Titelbild Osteuropa 9/2005

Aus Osteuropa 9/2005

An den Schlagbäumen Europas und Asiens
Der Dichter Jarosław Iwaszkiewicz

Bogusław Bakuła

Volltext als Datei (PDF, 2.698 kB)


Abstract in English

Abstract

Der in der Ukraine geborene polnische Dichter und Prosaist Jarosław Iwaszkiewicz, in dessen umfangreichem Werk sich das europäische Bewußtsein des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, wandelte zeit seines Lebens zwischen zwei Welten: zwischen Ost- und Westeuropa. Kiev und Petersburg, zwei Metropolen im östlichen Teil des Kontinents, galten Iwaszkiewicz als Symbole einer schwierig zu bewerkstelligenden Einheit zwischen West und Ost, Jugend und Lebensabend, Leben und Tod. Gleichzeitig waren sie ihm aber auch Anlaß, sich historischen, metaphysischen und ethischen Fragestellungen zu nähern. Kiev taucht in seiner Dichtung als Pforte zum Osten und als Ort dichterischer Initiation auf. Petersburg erscheint hingegen als Ort dunkler Mächte und fatalistischer Geschichte – als ein Ort, an dem die eigene Existenz und Identität einer anhaltenden Bedrohung ausgesetzt sind.

(Osteuropa 9/2005, S. 61–80)

Volltext

Jarosław· Iwaszkiewiczs Städte * das sind Kiev, Petersburg, Warschau, Krakau, Danzig, Sandomierz, aber auch Palermo, Siena, Rom, Taormina, Venedig, Florenz, Brüssel, Paris und Rio de Janeiro. Ihre existentielle Ausstrahlung, ein Kraftfeld, das sich aus der Spannung zwischen Geschichte und Gegenwart nährt, vermochte immer wieder Iwaszkiewiczs Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jene städtische, mit Lärm erfüllte Leere, die in ihrem Herzen ausbrechende Leidenschaft und Verzweiflung, die Aufruhr des Geistes, der Kampf des Individuums mit der gesellschaftlichen Übermacht und der Vergänglichkeit, der Reichtum und das Elend, der Schmutz und die Gewalt interessierten diesen Dichter, da sie ihm Anlaß gaben, seine künstlerischen Erfahrungen und existentiellen Erlebnisse, die gleichzeitig die seiner Generation sind, zum Ausdruck zu bringen. In Bildern, deren Hintergrund die Vernichtung der polnischen Feudalgesellschaft im Osten Europas und das individuelle Erlebnis des Abschieds und der Vergänglichkeit bildet, skizziert Iwaszkiewicz die Gestalt des Vertriebenen, des Wanderers, der seine eigene Zeit in Gang setzt. Das Ziel und das Thema der Reise ist die Stadt, ihre Quelle und ihr Prinzip aber – die Unwiederbringlichkeit alles Erlebten. Weshalb kehren wir im Gedicht – ebenso wie in unseren Träumen und Erinnerungen – zu bestimmten Orten zurück? Weshalb begeistern uns manche Orte auf eine geheimnisvolle Weise, andere wiederum erscheinen uns nicht einmal eines Blickes wert? Iwaszkiewicz, dessen Phantasie von Nostalgie und vom Gedächtnis gelenkt wurde, stellte sich wiederholt diese Frage. Seiner Meinung nach ist Poesie der immerfortdauernde Wandel alles Seienden, gleichzeitig aber auch der vergebliche Versuch, die Ewigkeit zu erfassen. Die im Gedicht erinnerte Zeit vermag die zerstörten Landgüter, Städtchen, Tempel zum Leben zu erwecken und selbst den Lauf der verschlafenen osteuropäischen Flüsse zu beschleunigen. Der tiefen Nostalgie und Trauer entsteigen plötzlich Gestalten, die einst das weitläufige, spärlich bevölkerte Gebiet bewohnten, – Gestalten, die schweigend in die Ferne treiben. Den toten, sinnentleerten Namen verhilft die Poesie zu einer neuen Bedeutung. Und so verlieren wir nicht die Gewißheit, daß all dies einmal tatsächlich existierte. Dennoch vermag die Dichtung nur den Schatten der Zeit, die Spur eines Augenblicks, die Überreste einer Erinnerung oder einer Gemütsbewegung festzuhalten. Die in Metaphern verhüllte psychische Substanz macht nur einen Teil der indirekt offenbarten Erfahrung aus, und läßt sich, ähnlich wie die Stadt, kaum in ihrer Ganzheit erfassen. Ein Ding der Unmöglichkeit, diese zwei so unterschiedlichen Texte „bis zur Neige“ zu lesen. Die Unermeßlichkeit der Stadt verurteilt den Dichter zum Fragmentarischen, das zum dichterischen Prinzip wird. Dichter und Steine, aufs engste verbunden, haben einander viel zu sagen. Daher laßt uns nun von der Stadt des Dichters erzählen, von ihrem Himmel und ihrer Erde, von Palästen und Kanälen, von Kirchen und Kloaken, vom Anfang und Ende. Und vielleicht sogar von ihrer Seele. Iwaszkiewicz ist überzeugt, daß die Stadt, oftmals vom Menschen als geniales Kunstwerk konzipiert, zerstört und aufs Neue errichtet, – eine Stadt, die mal besser, mal schlechter, mal klüger, mal schlechter ist –, den Charakter der neuzeitlicher Nation, ihr Temperament, ihre Vergangenheit und ihre Utopien wohl am deutlichsten zum Ausdruck zu bringen vermag. Hinter der Konzeption der Stadt versteckt sich der Traum von einer höllischen Perfektion, – einer Perfektion, die übrigens noch nie erreicht worden ist. Es sind aber nicht die infernalen Mächte, die Iwaszkiewiczs Interesse an der Stadt wecken. Das Wesen seiner Stadtimpressionen liegt verborgen in der historiosophischen und nostalgischen Reflexion, in den Porträts weltverlorener Gestalten, in den Skizzen dramatischer Ereignisse. Das Augenmerk dieses Dichters gilt der Fremdheitserfahrung des Subjekts, eines Subjekts, das – seiner sozialen und kulturellen Bindungen beraubt – eine Metropole betritt. In seinem Gedächtnis – das verwüstete Heim, das Chaos, – Bilder, die von einer Zerstörung gesellschaftlichen, nationalen und moralischen Ausmaßes zeugen. Und doch bleiben Iwaszkiewiczs Pessimismus und Katastrophismus – angesichts ihrer deutlichen historischen Verortung – verhältnismäßig mild, bar jeder Aggression, Enttäuschung und jedes prätentiösen Exotismus. Iwaszkiewicz versucht die Stadt vielmehr in ihrer Hoffnung und ihrer historischen Botschaft zu begreifen, indem er Ausschau nach einem diese Botschaft transportierenden Stadtbild, Text oder auch Mythos hält. Der transzendente Charakter der städtischen Architektur („die nebelumwobenen Türme unbekannter Städte“) wird für Iwaszkiewicz, der eine Abneigung gegen geschlossene Räume und eine Vorliebe für den Wald, den Fluß und das Meer hegte, immer wieder zum Beweggrund, eine weitere Reise anzutreten. Trotz unzähliger literarischer Bilder, Reminiszenzen und Erinnerungen, die den Reisen Iwaszkiewiczs entstammen, gibt es in seinem Werk nur zwei Städte, welche die Handschrift eines metaphysischen Anfangs und Endes tragen: Kiev und Petersburg. Kiev gilt ihm als Reminiszenz an seine Jugend, Petersburg, das ihm als Literatur gewordene Kollektivvorstellung, als der berühmte „Petersburger Text“ bestens vertraut war, erblickt der Dichter zum ersten Mal in den 1970ern, kurz vor seinem Tod. Die mythische „Rückkehr nach Europa“ vollzieht sich für Iwaszkiewicz aber nicht nur durch diese beiden Städte. Überzeugt von der Wandelbarkeit aller Dinge als unausweichlichem Lebensprinzip, bringt Iwaszkiewicz die Stadt stets in engsten Zusammenhang mit einem Raum, der offen, empfangend und aufnahmefähig ist: mit der Steppe, mit dem Fluß und dem Dorf. Kiev – der Mythos vom Anfang Aus Erinnerungsfetzen, aus Spuren vergangener Ereignisse hervorgetreten, erscheint der Anfang beinahe immer undeutlich, ohne Konturen. Der Anfang, den man auch als Urmythos bezeichnen könnte, steht bei Iwaszkiewicz, dessen Wurzeln in der Welt des Landadels, in der arkadischen polnisch-ukrainischen Wirklichkeit liegen, stets in einer sehr engen Beziehung zum Wasser, zum Fluß. Iwaszkiewiczs Flüsse sind der Dnepr, die Ikva und die Desna. Sie stellen ein Thema dar, das dieser Dichter auf eine faszinierende Weise mit dem Zeitempfinden, dem Erdenmythos, der Vergänglichkeit, dem Leben und dem Tod verknüpft. Vor allem der Dnepr erscheint in seinem Werk als Synonym heraklitischer Ewigkeit: Unaufhörlich strömt er weiter, vorbei an den Kindheitsbildern, taucht unerwartet – als Kontrapunkt, als unabdingbares Element der imaginierten Ordnung – in Landschaften auf, die an Italien erinnern. Den Einfluß dieser Flußlandschaft auf die Poesie thematisiert Iwaszkiewicz so: Erinnern wir uns an den poetischen Dialog in Ikwa i ja (Ikva und Ich), in dem sich das Subjekt mit dem Fluß seiner Kindheit, seiner Erinnerungen unterhält. Dieses ukrainische Thema formuliert Iwaszkiewicz heraklitisch, indem er das Motiv der Unwiederbringlichkeit alles Vergangenen aufgreift. Nachdem alles vergangen ist, waten die Sprechenden durch eine Art „Zeit-Steppe”, die Unerreichbarkeit der ursprünglichen Harmonie beklagend: Auf der Reise in die eigene Kindheit und Jugend kann Iwaszkiewicz nicht umhin, Kiev aufzusuchen. Die ewige Hauptstadt der Ukraine, von wo aus man über den Dnepr das Kosakenlager und später, über das Schwarze Meer in Richtung Odessa und darüber hinaus treibend, die Felsen des Kaukasus, ja selbst die Moscheen Konstantinopels erreichen konnte, wurde für Iwaszkiewicz zum Ort seiner Initiation. In dieser damals von polnischer Kultur – vertreten durch Leśmian , Witkacy und das polnische Theater – dominierten Stadt reifte Iwaszkiewicz zu einem polnischen Autor heran. Über diese Stadt finden wir drei Gedichte in dem Gedichtband Mapa pogody (Wetterkarte, 1977), den Iwaszkiewicz am Ende seines Lebens verfaßte: Krągło-Uniwersytecka (Die Krągło-Uniwersytecka-Straße), Niebieski pałac (Blaues Palais), Córki Jarosława (Jaroslaws Töchter). In diesen Gedichten manifestiert sich die ideelle und künstlerische Ausrichtung Iwaszkiewiczs. Hier spricht er von der hohen Kunst, von dem Lebensweg eines Künstlers, von der Geschichte. In Jaroslaws Töchter weist der Dichter auf die Urgeschichte Kievs und die Stellung dieser Stadt als eines der wichtigen Zentren des mittelalterlichen Europa hin: Jaroslaw I. (979/86﷓1054), der nicht umsonst Mudryj, der Weise, genannt wird, sendet seine Töchter in die Welt, damit sie diese den Pforten Kievs näherbringen. Allen Fehden, Täuschungsmanövern und Grausamkeiten zum Trotz strebte das religiös geeinte Europa die politische Integration durch Vermählung der Dynastien an. Einen bedeutenden Anteil an dieser Integration hatte Kiev. In einer Epoche, die reich an politischen Genies wie Bolesław I (Chrobry), Vladimir der Große und Heinrich II. war, gehörte Jaroslav sicherlich zu den weitsichtigsten und bestgebildeten Herrschern Europas. Sein Werk überdauerte die über ein Jahrtausend währenden Versuche, Kiev von seinem Weg nach Europa abzubringen. Darin erkennt man die Größe, das Genie eines Herrschers, dessen Werk die historiosophische Perspektive der heutigen Ukraine begründet. An Rußland, das die dunklen Tiefen der Geschichte noch nicht verlassen hatte, dachte damals noch keiner. Erst ganze sieben Jahrhunderte später beginnt Peter I., sein Petersburg zu errichten. Eng verbunden sowohl mit Kiev als auch mit Petersburg ist der Name des italienischen Architekten Bartolomeo Francesco Rastrelli , – ein Name, den Iwaszkiewicz immer wieder mit seiner frühen Kiever Jugend assoziiert, so im Blauen Palais, einer in die Kiever Landschaft integrierten, autobiographischen Aufnahme, deren wichtigster Bezugspunkt das von Rastrelli erbaute, heute nicht mehr existierende Zarenpalais und die über dem Dnepr und dem Flußviertel Podil thronende autokephale Andreas-Kirche darstellt. Hier pflegte einst der Junge „mit den langen Beinen“ umherzuschleichen: „Es ist mir nicht gelungen, eine Monographie über Rastrelli ausfindig zu machen“, – schreibt Iwaszkiewicz in seinem Essay Petersburg. Dieser Architekt verdient es aber, daß er genauestens untersucht, daß all die Elemente, die seinen ungewöhnlichen Stil ausmachen, betrachtet werden. Für mich ist er – jener Stil – mit der Erinnerung an die frühesten Stadteindrücke verbunden. Die Andreas-Kirche in Kiev ist fest verwachsen mit den ersten Eindrücken von dieser Stadt. Rastrelli war ein Architekt, für den ich im Alter von vier, fünf Jahren Respekt empfand. Die silberne Kiever Kirche war die Ankündigung der grünen Winterpalais’ und des saphirblauen Palais’ in Carskoe Selo. Die Andreas-Kirche ist ein magisches Gebäude: Überirdisch, in einen Schaum aus goldenen Verzierungen getaucht, strebt dieses weiß-blaue Monument dem Himmel entgegen. Einer barocken Gans ähnlich, deren Schnabel und ausgebreitete Flügel weiß-goldene Sporen schmücken, sticht sie mit ihren drei Turmspitzen den Äther. Daneben – die älteste Straße Kievs, steil zum Dnepr hinabfallend, über den der Heilige Andreas und der Heilige Vladimir wachen. Den Andriïvs’kyj Usvis (Andreas-Steig) erklimmend, erreicht man die Velyka-Žytomyrs’ka-Straße, und – ein Stückchen weiter – die Universität mit der dazugehörigen Kruhlouniversytets’ka-Straße: Tu szła Wysocka . Wyprężona. Stąpała z wolna, krótkowzroczna.Jej duża stopa ogumionaSpod krótkiej sukni zbyt widoczna. Gdy umrę, nikt już nie odtworzy Uśmiechu, zębów, głosu, krokuNa pochylonym trotuarze, Który ośnieża się co roku.I nic nie mogę tutaj zmienić,Wciąż widzę jak ulicą kroczy,Wciąż widzę blask jej ciemnych źrenic,Błysk zębów, uśmiech, wielkie oczy … Hierlang ging die Wysocka. Stramm.Bedächtig schritt sie in ihrer Kurzsichtigkeit.Ihr großer Fuß im regenfesten Schuh– allzu sichtbar unter dem kurzen Kleid.Wenn ich sterbe, wird niemand mehr wiedergebenIhr Lächeln, ihre Zähne, ihre Stimme, ihren SchrittAuf dem geneigten Bürgersteig,Welcher sich alljährlich mit Schnee bedeckt.Und nichts daran kann ich ändern,Noch immer sehe ich, wie sie durch die Straße schreitet,Noch immer sehe ich den Glanz ihrer dunklen Pupillen,Das Blitzen ihre Zähne, ihr Lächeln, ihre großen Augen. Krągło-Uniwersytecka (Kiev 1974), in: Mapa pogody. Warszawa 1980, S. 36. Ob sie wohl zum Chreščatik ging? Vielleicht ins Café der Aktionäre, unweit der berühmten Kiever Promenade, wo sich die damalige Bohème zu treffen pflegte? Oder zur Bessarabka, dem bedachten Marktplatz? Während sie, gemächlich schreitend, eine schwerfällige, mit Hotelgästen der Nacional’naja Gostinica beladene Droschke einholte, fuhren an ihr einzelne Wagons der Tram Nr. 14 vorbei, deren Weg über den Chreščatik führte. Über das Kopfsteinpflaster eilte sicherlich ein mausgraues, in eine hölzerne Gabeldeichsel eingespanntes Pferd, das ungeduldig von seinem Fuhrmann angetrieben wurde. Auf dem Wagen: Mehl, Möbel. An der Bessarabka angekommen, bog die Wysocka rechts ab, in den von Silberpappeln umzäunten Bubikov-Boulevard, wo der „Junge mit den langen Beinen“ zum ersten Mal vom strengen Gesicht der damals größten, gleichermaßen in Warschau, Kiev und Petersburg beliebten Schauspielerin verzaubert wurde. Hier sahen und trennten sie sich. Eine Weile blieb er noch vor dem Schaufenster des berühmten Photographen Markov (Chreščatik Nr. 6) stehen, um die dort ausgestellten Portraits der schönsten Damen aus der Kiever High-Society und die neuesten Szenen aus dem Leben dieser Metropole zu betrachten. Dann aber verschwand er hastig in den nahegelegen Straßen, wo er immer wieder mit eleganten Damen und fremden, ihm so ähnlichen jungen Männern zusammenstieß. Was sah er noch? Die alten, oben, auf den Hügeln stehenden Kirchen, die Synagoge, dieses architektonische Wunderwerk in der Mala Vasil’kyvs’ka, das später als Puppentheater dienen sollte. Vielleicht bewunderte er den Kiever Barock, den ungewöhnlichsten aller architektonischen Stile, der sich durch das Nebeneinander streng religiöser (russisch-orthodoxer) Motivik, lebensfroher, dekadenter Symbolik sowie orientalischer und volkstümlicher Ornamentik doch so deutlich von jenem, ihm aus Tymoszówka und Kalnik bekannten Baustil absetzte. Abends eilte er zu einem Auftritt der Wysocka in einem Theater, das in den Jahren 1916–1917 im Saal des Klubs der Bankangestellten untergebracht war und dessen literarische Redaktion ihm oblag. Die Kiever Theater zeigten ein großes Repertoire polnischer Dramatiker. Hier wirkte auch Juliusz Osterwa, ein genialer Interpret der polnischen Romantik und der spätere Begründer der klosterähnlich geführten Theatertruppe Reduta. Die Atmosphäre der Kiever Theater, in denen die russische und polnische Avantgarde aufeinandertrafen, wird im unabhängigen Polen ihre Fortsetzung finden. In Gemäldegalerien und Festsälen brillierten damals die Werke der jungen russischen, polnischen und ukrainischen Avantgarde. Iwaszkiewicz wird sicherlich mehrmals am Opernhaus, an der Kirche der Heiligen Sophia in der Vladimirs’ka-Straße vorbeigelaufen sein, von wo aus er die Aussicht auf goldene Kuppeln der Michajlivs’kyj-Kirche genießen konnte. Auf einen Sprung ging er zu Madame Anjous Chic Parisien, einem Lokal in der Teatral’na-Straße, wo sich die vom Krieg leicht dezimierte Kiever Bohème so gerne traf. Anschließend ging er wieder in die Vladimirs’ka-Straße zurück, um weiter in Richtung Andriïvs’kyj Usvis zu wandeln. An der 1842 von Rastrelli erbauten Andreas-Kirche angekommen, tauchte er unter all den Passanten, Marktfrauen, Soldaten, Schülern und Lehrlingen unter. Ob er wohl den Arzt Michail Bulgakov kannte, der hier im Haus Nr. 13 wohnte? Die einstudierte Pose, das Monokel und die makellose Kleidung ließen den zukünftigen Autor von Meister und Margarita sicherlich unter den anderen Passanten hervorragen. Daß sich ihre Wege – und sei es für einen noch so kurzen Augenblick – gekreuzt haben, ist höchst wahrscheinlich: Schließlich gehörte Bulgakov ebenso wie der junge Iwaszkiewicz zu den notorischen Besuchern der Kiever Theater-, Musik- und Poesieabende. Die Welt schien ihren Lauf beschleunigt zu haben: Die alte Ordnung erlebte ihren Untergang, Kiev, dieses Rom des ostchristlichen Europa, hatte aber noch immer Bestand. Selbst als es vom Wüten der Bol’ševiki seiner Traditionen, seiner alten Kirchen beraubt worden war, war es noch voller Geschichte, um die es das wider die Natur des Steins, inmitten eines Sumpfes erbaute Petersburg nur beneiden konnte. Kiev als ewige Stadt genügt Iwaszkiewicz als Anlaß für eine Reise: Hier, inmitten dieses Mythos, kann er endlich seine obsessive Vergänglichkeitssucht, sein Streben nach Auflösung in der Zeit (Wenn ich erst tot bin, erweckt niemand mehr …) ausleben. Der Mythos vom Anfang hat selbst keinen Anfang, jedoch zieht der Anfang immer ein Ende nach sich: „Unnötig etwas abzubrechen abzuschalten / alles endet von allein“ (Nie trzeba nic zrywać wyłączać / samo się wszystko skończy). Dieses Ende, das ist für Iwaszkiewicz Petersburg, das den freien kalten Norden bändigt und einen deutlichen Kontrapunkt zu dem lebensfrohen, sonnendurchfluteten Kiev setzt. Hier, vor dieser katastrophisch-dunklen Kulisse wird das Flechtwerk des polnisch-russischen Dramas für Iwaszkiewicz entwirrbar. Petersburg – der Mythos vom Ende Es war eine Stadt, von der man seit der frühesten Jugend so viel wußte. Man las über sie in der polnischen und in der fremdsprachigen Literatur, man wußte alles über sie. Verknüpft mit den intensivsten Leseerfahrungen aus der Jugendzeit, zunächst mit Puškin und Mickiewicz, mit Balzac und Dostojewski, schließlich mit Aleksandr Blok und Witkacy. Es schien mir, als ob ich – dank all der Bücher – jeden Stein hier kannte, als ob ich wüßte, wie der Kupferne Reiter aussieht, und wo Oleszkiewicz einst mit seiner Taschenlampe lang gegangen ist, als ob ich wüßte, welche Brücken jene Nase, die ihren Besitzer verloren hatte, auf ihrem Weg genommen hat, und wo man Akakij Akakievič seinen Mantel abgenommen hat, und ich wußte, wo der Botschafter Paléologue mit seinen Informanten gesprochen hat, und an welcher Stelle man den verlorenen Überschuh von dem in einem Eisloch ertränkten Rasputin gefunden hat. Man erlebte all dies. Aber man sah es nicht. Jetzt habe ich es gesehen. Die in Iwaszkiewiczs Petersburg gezeigte Stadt erscheint als Verkörperung eines katastrophischen Mythos. Anders als bei Kiev, das sich mit dem Mythos des Ursprungs, der Herkunft verbinden läßt, gilt Petersburg Iwaszkiewicz als rein literarischer Mythos, – als ein Mythos, in dessen Zentrum der Künstler und seine besonderen Petersburger Erfahrungen stehen. Es ist das Petersburg Puškins, Mickiewiczs, Dostoevskijs, Bloks und Witkacys. Petersburg als eine Grenzerfahrung, als Schicksal. Das Bändchen wird von einem Essay über Radiščev, den Autor des kontroversen Reiseberichts Putešestvie iz Peterburga v Moskvu (Von Petersburg nach Moskau) – einer Abhandlung, die sich – trotz ihrer literarischen Vorzüge – laut Astolphe de Custine geringer Wertschätzung erfreute. Mit seinem Reisebericht gewährt uns Radiščev einen Einblick in die Epoche Katharinas der Zweiten. Laut Iwaszkiewicz betont Radiščev „mit aller Offenheit die grundlegende Widersprüchlichkeit des Regimes. Die zur Schau gestellte Pracht, die beeindruckende, dekorative Fassade des Zarenreichs verhüllt – einem Paravent gleich – die schrecklichen Bilder der Unterdrückung und des Grauens, die symbolische Wahrheit sagt aber dem angeblichen König. „Wisse, daß du der erste unter allen Räubern, allen Verrätern, allen Feinden bist, der all seinen Groll gegen das Innenleben des Schwachen gerichtet hat …“ (Petersburg, S. 13–14). Dieser interessante, gewisse Parallelen zur Gegenwart aufweisende Gedanke steht in einem engen Zusammenhang mit dem Petersburg-Aufenthalt des jungen Mickiewicz, der sofort erkennt, was die Wahrheit, was wesentlich ist, und sich der Fassade, des Flitterscheins, der Falschheit und der Oberflächlichkeit der Kultur [des russischen Imperiums] bewußt ist, Die Grausamkeit und Herrschsucht Petersburgs spiegeln sich auch im Werk Dostoevskijs wider. Dazu merkt Iwaszkiewicz an: Die ganze Persönlichkeit dieses Schriftstellers schien den nebligen Gassen dieser Stadt zu entspringen, den weißen Nächten am Rande der Wasserkanäle zu entstammen, immer vom Heumarkt her zu kommen, wie jener junge Mensch […] Raskol’nikov, der sich im stolzen Sommerlicht nicht zu materialisieren vermochte. Etwas weiter fügt er hinzu: „Es ist ein alptraumhaftes Petersburg, das an die Visionen Goyas erinnert […]. Das Petersburg furchterregender Menschen.“ Seine ambivalenten Gefühle gegenüber Rußland thematisiert Iwaszkiewicz auch in seinem Gedicht Do Rosji (An Rußland): O czym mam ci powiedzieć, Rosjo, czy to, że Puszkin jest pisarz niebieski? Czy o tym, że mnie wzgardą smagał Dostojewski? Czy, że mi oddalone granie za ścianą przypomina Święcące nocą kopuły, zdrowie stepu i dreszcze Skriabina? Czy to, że po twym ciele kołysze się słodkie i ciężkie zboże? Czy to, że dzieli nas przepaść, na którą już nic nie pomoże? Przepaść, która mnie boli i pali, jak nożem zatrutym zadana nieuleczalna rana? Mam ci rzec, że cię nienawidzę„ Czy rzec, że jesteś ukochana? Wovon soll ich dir, Rußland, erzählen, etwa davon, daß Puškin ein himmelblauer Dichter ist? Oder davon, daß mich Dostoevskij mit seiner Verachtung geißelte? Oder, daß mich das entfernte Spiel hinter der Wand An die nachts leuchtenden Kuppeln, die Gesundheit der Steppe und den Schauder Skrjabins erinnert? Oder davon, daß auf deinem Körper das süße und schwere Getreide wogt? Oder davon, daß uns eine Schlucht voneinander trennt, für die es keine Abhilfe gibt? Eine Schlucht, die mich schmerzt und die brennt, wie eine mit einem vergifteten Messer zugefügte, unheilbare Wunde? Soll ich dir sagen, daß ich dich hasse, oder sagen, daß du geliebt wirst. An Rußland (Aus dem Band: Rückkehr nach Europa, 1931), in: Wiersze. Warszawa, 1958, S. 151. „Eine Schlucht, die mich schmerzt und die brennt, wie eine mit einem vergifteten Messer zugefügte, unheilbare Wunde“ – dies ist für Iwaszkiewicz Rußland. Das außen, an ihrem Rand liegende caput regni – eine Stadt, durchzogen von den steinernen Adern ihrer Wasserkanäle, über denen der Geruch des Leidens, der Nichterfüllung, der Rebellion schwebt. Eine Stadt, deren Wuchertreiben mit menschlichen Schicksalen allenthalben unübersehbare Blutflecken hinterlassen hat. Mit Petersburg öffnet und schließt sich das Tor zur Hölle. Die ins kalte Baltikum mündende, stahlgraue Neva erinnert Iwaszkiewicz nicht nur an den für die russische Literatur so bezeichnenden Katastrophismus, einen Katastrophismus, der sich in der Poesie Aleksandr Bloks, in den Schriften Vladimir Solov’evs – und den Werken des von beiden inspirierten Witkacy – manifestiert. Petersburg – das ist auch die nördliche Hauptstadt der Kunst. Die Ausstrahlung dieser Stadt hat auch Witkacy in ihren Bann geschlagen. Bis jetzt vermag ich beim Anblick dieser Kasernen, der Petersburger Straßen, der Gebäude und Paläste nicht, mich dem Eindruck zu widersetzen, daß die unheimliche Gestalt unseres Schriftstellers [Witkacys – A.O.], umherkreist – eines Schriftstellers, der sich hier seiner Berufung zum Künstler bewußt geworden ist. Aber nicht nur er allein. Witkacy wurde in Petersburg Zeuge avantgardistischer Manifestationen. Die während der Revolution angestellten Beobachtungen erlaubten ihm, die Logik der Destruktion und die Macht des katastrophischen Mythos zu begreifen und mit der Idee des Panmongolismus vertraut zu werden, die in den Gedanken der bereits erwähnten Russen zum Ausdruck kam. In diesem Zusammenhang konstatiert Iwaszkiewicz, daß Witkacy in dem, was Belyj schrieb, eine Bestätigung seiner Theorien und Ängste fand. […] Die Revolution, behandelt als unabwendbare Katastrophe, als höllische Chimäre, als mongolische, alle unsere zivilisatorischen Wertvorstellungen vernichtende Invasion – dies sind gemeinsame Ideen Belyjs und Witkacys. Der katastrophische Mythos, den Iwaszkiewicz hier mit Petersburg, der Quelle der Revolution und all ihrer tragischen Konsequenzen in Zusammenhang bringt, hat nicht nur Witkacy eingeholt, er hat auch Petersburg in Leningrad umgewandelt. Das letzte, dem belagerten Leningrad gewidmete Kapitel scheint eindimensional, irgendwie hinzugefügt, auch wenn das Motiv der Katastrophe, das den Keim der Erneuerung in sich trägt, immer noch dominiert. In einer Hinsicht paßt Leningrad als ein post factum hinzugefügtes Element des „Petersburger Textes“ hierher, der ohne Soteriologie nicht existieren kann. Das errettete, einer solchen soteriologischen Interpretation zufolge als Leningrad verkleidete Petersburg läßt auf ein in welcher Weise auch immer mögliches Überdauern hoffen, besteht diese Stadt und mit ihr die große russische Kunst doch nach wie vor. Petersburg erscheint bei Iwaszkiewicz als die im geistigen Sinne westlichste Stadt Rußlands. Sie ist ein erstaunliches, der Logik und den Naturgesetzen zum Trotz errichtetes Kunstwerk, ein Geflecht aus historischen und literarischen Leidenschaften, welches diese Metropole zu einem ewigen Rätsel werden läßt. Ihr unasiatischer Charakter stellt gleichzeitig eine Herausforderung für Rußland und seine Geschichte dar, indem er zum Nachdenken über dieses Land und seine Identität einlädt. Es steht außer Zweifel, daß der von Petersburg aus auf Rußland gerichtete Blick der europäischen Denkweise und Tradition näher ist als die Sicht, die man zum Beispiel von Irkutsk oder Vladivostok aus hat. Unabhängig davon, wie laut „die Pfauen des Todes in Peterhof schreien“. Mit seinem Essaybändchen über Petersburg sucht Iwaszkiewicz sich in die Tradition des „Petersburger Textes“ einzufügen und an dessen polnische, von Adam Mickiewicz initiierte Abzweigung anzuknüpfen. Der bereits erwähnte Toporov stellt in Petersburg und der Petersburg-Text fest: In dem von der russischen Literatur entfalteten Petersburg-Text spiegelte sich die Quintessenz einer Existenz am Rande, am Abgrund, an der Grenze des Todes wider, wobei auch Wege zur Erlösung gewiesen wurden. Gleichzeitig darf man den voraussehenden, ja weissagenden Charakter dieses Textes nicht vergessen, der sich als Vision und Prophezeiung der Geschichte Rußlands manifestiert, – einer Geschichte, die sub specie Petersburgs betrachtet wird. Gerade in dieser Stadt hatte die Komplexität und die Tiefe des staatspolitischen, ökonomischen und praktischen Wesens sowie auch jenes Lebens, das die Entwicklung von Emotionen, intellektuellen Fähigkeiten, Ideen und die Entfaltung der symbolischen und ontologischen Sphäre umfaßte, den höchsten Stand erreicht, der die Hoffnung auf eine zufriedenstellende Beantwortung der wichtigsten Fragen nährt. In dem Jahrhundert, in welchem der Petersburger Text im Entstehen begriffen war [die 1830er Jahre – B.B.], gab es in Rußland keine weitere Stadt, die so [wie Petersburg] gewesen wäre. Im katastrophischen Mythos, in dem bedrohlichen, imperialen Bild von der Stadt an der Neva lassen sich die beiden Varianten des Petersburger Textes, die russische und die polnische, auf einen Nenner bringen. Eurasien – der Mythos von Aussöhnung und Zusammengehörigkeit Kiev und Petersburg werden von Iwaszkiewicz stets vor dem Hintergrund europäischer Tradition, im regen Dialog mit Europa, wahrgenommen. Europa, Mutter aller Städte, erinnert uns durch ihre historische Existenz daran, daß ihre Metropolen seit undenklichen Zeiten bestehen, gleichzeitig aber gleicht sie einem Spannungsfeld, auf dem zwei elementare Kräfte, jene Kräfte, welche die metaphysische Konstruktion der Stadt bestimmen, aufeinander treffen: Chaos und Ordnung. Eine aufmerksame Lektüre von Iwaszkiewiczs Werken läßt aber auch erkennen, daß dieser Schriftsteller Petersburg und Kiev als Zeichen seiner poetischen, in eine historiosophische Dimension eingebetteten Eschatologie verwendet. Seiner Überzeugung, daß alle Grenzen gänzlich bedeutungslos sind, verleiht Iwaszkiewicz in seinem gegen Lebensende verfaßten Gedicht Azjaci [Asiaten] aus dem Gedichtband Mapa pogody (Wetterkarte, 1977) deutlich Ausdruck. Die Komposition setzt sich aus einer Reihe historischer und literarischer Reminiszenzen zusammen, die beunruhigend, manchmal geradezu gewaltsam wirken: Königin Konstancja, Basilissa Theofano, Čechovs Maša, aus Iwaszkiewiczs Leben Maryla und Omchen Taube. Daraufhin das Bild des rasch entschwindenden Arkadiens: Dieses Arkadien wird von Imperien bedroht, von Imperien, die sich immer gleichen. Ihre „Pferde sausen bei Tag und Nacht/ Eilend, tragen sie kleine Napoleons / Und große nackte / Schauspieler aus unglaublichen Filmen“. Todbringende Kriege und Invasionen sind für Iwaszkiewicz keineswegs ein ausschließlich asiatisches Charakteristikum. Die Asien zugeschriebene Grausamkeit und Todesfaszination sind gleichermaßen präsent an der Loire wie an der Neva. Es ist die von der Todesnostalgie durchtränkte russische Kultur und ihre Eschatologie, die Iwaszkiewicz fasziniert: „Das Gras Tolstojs / das Brot Dostoevskijs / die Trauerweiden Čajkovskijs / überwuchern mich bis über den Hals […].“ Petersburg überlagert die „feuchten Palisaden“ des alten Kiev, über die einst, einem Sturm ähnlich, die Armeen Dschingis Khans herabgestürzt kamen: „Der Gesang sausender Pferde, der Gesang rauschender Säbel / Herab auf die Eichen Tschernobyls, auf die Zedern des Engadins“. Die Geschichte gleicht einem Palimpsest, das keineswegs mit unserer Existenz endet. Der aufmerksam Lauschende und Schauende wird seine Sprache vernehmen, sie gar verstehen können. Zum Vorschein kommen dann die Reminiszenzen Katyńs und das bedeutsame Motiv der (für Iwaszkiewicz nicht vorhersehbaren) Katastrophe von Černobyl. Die Welt ist voll von nicht ausgesprochenen Worten: Die Erde – durchzogen von Gräbern, gesättigt mit der Asche Verstorbener. Ununterbrochen flüstert der Boden, einst ausgesprochene Worte wiederholend. Es ist nicht wahr, daß Friedhöfe nicht leben: Um sich herum wird der Dichter „ganzer Felder voller Gräber und wuchernden Lebens“ gewahr. Über ihnen – das Walten des Todes. Unruhig, wütend, unnachgiebig. Durch dieses mal leiser, mal lauter werdende Getöse dringt ein gewaltiges Glockengeläut hindurch – „rommel bom, rommel bom“. Das Läuten russischer Glocken versinnbildlicht den Traum von den einander durchdringenden Welten der Toten und der Lebenden, von dem nicht enden wollenden Ringen an den Flüssen Europas und Asiens, – an den Gewässern Eurasiens. Die in diesem Poem geschilderte Vision vom Zusammenrücken der Kontinente und der Zivilisationen wird mit der Ablehnung jedweder Gewalt und jeglichen Leidens verknüpft – „Ich will das Gerassel scharfer Instrumente nicht hören.“ Die Versöhnung von Asien und Europa, die sich durch historische Tragödien ereignet, geschieht mit derselben unabdingbaren Gesetzmäßigkeit, mit der Leben und Tod zu einer Einheit verschmelzen. Die katastrophische Idee des Panmongolismus (Solov’ev, Belyj, Witkacy), der für alle anderen Formen eines unnachgiebigen Imperialismus steht, hat hier keinen Platz. Entscheidend ist jene apokalyptisch-arkadische coincidentia oppositorum: Wir sind alle Europäer. Alle – Asiaten! Die historiosophische Perspektive dieses Werks versinnbildlicht sich in der Wanderung des Menschen, die, von der Apokalypse ausgehend, zu einem ewigen Arkadien führt. Wer diese Wanderung überlebt, wird sein gütiges Schicksal einzig und allein einer „einfachen, brüderlichen Geste“ zu verdanken haben: Verschmolzen mit der Ebene, mit dem Wind, sich in Staub und wiederum in einen Baum, einen Maulwurf, einen Vogel verwandelnd, das einfache und doch unvorstellbare Geheimnis kennend, bestehen wir vergebens auf jenen Unterschieden, die als Grundlage unserer Identität, als Beweis unserer Überlegenheit gegenüber dem Fremden gelten sollen. Die späten Werke Iwaszkiewiczs erwecken den Eindruck, dieser Schriftsteller glaube an die kumulative Weisheit dieser Welt, in welcher alles gleichberechtigt und gleichermaßen wichtig ist. Alles ist Eins. Der Unterschied dient nichts anderem als dem Zweck, die Einheit dieser Welt aufrechtzuerhalten. Wichtig ist einzig und allein die Kontinuität des Lebens, auch wenn seine Manifestation, seine Konkretisierung vom Zufall abhängen. „Man braucht nichts abzubrechen, abzuschalten / alles endet von allein“, um in einer anderen Form, auf einer anderen Wellen des Daseins weiter zu existieren. Alles Seiende wird „vom gesichtslosen Strom der Ströme zu den Enden [und nicht zu dem endgültigen Ende – B.B.] getragen“. So verlöschen das in Bruchstücken der Erinnerung bewahrte Kiev und das vom Fieber grausamer Leidenschaften pulsierende Petersburg nur langsam, ohne aber je ganz zu verschwinden. Sie unterliegen bloß Veränderungen, welche die Kontinuität ihrer Existenz begründen. Erstarrt in einer einzigen historischen Gestalt hätten sie wohl bis heute nicht überdauert. Den Weg zu den weiten, grenzenlosen Ebenen Rußlands und Eurasiens öffnet ausgerechnet das endlich scheinende Kiev. Während Iwaszkiewicz diese Stadt aus der Perspektive der eigenen Biographie, der Kindheit und des Ursprungs schildert, erscheint sein Petersburg nahezu ausschließlich aus dem literarischen Blickwinkel, als Verkörperung dunkler Mythen und der Gefangenschaft gezeichnet – in einer Hamlet-Paraphrase heißt es, Rußland sei ein Gefängnis. Diese auf einem Moor erbaute Metropole, erweckt den Eindruck, den Ankömmling in ihren Sog ziehen, ihn im Ferment ihrer Psychomachie versenken zu wollen. Hier wird der Dichter der Dunkelheit, eines bösartigen, hochmütigen Imperialismus, dieses Keims der zerstörerischen Revolution gewahr. Der zentrale Gedanke Iwaszkiewiczs gilt aber dem Wunsch, in der Vollendetheit der Zeit sowohl des Anfangs und als auch des Endes teilhaftig zu werden, Kiev und Petersburg gleichzeitig mit dem Netz der Erinnerung einzufangen, konstituieren die endlichen Dinge doch die Unendlichkeit. Ende und Anfang, Europa und Asien, Stadt und Steppe, Liebe und Leiden, freier Wille und Zwang gleichen einander aus, auch wenn das Ergebnis keine perfekte Harmonie ist. Der Versuch, diese Gegensätze miteinander auszusöhnen, geschieht ganz unprätentiös, ohne die Illusion, als Dichter auch nur ein bißchen Ruhm oder Unsterblichkeit zu erlangen. Denn wir alle: „verschmelzen zur Einheit mit der weiten Ebene / Sobald die Erde und der Himmel neben uns vergangen“. Aus dem Polnischen von Adam Opyrchal, Langenhagen

Volltext als Datei (PDF, 2.698 kB)