Titelbild Osteuropa 3/2005

Aus Osteuropa 3/2005

Die Wiederkehr des Raums – auch in der Osteuropakunde

Karl Schlögel

Abstract

In den Gesellschaftswissenschaften und der Geschichtswissenschaft lagen Raumverhältnisse jahrzehntelang im toten Winkel der Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit dem Raum stand unter Verdacht. In Deutschland war sie durch den faschistischen Diskurs kontaminiert. Erst seit den Umwälzungen von 1989 und der Globalisierung gewinnt der Raum als zentrale Dimension geschichtlicher Erfahrung an Aufmerksamkeit. Dabei geht es nicht um die Neuaufnahme eines Denkens, das geographische Determinismen propagierte und das Räumliche essentialisierte, sondern um die Einübung einer räumlich geschärften Wahrnehmung. Erst diese gestattet es, die Komplexität, die Orten und Räumen inhärent ist, zu erfassen. Sozial- oder strukturgeschichtliche Probleme, Phänomene wie Herrschaft, Machtbildung und Machtausübung lassen sich nur erklären, wenn die Dimension des Räumlichen mitgedacht wird. So verstanden wird aus dem vermeintlichen Bonmot „Rußland ist groß“ eine epistemische Weichenstellung nicht nur für die Osteuropäische Geschichte, sondern für alle Disziplinen, die sich mit Osteuropa beschäftigen.

(Osteuropa 3/2005, S. 5–17)