Titelbild Osteuropa 7/2005

Aus Osteuropa 7/2005

Editorial
Im Käfig

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 7/2005, S. 5–6)

Volltext

Der Moskauer Prozeß gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev ist am 31. Mai 2005 mit der Verurteilung der Angeklagten zu Ende gegangen. Doch der Fall ist nicht beendet. Denn der Prozeß ist alles andere als die Regelung eines Rechtskonflikts mit den Mitteln der Justiz. Handelte es sich um die Durchsetzung von Recht, müßte man zur Tagesordnung übergehen. Dies geböte die Anerkennung rechtsstaatlicher Praxis. Doch die minutiöse Rekonstruktion und detaillierte juristische Bewertung der Anklage, des Verfahrens und des Urteils, die Otto Luchterhandt vornimmt, fördert ein klares Ergebnis zutage: Es handelt sich um einen Justizskandal. Als Handlanger der Präsidialverwaltung haben Generalstaatsanwaltschaft und Gerichte ein Strafverfahren fabriziert, in dessen Verlauf fundamentale Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit systematisch und zynisch verletzt worden sind. Aus dem Fall Jukos ist ein Fall Rußland geworden. Deshalb ist es geboten, die Kulissen des Meščanskij-Bezirksgerichts beiseite zu schieben und die dunklen Hintergründe und politischen Interessen auszuleuchten. Dem dient der Schwerpunkt in Osteuropa 7/2005. Der Fall Rußland ist ein Lehrstück über den Fall der Demokratie in Rußland. Die von Putin hoffähig gemachte „gelenkte Demokratie“ ist so weit fortgeschritten, daß nur noch die Lenkung übrig geblieben ist. Lev Gudkov und Boris Dubin zeigen anhand der öffentlichen Reaktion auf Chodorkovskijs Festnahme, auf die Kampagne in den Massenmedien und schließlich auf den Prozeß, daß sich das Verfahren nahtlos in die autoritäre Unterwerfung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einfügt, die Putin und seine Entourage aus Geheimdienstlern verfolgen. Die uninformierte, breite Masse der Bevölkerung dient der Staatsmacht dabei als zuverlässigste Stütze. Gleichzeitig sendet die Staatsmacht symbolische Botschaften der Abschreckung, der Einschüchterung, der Repression. Das ist die eigentliche Funktion dieses Prozesses und all der symbolischen Prozesse der vergangenen Jahre gegen Umweltschützer, Wissenschaftler, Künstler vom Schlage der Nikitins, Pas’kos, Sutjagins und der Mitarbeiter des Sacharov-Museums. In einem solchen System kommunizierender Röhren bedarf es einer Bildsprache, die klar ist, manipulativ, appellativ und vor allem fernsehtauglich. Dies erfordert eine sorgfältige Inszenierung: daher die Festnahme Chodorkovskijs durch martialisch maskierte Angehörige der Antiterroreinheit Al’fa und daher das Bild, das um die Welt ging: der Käfig mit den Angeklagten. Dieser Käfig trägt Bedeutungen. Er ist symbolische Gewalt. Die Semiotik ist grob. Sie transportiert das Ringen mit der Bestie. Ihre Wildheit wird gebrochen, ihr Wille zerstört. Die Gitterstäbe schützen die Menschen vor der allgegenwärtigen Gefahr, die von der Bestie ausgeht. Das ist die vordergründige Logik – ungeachtet aller Inhumanität, die diesem Bild eigen ist. Doch im Falle Rußlands ist eines anders: Gezähmt werden sollen diejenigen, die sich heute als Betrachter jenseits des Käfigs wähnen. Und am Ende sitzen alle im Käfig, selbst wenn er für manche ein bequemer oder gar ein goldener ist.