar konnten deutsche Experten erstmals die bisher geheimen Depots besuchen, doch bleibt die Eigentumsfrage von dieser „Tauwetterperiode“ unberührt. Nach anfänglichen Erfolgen bei den Rückgabeverhandlungen Anfang der 1990er Jahre haben sich die Fronten in den letzten Jahren wieder verhärtet. Während die deutsche Seite weiterhin auf der Grundlage des Völkerrechts argumentiert, das Rußland zur Rückgabe verpflichtet, beharrt die rußländische Regierung auf ihrer Interpretation des Rechts, nach der die Kulturgüter als Kompensation für die Zerstörungen sowjetischen und rußländischen Eigentums durch die Nationalsozialisten sind. Zwar gibt es Ausnahmen in der rußländischen Gesetzgebung, die Rückgaben unter bestimmten Bedingungen erlauben. Doch im großen und ganzen bleibt die Frage ungelöst und wird die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland auch in den kommenden Jahren belasten. Dabei mangelt es keineswegs an kreativen Vorschlägen zur Lösung des Problems. Die Gründung einer internationalen oder deutsch-rußländischen Stiftung, ein Eigentumsverzicht oder Rückkäufe, ein gemeinsames Kulturinstitut oder die Unterstützung von Restaurierungsvorhaben, die Vermittlung durch Auktionshäuser oder die projektbezogene Zusammenarbeit auf fachlicher Ebene sind nur einige der Ideen, die in den letzten Jahren zur Sprache kamen. Alle diese Lösungsmöglichkeiten bewegen sich in dem uns vertrauten Raum, dessen Begrenzungen die Politik, das Völkerrecht und die Museen bestimmen. Warum nicht also diesen Raum verlassen, um neue Wege gehen zu können? Eine Möglichkeit bietet der Cyberspace. Im virtuellen Raum erscheint zunächst alles machbar: Die räumliche Auflösung von Grenzen eröffnet neue Perspektiven für eine Lösung des Streits. Solch ungewohnte Denkräume gewinnen Gestalt im Internet. Zwar ist die „Beutekunst“ im Netz schon längst vertreten, doch sind mit den Initiativen die spezifischen Möglichkeiten des Mediums keineswegs erschöpft. Ein Vorschlag, der diese Besonderheiten besser zur Geltung bringt, ist der Bau eines gemeinsamen „Beutekunst“-Museums – eines Museums im virtuellen Raum. Die Idee greift aktuelle Debatten über den virtuellen Raum sowie zur Zukunft der Museen unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft auf und verknüpft sie mit dem Streit zwischen Deutschland und Rußland über die „Beutekunst“. Daraus ergibt sich der Vorschlag, einen neuen Ansatz im Umgang mit dem Problem zu suchen. Dabei geht es nicht darum, ein solches virtuelles Museum en detail zu entwickeln, sondern die Chancen darzustellen, die ein solches virtuelles Museum bietet. Ein virtuelles Museum ist eine Sammlung elektronischer Objekte und Informationsquellen – praktisch von allem, was digitalisiert werden kann. Die Sammlung kann Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Diagramme, Graphiken, Aufzeichnungen, Videosequenzen, Zeitungsartikel, Interviewmitschnitte, numerische Datenbanken umfassen und darüber hinaus alles bereithalten, was auf dem Museumsserver liegt. Auch kann es Hinweise zu Quellen überall auf der Welt anbieten, die in Zusammenhang mit dem Anliegen des Museums stehen. Ein solches Museum stellt eine offene Struktur dar. Je nach den Vorstellungen der Beteiligten kann es entworfen werden. Es hat keine Grenzen und läßt sich beliebig erweitern. Andere Räume Der Cyberspace ergänzt als virtueller oder kybernetischer Raum, als digitale Infrastruktur, computergenerierter graphischer Raum oder auch als Raum ohne Ort unsere herkömmlichen, physischen und aktuell basierten Raumvorstellungen. Hier wird bewußt eine Gegenüberstellung verschiedener Räume vermieden, da der Cyberspace nicht als ein losgelöster, eigener Raum verstanden wird. Er soll vielmehr die Vorstellung eines räumlichen Nebeneinanders anregen, da der reale und der elektronische Raum einander bedingen und aufeinander angewiesen bleiben. Übertragen auf die „Beutekunst“ bedeutet dies, daß wir uns nicht für einen Raum (Deutschland, Rußland, Museum, Depot usw.) entscheiden müssen, sondern daß wir diese Räume verbinden und zu einem gemeinsamen vereinen können. Der Begriff Cyberspace unterstützt einen solchen Ansatz. Häufig wird Cyberspace als Synonym für das Internet oder das World Wide Web gebraucht. Die technik- und sozialwissenschaftliche Forschung unterscheidet diese Infrastrukturen jedoch vom Cyberspace. Dieser erscheint demgegenüber als virtueller, dreidimensionaler Raum. Die Sozialwissenschaften sprechen von einer „Virtualisierung aller Sinnbezüge“. Der Cyberspace „schafft einen eigenen Sinnhorizont für das Erleben und Handeln, der so lange gültig ist, bis irgendwer oder irgendwas diese Realität umprogrammiert“. Es geht also weniger um die Gegenständlichkeit als um die Ordnungsleistung eines Raums. Nicht ein Raum als anderer Ort eröffnet sich mit dem Cyberspace, sondern ein eigener Orientierungs- und Handlungsraum, der neue Kommunikationsmöglichkeiten und Sinnbezüge herstellt. Damit wird es auch möglich, bisher untrennbar an den Ort Gebundenes vom topographischen Raum getrennt zu denken, ohne damit die Wirkungsmächtigkeit des Orts generell in Frage zu stellen. Indem auf diese Weise virtualisierte Sinnhorizonte entstehen, wächst die Chance auf unwahrscheinliche Ordnungen. Neue Chancen Bisher ist es nicht der Cyberspace mit seinen räumlichen Möglichkeiten, sondern das Internet als Informationsplattform, das den verschiedenen online-Angeboten zum Thema „Raubkunst“ und „Beutekunst“ ein Forum bietet. Der Schwerpunkt liegt auf der Bereitstellung von Datenbanken. Hintergrund ist die gewachsene Bedeutung, die der Provenienzforschung seit der Holocaust-Vermögenskonferenz in Washington 1998 zukommt und heute zu einem wichtigen Arbeitsgebiet staatlicher Museen und Kultureinrichtungen gehört. Darüber hinaus bieten Portale und thematische Dossiers aktuelle und historische Informationen zum Thema „Kunst und Krieg“. Die spezifischen Probleme zwischen Deutschland und Rußland im Zusammenhang mit der „Beutekunst“ und den Rückführungsverhandlungen nehmen demgegenüber wenig Raum im Netz ein. Bei den Internet-Seiten zum Thema der kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter fällt zweierlei auf. Zum einen liegt der Schwerpunkt auf der Bereitstellung von Informationen. Das Netz wird als Medium gewählt, weil es eine maximale Verbreitung und Zugänglichkeit ermöglicht. Die Chancen des computergestützten Umgangs mit der „Beutekunst“ bleiben weitgehend ungenutzt. Ein zweiter Befund: Die Anzahl deutsch-rußländischer Gemeinschaftsinitiativen ist sehr gering. Neue Chancen, das Medium intensiver zu nutzen und die Zusammenarbeit zwischen Rußland und Deutschland zu vertiefen, eröffnet ein virtuelles Museum. Eine Reihe von Argumenten spricht dafür, daß eine solche Initiative die andauernde Auseinandersetzung um die „Beutekunst“ voranbringen könnte. Wen sollte das Argument nicht überzeugen, die kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter könnten erstmals wieder mit den Sammlungen ihrer Herkunftsräume vereint werden? Möglich macht dies das Wesen eines virtuellen Museums, kann es doch die Objekte wieder in den ursprünglichen Kontexten präsentieren – freilich in digitalisierter Form. Gemeint ist damit zum einen die Möglichkeit, Exponate in gemeinsamen Ausstellungen vorübergehend in einem virtuellen Museumsraum zu präsentieren, zum anderen, die Objekte in die ständige Online-Präsentation eines Museums zu integrieren, unabhängig davon, wo sie sich real befinden. Im Falle des sogenannten Schliemann-Schatzes beispielsweise könnte unter dem Dach des virtuellen Museums eine Verbindung zwischen den Sammlungen des Museums für Vor- und Frühgeschichte und dem Moskauer Puškin-Museum hergestellt werden. Auf den Seiten des Berliner Hauses würde die Sammlung vollständig, einschließlich der in Moskau befindlichen Stücke, gezeigt. Umgekehrt könnte das Museum in Rußland die in seinem Besitz befindlichen Funde Heinrich Schliemanns in einem größeren Kontext von Objekten der deutschen Sammlung zeigen. Von beiden Websites aus wäre eine Sonderausstellung zur Geschichte der Ausgrabungen und ihrer kriegsbedingten Verlagerung erreichbar. Weitere Angebote könnten eine ausführliche Präsentation der Restaurierungsarbeiten in Moskau sein, ein Hinweis auf die Mitte 2005 in den Räumen des Puškin-Museums gezeigte Ausstellung zur „Archäologie des Krieges“ und eine virtuelle (dreidimensionale) Reise durch das antike Troja. Für Wissenschaftler könnten die Bestände online recherchierbar sein, ergänzt durch Hinweise auf Sammlungen anderer Museen sowie durch umfassende Berichte zur Forschung. Ähnlich könnte mit der sogenannten Baldin-Sammlung, den 362 Zeichnungen und zwei Gemälden der Bremer Kunsthalle, verfahren werden. Sie befanden sich lange in der Petersburger Eremitage und wurden 2003 im Moskauer Ščusev-Museum gezeigt. Auf den Websites beider Museen besteht bereits ein umfangreiches virtuelles Angebot. Ein weiteres Beispiel sind verlagerte Buchbestände. Das virtuelle Museum böte die Möglichkeit, direkt zu allen Bestandskatalogen derjenigen Bibliotheken zu gelangen, aus deren Sammlungen die Bücher verlagert wurden und derjenigen, in deren Beständen sie sich jetzt real befinden. In allen Katalogen wären die Bücher zu finden, jeweils mit dem entsprechenden Hinweis auf ihre Geschichte und den jetzigen Aufbewahrungsort. Darüber hinaus könnten die wichtigsten Werke online verfügbar gemacht werden, sei es als reine Textdatei, sei es als virtuelles Buch zum Umblättern. In einem virtuellen Sonderausstellungsraum könnten besonders wertvolle Buch- oder Handschriftenexemplare gezeigt werden, ergänzt durch Objekte aus Museen. Schließlich ist eine Dokumentation der Kooperation auf dem Gebiet der Buchrestaurierung zwischen deutschen und rußländischen Partnern denkbar. Ein solches Vorhaben paßt zur „Politik der kleinen Schritte“, solange es die große Lösung nicht gibt. Jenseits der offiziösen politischen und juristischen Gremien bestehen seit Jahren gute Kontakte. Auf fachlicher Ebene arbeiten Angestellte aus deutschen und rußländischen Museen, Archiven und Bibliotheken gemeinsam an den Beständen. Diese Arbeit könnte fortgesetzt und ausgebaut werden. Die Ergebnisse könnten Teil des virtuellen Museums werden, ohne daß dabei gültige Rechtspositionen oder moralische Argumente unterlaufen würden. Eine Erweiterung des bisherigen Kreises der Beteiligten – Politiker, Juristen und Museumsfachleute – durch Medienexperten, Computerspezialisten und Webdesigner könnte sich produktiv darauf auswirken, neue Ideen auch im realen Raum zu finden. Die unvorbelastete Annäherung in fachfremden Bereichen, aber mit einem gemeinsamen Ziel, wäre ein weiterer Schritt zur Verständigung. Ein derartiges Projekt deutsch-rußländischer Zusammenarbeit könnte auch neue Wege der Finanzierung eröffnen: Es wäre attraktiv für Kultursponsoring durch Internet- oder Computerfirmen, Netzbetreiber und Provider, Multimediaschulen oder Graphikagenturen. Viel gewichtiger sind die Argumente aus der Museumsperspektive. Werfen wir einen Blick in die Zukunft des Museums. Das traditionelle Museum befindet sich unter dem Einfluß der Informationstechnik im Wandel zur Memory-Institution. Sie ist eine Zusammenfassung von digitalisierten Informationen aus Archiven, Bibliotheken und Museen zu einer Institution des kollektiven Gedächtnisses für das Erbe der Menschheit im digitalen Raum des Internets. Demnach geht es um die Zugänglichkeit von Beständen und Informationen sowie um die Bewahrung von Erinnerung und ihre Weitergabe. Diese Aufgaben können aus Kosten- und Platzgründen immer weniger im realen Raum bewältigt werden. Der virtuelle Raum gewinnt damit an Relevanz für Institutionen des kollektiven Gedächtnisses. Diese Zukunftsvision ruft die eigentliche Aufgabe und Legitimation von Museen in Erinnerung: Es verspricht dem Besucher Information und Unterhaltung. Museen geben Menschen die Möglichkeit, Sammlungen zu ihrer Inspiration, Bildung und Unterhaltung zu erkunden. Sie sind Institutionen, die Kunstgegenstände und Einzelstücke sammeln, bewahren und zugänglich machen, die sie treuhänderisch für die Gesellschaft verwalten. Dies läßt sich auch im virtuellen Raum realisieren, der weitere Vorteile aufweist. So sind sehr hohe Besucherzahlen durch das Aufrufen der Website zu erreichen, wie dies für virtuelle Museen in der Regel gilt. Der Online-Zugang zu den Kulturgütern ermöglicht einem internationalen Publikum den Museumsbesuch. Das gilt auch für Besucher, die aus verschiedenen Gründen niemals ein Museum besuchen würden. So können finanzielle oder körperliche Barrieren ein Hindernis sein, aber auch Einstellungen in bezug auf Freizeitangebote. Wer Museumsbesuche unattraktiv findet, aber gerne in virtuelle Welten eintaucht, könnte sich möglicherweise für ein solches Angebot eines Museums begeistern. Daraus wiederum resultiert eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Kulturgüter und damit auch für das Problem der „Beutekunst“. Hinzu kommt die Möglichkeit, durch einen Museumsshop oder den Aufbau von gebührenpflichtigen Bild- und Informationsdatenbanken neue Einkommensquellen für gemeinsame Projekte zu schaffen. Ein so ungewöhnlicher Umgang mit dem deutsch-rußländischen Streitthema wird freilich auch Kritiker auf den Plan rufen. So dürfte ein Einwand gegen das virtuelle Museum auf die Bedeutung der Originale zielen. Danach sei der Vorschlag nicht angemessen. Mit Blick auf das in Rede stehende „Beutekunst“-Museum läßt sich zunächst feststellen, daß dieses Argument auf einen Großteil der Kulturgüter nicht zutrifft. Bis auf wenige Ausnahmen wertvoller Bücher und Akten hängt die Bedeutung der Bibliotheken und Archive weniger von ihrem künstlerischen Wert als vom wissenschaftlichen Inhalt ab, der wiederum virtuell genutzt werden kann. Aber auch im Falle herausragender Einzelstücke gibt es gute Gründe für eine Digitalisierung, wie ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zeigt. Ziel ist es, eine der bedeutendsten Sammlungen spätgotischer deutscher Bilderhandschriften vollständig mit Bild und Text im Internet zugänglich zu machen. Hier geht man davon aus, daß die Verfügbarkeit der Handschriften im Netz die Bedeutung des Originals keineswegs schmälert. Im Gegenteil: Die Tatsache, daß man die Handschriften möglichst vielen Menschen zur Verfügung stellen möchte, zeugt von der hohen Wertschätzung der Schriften und ermöglicht zudem deren konservatorischen Schutz. Die Frage nach der Bedeutung des Originalobjekts im Museum stellt sich jedoch noch in einem anderen Kontext. Mit dem Wandel des Museums zur Memory Institution unter Einbeziehung des virtuellen Raums geht nämlich ein Paradigmenwechsel vom Museumsobjekt zur Museumsinformation einher. Schon das Museum als räumliche Institution hat die Gegenstände ihrem Ursprungsort entrissen und stellt sie in einen konstruierten Zusammenhang. Dieser aber gibt dem Betrachter erst die Möglichkeit, Zusammenhänge herzustellen und Verbindungen zu erkennen. Unter den Bedingungen der Digitalisierung eröffnen sich nun ganz neue Perspektiven auf das Original. Im 18. Jahrhundert bezeichnete [Virtualität] in der Optik das gebrochene oder reflektierte Bild eines Gegenstandes. […] Im Museumskontext kann dies so verstanden werden, daß die digitale Reflexion des Originals uns zwingt, uns intensiver mit ihm auseinanderzusetzen, da durch die virtuelle Dimension neue Aspekte des Objekts sichtbar werden. Dadurch wird die Bedeutung des Objekts zugunsten der ihm zugrundeliegenden Idee relativiert. Viele der jüngsten Entwicklungen in virtuellen Museen betonen die Aufgabe von Museen, Informationen zur Verfügung zu stellen, nicht Objekte. […] Eine wachsende Zahl sowohl traditioneller als auch Online-Museen bemerken, daß sie jenseits der Präsentation von Objekten agieren können und beginnen Wege zur Schaffung von Exponaten zu erkunden, die die Objekte in einen erzählenden Kontext mit einer breiteren Perspektive stellen. Kuratoren, die sich für Online-Exponate interessieren, experimentieren mit einer innovativen Nutzung der Internettechnologie, um Objekte und Informationen in neuer Weise zu verbinden. Anders also als das reale, rückt das virtuelle Museum das Original in den Hintergrund, Informationen dagegen in den Vordergrund. Dies gilt unabhängig davon, ob das virtuelle Museum mit einer bestehenden Sammlung verbunden ist oder für das Internet ganz neu geschaffen wurde. Zieht man diese Überlegungen zur Entwicklung von Museen und ihren Objekten im allgemeinen in Betracht, so böte die deutsch- rußländische Kooperation im Rahmen eines virtuellen „Beutekunst“-Museums den Museen und Kulturinstitutionen eine konkrete Chance, sich mit der eigenen Zukunft auseinanderzusetzen und Position zu beziehen. Neben dem Thema der Originale im virtuellen Museum dürfte sich ein weiterer Einwand auf die Rechtslage beziehen. Inwieweit Enträumlichung und Entgrenzung durch die neuen Medien Fragen des Völkerrechts, des Urheberrechts oder der Verwertungsrechte berühren, muß der Erörterung von Experten überlassen bleiben. Ein Argument aber, die Chancen eines virtuellen Museums nicht durch rechtliche Bedenken einzuschränken, ist der Charakter der Kunst. Sie lebt davon, von allen gesehen werden zu können, im realen oder im virtuellen Museum. Dieser Gedanke steht in engem Zusammenhang mit dem schon früher vorgebrachten Argument für eine deutsch- rußländische Stiftung: Die „Beutekunst“ ist weder nur rußländisch noch nur deutsch, sondern sie ist auch europäisch. Wer diese Einsicht zur Grundlage der Betrachtung macht, der sieht auch die rechtlichen Ansprüche in einem anderen Licht. Was jedoch die Gegner einer Stiftung nicht zu überzeugen vermochte, wird auch die Akzeptanz eines virtuellen Museums erschweren, das ebenfalls vom europäischen Charakter der Kulturgüter ausgeht. Damit kommen wir zu einem dritten Einwand. Demnach ist ein virtuelles Museum insofern untauglich, den Streit zwischen Deutschland und Rußland über die Beutekunst zu lösen, als es das Problem der Eigentumsfrage ausblendet. In der Tat ist der Vorschlag nicht geeignet, die Eigentumsverhältnisse zu klären. Es ist überhaupt keine Lösung im Sinne der bisherigen, auf einen Abschluß gerichteten Diskussion. Insofern läßt sich dieser Einwand auch nicht aus dem Weg räumen. Vielmehr setzt das virtuelle Museum, wie bereits die Stiftungsidee, eine Zukunftsvision und Vertrauen in die deutsch-rußländischen Beziehungen ebenso voraus wie den Mut, alte Grenzen im wahrsten und im übertragenen Sinne zu überschreiten. Wenn die Überwindung der realen Grenzen schon nicht gelingt und die „Beutekunst“ an ihren Ursprungsort zurückkehrt, warum kann dann der virtuelle Raum nicht zu einer Alternative werden? Er nämlich macht möglich, was schon im Rahmen der Stiftung beabsichtigt war: die Sammlungen zusammenzuführen. Schon die Stiftungsidee zielte gerade nicht darauf ab, alle Werke an den einen Ort des Stiftungssitzes zu überführen – also „so etwas Ähnliches wie Stalins Weltkunstmuseum“ zu verwirklichen. Vielmehr sollten die Kulturgüter dem Ort ihrer Provenienz wieder zugeführt werden. Dies war ein wesentlicher Aspekt der Stiftungsidee und ist jetzt der Kern des virtuellen Museums. Virtuelle Welten Ein solches virtuelles „Beutekunst“-Museum, zumal in gemeinsamer deutscher und rußländischer Initiative, wäre ein bisher einmaliges Projekt. Seine kulturpolitische Bedeutung, sein internationaler Zuschnitt und nicht zuletzt sein Umfang unterscheiden es von bestehenden Online-Angeboten im Museumsbereich. Deren Standards aber dürfen nicht unterschritten werden, wenn es um eine Schärfung des Profils und die Entwicklung von Qualitätskriterien für das virtuelle „Beutekunst“-Museum geht. Fünf Aspekte sollten das neue virtuelle Museum auszeichnen. Einzelne Aspekte finden sich schon jetzt bei existierenden Angeboten und können Vorbilder für das „Beutekunst“-Museum sein. Forschungsrelevanz Um insbesondere die Museumsfachleute für das Vorhaben gewinnen zu können, muß an erster Stelle der wissenschaftliche Anspruch stehen. Um ihn zu erfüllen, sind häufig Datenbanken in die Website integriert, welche die zugrundeliegenden Sammlungen als Gegenstand der Forschung zugänglich machen. Über umfangreiche Erfahrungen in diesem Bereich verfügen insbesondere Archive und Bibliotheken. Eine Datenbank russischer Plakate des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage mehrjähriger wissenschaftlicher Forschung gehört zu den Projekten des Lotman-Instituts in Bochum (). Die Präsentation im Netz verfolgt im wesentlichen wissenschaftliche Zwecke. Sie wurde aus EU- und Stiftungsmitteln finanziert, entstand in enger deutsch-rußländischer Kooperation und wird zweisprachig angeboten. Internationale, themenbezogene und institutionelle Kooperation Das virtuelle Museum wäre zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht gelänge, erfolgreich auf verschiedenen Ebenen zu kooperieren. So ist eine internationale Zusammenarbeit ebenso unerläßlich wie eine themenbezogene und institutionelle. Als Beispiele bieten sich hier, neben dem Projekt des Lotman-Instituts, das europäische Museumsportal (www.euromuse.net), der Auftritt mehrerer Spielzeugmuseen unter sowie das Portal an, zu dem sich Bibliotheken, Archive und Museen zusammengetan haben. Hierbei handelt sich um eine interdisziplinäre Plattform zur Online-Recherche in den Beständen der drei klassischen Dienstleister auf dem Gebiet der Kulturbewahrung und -vermittlung. Die Institutionen und die Bestände bleiben getrennt, die Erschließung erfolgt unter Anwendung der fachspezifischen Methoden. Die Portal-Lösung zielt vielmehr darauf ab, Daten unterschiedlicher Kulturträger zu verknüpfen und dem Besucher Informationen zu thematischen Fragen aus den drei Fachbereichen zur Verfügung zu stellen. Informationen und Exponate zum Thema „kulturelles Erbe“ Angesichts der Bedeutung großer Teile der kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter und der besonderen Geschichte dieser Objekte muß sich das „Beutekunst“-Museum auch als virtueller Ort zur Bewahrung des kulturellen Erbes Europas verstehen. Auf diese Weise können sich Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und Rußlands ihrer eigenen und gemeinsamen Vergangenheit vergewissern. Projekte, die diesen Weg beschreiten, sind das Virtual Museum of Canada, das nordamerikanische „Stimmen-Projekt“ und seit kurzem das „Museum with no frontiers“ zur islamischen Kunst. Im Mittelpunkt dieser Online-Angebote steht die Verknüpfung unterschiedlicher Institutionen und ihrer Bestände, die zum kulturellen Erbe einer Nation, einer bestimmten Region oder Kultur gehören. Kontexte zwischen Exponaten, Informationen und Weiterbildungsangeboten zu erstellen, ermöglicht weitreichende Recherchen und Unterhaltungsangebote. Unterhaltungsangebote Um das Museum attraktiver zu machen, bedarf es neben den inhaltlichen Angeboten auch der Unterhaltung, wie sie ein virtueller Rundgang bietet. Denkbar ist sogar der Eintritt in eine dreidimensionale virtuelle Welt, in der die Kunstgegenstände wie in einem Museum erlebt werden können. Bisher bieten Museen nur virtuelle Rundgänge am Computerbildschirm. Ein Beispiel findet sich auf den Seiten des Lebendigen Virtuellen Museums Online. Dieses virtuelle Museum ist an zwei Museen gebunden (Deutsches Historisches Museum in Berlin und Haus der Geschichte in Bonn), verknüpft Objekte aus unterschiedlichen Sammlungen zu spezifischen Themen und stützt sich auf die Kooperation mit einem fachfremden Partner, dem Fraunhofer-Institut für Software und System-Engineering – bietet also auch im Hinblick auf die Kooperation Anknüpfungspunkte für das virtuelle Museum. Neben einem Rundgang bestimmen auch interaktive Elemente den Unterhaltungswert eines virtuellen Museumsbesuchs. Die „Vision interaktiver Wissensvermittlung und besuchernaher Kommunikation“ hat sich das Projekt Virtueller Transfer Musee Suisse () des Neuen Landesmuseums auf die Fahnen geschrieben. Dabei handelt es sich nicht um ein virtuelles Museum, sondern „die Web-Strategie einer direkten Kommunikation mit den Besuchern und Benutzern der Sammlung“. Im Mittelpunkt stehen die Objekte, die dreidimensional betrachtet werden können, sowie ihre Geschichte. Dazu kommen Raumeinsichten, Texte, Ergänzungsmaterial, Tondokumente und Musik. Zeitgemäße Präsentationstechnik Schließlich ist eine hochwertige Präsentationstechnik ein Erfolgskriterium für das virtuelle Museum. Die Beteiligten des virtuellen Museums der Karlsruher Türkenbeute entwickelten sogar eine neuartige Software (). Das Museum wurde vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe zusammen mit dem Zentrum für Kultur und Medientechnologie konzipiert. Eine Anregung kann es gleich in mehrerer Hinsicht sein. Wie die „Beutekunst“ ist die Sammlung der Turcica von hohem kunst- und kulturhistorischen Wert. Und ebenso ist ein großer Teil der Sammlung in Folge von Kriegen räumlich verlagert worden. Das Vorhaben eines virtuellen Museums stieß auf breites Interesse und wurde von der Landesstiftung Baden-Württemberg 15 Monate lang mit 750 000 € gefördert. Es bestand ein hoher Anspruch an eine professionelle Realisierung. Schließlich arbeiteten Wissenschaftler, Restauratoren, Webdesigner, Computerspezialisten, Filmexperten und Fotografen zusammen. Von den Möglichkeiten der Technik zeugt auch die Website zu computergestützten Rekonstruktionen historischer Gebäude (). Das „Beutekunst“-Museum könnte daraus Anregungen zu virtuellen Rekonstruktionen zerstörter Kunst und Architektur auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ziehen. Dies wiederum könnte neue Impulse für Forschungen zu den Kulturgüterzerstörungen der Nationalsozialisten liefern. Betrachtet man das „Beutekunst“-Museum in bezug auf diese fünf Kriterien, ergeben sich zahlreiche mögliche Projekte und Initiativen, die zur weiteren Ideenfindung anregen können. Ein mind-map kann die offene Struktur verdeutlichen, der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.
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