Editorial
Vergangenheit ist mehr als Geschichte
Mischa Gabowitsch, Il’ja Kalinin, Irina Prochorova, Manfred Sapper, Volker Weichsel, Anton Zolotov
Abstract in English
(Osteuropa 4-6/2005, S. 58)
Volltext
Gewalt spricht nicht, Gewalt hat kein Gesicht. Wer Aleksandr Dejnekas Bild /Sbityj as /auf der Titelseite betrachtet, wird Zweifel bekommen, ob diese Lehrsätze der modernen Gewaltsoziologie gültig sind. Das Bild /Das abgeschossene Fliegeras /von 1943 zeigt die Gewalt. Sie tritt in mehreren Gestalten auf und bewegt sich auf unterschiedlichen Zeitebenen. Sie war schon da und hat Vernichtung hinterlassen: verbrannte Erde, wohin das Auge blickt; es entdeckt nur einzelne Halme als letztes Indiz, daß hier mal Leben war. Ansonsten Ruinen: Wie liegt die Stadt so wüst. Land und Stadt als Lebensgrundlagen jeder Gesellschaft sind ausgelöscht. Dann ist da am Himmel eine Gewalt, die gerade wirkt und ein Flugzeug zum Absturz bringt. Doch die Gewalt, die noch kommt, unmittelbar, in den nächsten Sekunden, nimmt ein, raubt den Atem, schockiert: Ein Mensch, der noch ist – noch –, rast seinem Tod entgegen. Dynamik, Härte und expressiver Stil kennzeichnen das Werk von Aleksandr Dejneka (1899–1969). Er produzierte die Ikonographie eines totalitären Systems und wurde in der Sowjetunion als einer der wichtigsten Repräsentanten des Sozialistischen Realismus selbst zur Ikone. Doch in Zeiten des Krieges hält eine Bildsprache Einzug, die wenig gemein hat mit jener der ideologischen Vorgaben. Anders als auf Propagandaplakaten ist der abgeschossene deutsche Flieger nicht als „faschistisches Ungeheuer“ gezeichnet; er ähnelt den sozialistischen Helden anderer Bilder. An die Stelle der Utopie der technischen Machbarkeit rückt eine Maschine, von der nichts übrig bleibt als Rauch. Dejneka zeigt das Antlitz des Krieges: die Unausweichlichkeit der individuellen und der kollektiven Gewalt, er zeigt die Zerstörung, den Tod und die Vernichtung. In einer Hinsicht bleibt dieses Bild rätselhaft: Trotz größter Verwüstung fehlen die Opfer. Und es fehlen die Täter. Doch es ist gerade die Erfahrung individueller und kollektiver Gewalt, die von Person zu Person, in der Familie und in der Gesellschaft weitergegeben und interpretiert wird. Es sind Gewalterfahrungen, welche die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg prägen. Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ebben erinnerungspolitische Konflikte nicht ab, wenn die Angehörigen der sogenannten Erlebnisgeneration sterben. Dies zeigen in Deutschland die Debatten über die Verbrechen der Wehrmacht, die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nach dem Krieg sowie über den Luftkrieg gegen deutsche Städte. Dies ist kein spezifisch deutsches Phänomen infolge des Nationalsozialismus und des Holocausts. Dasselbe ist in den erinnerungspolitischen Konflikten etwa zwischen Polen und Rußland über den Umgang mit Katyn, wo die Rote Armee 1940 Tausende polnischer Offiziere ermordete, oder zwischen den baltischen Staaten und Rußland zu beobachten, wo im Frühjahr 2005 der Streit darüber eskalierte, ob der 9. Mai ein Tag der Befreiung oder ein Tag der Unfreiheit sei. Bei all dem geht es weniger um die Bewältigung der Vergangenheit als um Selbstbilder, Identitätsstiftung, gesellschaftliche Integration und politische Mobilisierung. Die Vergangenheit ist daher höchst lebendig. Sie dient primär der Bewältigung der Gegenwart. In seinem einführenden Beitrag zu diesem Heft weist Harald Welzer auf die kategoriale Differenz zwischen Geschichte und Erinnerung hin und betont, daß „Vergangenheit tatsächlich weniger Vergangenes enthält, als man annehmen möchte. Daß es so viele Konkurrenzen, Konflikte und Kämpfe um Vergangenheiten gibt, erklärt sich allein daraus. Wäre die Vergangenheit nur Geschichte, wäre sie gleichsam anästhesiert. Sie würde nicht schmerzen.“ Doch die Vergangenheit tut weh. Deshalb geht es im vorliegenden Heft nicht um einen neuen Blick auf den Zweiten Weltkrieg, nicht um Geschichte in ihrer Faktizität, sondern um eine Vergangenheit, die in Politik, Gesellschaft und Kultur, so etwa in der Musik, der Literatur und der darstellenden Kunst der Nachkriegszeit, die erinnerungspolitisch bis heute währt, verarbeitet und gedeutet wird. Aus Anlaß des 60. Jahrestags des Kriegsendes haben sich Osteuropa und die Moskauer Zeitschrift Neprikosnovennyj zapas zusammengetan, um diese Deutungen des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und Rußland in ihrem Gehalt und Wandel gegenüberzustellen und die nationalen Erinnerungskulturen zu analysieren. Der Grund, sich beim Vergleich der Erinnerungskulturen auf Rußland und Deutschland zu konzentrieren, liegt in der totalitären Erfahrung, die beide Länder in Form des Stalinismus und des Nationalsozialismus gemeinsam haben. Mit der Beschränkung auf Rußland und Deutschland ist der Verzicht verbunden, die Erinnerung an den Krieg in den Staaten Ostmittel- und Osteuropas systematisch zu untersuchen. Auch die gesonderte Behandlung der Erinnerung an Krieg in der DDR unterbleibt. All dies ist bereits an anderer Stelle geschehen. Eine Ausnahme gibt es: Der kontrastierende Blick, den Vladyslav Hrynevyč auf die „gespaltene Erinnerung“ in der Ukraine wirft, läßt die Spezifika Rußlands deutlicher hervortreten. Die Bedeutung des Stalinismus und des Nationalsozialismus für den Krieg und die sechs Nachkriegsjahrzehnte ist kaum zu überschätzen. Polen und die baltischen Staaten wurden nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem deutschen Überfall auf Polen Opfer der beiden totalitären Systeme. Und für Deutschland gilt: Der Zweite Weltkrieg ist ohne den Nationalsozialismus nicht denkbar, und erst die militärische Eroberung und Besetzung Ostmittel- und Südosteuropas sowie der westlichen Sowjetunion machten die bürokratisch-industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden möglich. Insofern ist die Frage, wie an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird, immer auch eine Frage nach dem Stellenwert, den der Holocaust in der Erinnerungskultur hat. Doch überwiegen ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten die Unterschiede. Rußland und Deutschland stehen in unterschiedlichen Erinnerungskontexten. Die Wasserscheide, an der sich der offizielle Erinnerungsstrom in Deutschland und Rußland trennt, bleibt der historische Fakt: Das nationalsozialistische Deutschland führte einen Angriffs- und Vernichtungskrieg, die Sowjetunion führte nach 1941 einen Verteidigungskrieg und trug unter den Alliierten die Hauptlast zur Niederschlagung des Nationalsozialismus. Diese fundamentale Differenz hat gewaltige Implikationen. Zugespitzt lautete sie in der Bundesrepublik Deutschland als dem Rechtsnachfolger des „Dritten Reichs“: /Nie wieder Krieg! /Nach einer ersten Phase der Verdrängung kristallisierte sich dieses Motto gemeinsam mit dem zweiten „kategorischen Imperativ“ /Nie wieder Auschwitz! /heraus, ehe beide ab den 1970er Jahren den – wie spätestens der Jugoslawienkrieg zeigte: keineswegs widerspruchsfreien – normativen Grundkonsens allen politischen Handelns in der Bundesrepublik bildeten. Die Zivilisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Wandel von der deutschen „Machtbesessenheit“ zur angeblichen „Machtvergessenheit“ gingen damit einher. In der Sowjetunion sicherte der Sieg im Krieg dem Staat und seinen Führern höchste Legitimität: Zugespitzt lautete dort die Devise, die in Rußland bis heute zur Rechtfertigung jedweden Kriegs dient: /Verteidigungskrieg um jeden Preis! /Dieser Preis war die Militarisierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, was zur Überdehnung der Großmacht und zu wirtschaftlichem Niedergang führte und so den Zusammenbruch der UdSSR beförderte. Und in dem gleißenden Licht, in das der Krieg als /Großer Vaterländischer Krieg /zuerst von Stalin, vor allem aber vom erstarrenden Sowjetregime unter Leonid Brežnev, gehüllt wurde, blieben die Schattenseiten des Sieges unaufgearbeitet: der Hitler-Stalin-Pakt, die Invaliden und Opfer zweier Diktaturen wie die sowjetischen Kriegsgefangenen, die aus deutschen Lagern befreit wurden, um sich in sowjetischen wiederzufinden, die Tabuisierung des Holocaust und die repressiven, unfreien Regimes, die in Ostmitteleuropa nach der Befreiung durch die Sowjetunion errichtet wurden. Die unaufgearbeiteten Verbrechen des Stalinismus werfen, wie Maria Ferretti zeigt, bis heute lange Schatten. Seit unter Putin der große Staatsscheinwerfer, der nur den Ruhm des Sieges beleuchtet und ins Sakrale erhöht, wieder auf höchste Stufe gestellt ist, drohen auch die kleinen Lichter der individuellen, familialen und gesellschaftlichen Erinnerung an ganz Unheroisches, aber um so Menschlicheres wieder zu verblassen: das Leiden, das Alltagsleben unter der Besatzung und die vielfach gebrochene /conditio humana in tempore belli/. Wie die Beiträge von Irina Pruss, Irina Ščerbakova sowie Žanna Kormina und Sergej Štyrkov zeigen, gibt es jedoch dieses kollektive Gedächtnis an den Krieg eigener Art. Dagegen ist der offizielle Diskurs, die /Meistererzählung /über den Krieg, nach einer vorübergehenden Erschütterung während der Perestrojka und der ersten Jahre des postsowjetischen Rußlands von Kontinuität geprägt. Der Mythos vom /Großen Vaterländischen Krieg/, wie wir ihm heute begegnen, ist ein Produkt der Brežnev-Zeit: Er hatte die Funktion, der schwindenden Legitimität der sowjetischen Ordnung eine neue Basis zu verschaffen. Wie Lev Gudkov demonstriert, hat die Erinnerung an den Krieg im Putinschen Rußland wieder die Funktion, die zentralisierte Herrschaft zu stabilisieren und Legitimation zu stiften. Dies fügt sich ein in eine allgemeine posttotalitäre Traditionalisierung von Kultur und Gesellschaft. Doch anders als noch vor dreißig Jahren findet sie im Rahmen einer Europäisierung und Universalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust statt. Erinnerungskonkurrenzen werden internationalisiert. Soll die neue Erinnerungslandschaft nicht einer Wüste gleichen, in der allenfalls diplomatische Worthülsen wachsen, bedarf es eines gesellschaftlichen Dialogs. Die /Klaus Mehnert-Gedächtnis-Stiftung/, Stuttgart, hat das aufwendige Unterfangen, die deutsch-russischen Sprachbarrieren zu überwinden, dankenswerterweise unterstützt. Dieses Heft ist das zweite gemeinsame Projekt von Osteuropa und Neprikosnovennyj zapas und erscheint gleichzeitig in einer deutschen und einer russischen Version. Möge es einen Beitrag zur Vertiefung des europäischen Dialogs leisten.