Titelbild Osteuropa 12/2005

Aus Osteuropa 12/2005

Editorial
Zeitspiegel

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 12/2005, S. 3–4)

Volltext

Historiker in eigener Sache zu sein, verbietet sich von selbst. Zu groß wäre die Gefahr, am Objektivitätsgebot zu scheitern und Dichtung und Wahrheit zu vermischen. Doch 80 Jahre Osteuropa sind kein Pappenstiel, denn Zeitschriften sind oft kurzlebig und kaum mehr als ein Indikator für Konjunkturen. Wenn eine Zeitschrift wie Osteuropa, die wissenschaftlichen und publizistischen Anforderungen gerecht zu werden hat, über eine Tradition von acht Jahrzehnten verfügt und seit über fünfzig Jahren Monat für Monat erscheint, um über die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen im Osten Europas aufzuklären, kann von Konjunktur keine Rede sein. Die Aufgabe einer solchen Zeitschrift ist es, zu informieren und dabei zu helfen, Information in Erkenntnis und Erkenntnis in gesichertes Wissen umzuwandeln und Orientierung zu schaffen. Sie ist Wissensspeicher und historische Quelle zugleich, die Zeugnis vom politischen und akademischen Rahmen ablegt, in dem Wissenschaft und Öffentlichkeit zueinander stehen. Dies ist die erste Spiegelung der Zeit. Wer sich in der Zeit bewegt, kommt nicht umhin anzuerkennen, daß zur Tradition auch Brüche und Verwerfungen gehören. Osteuropa ist unauflöslich in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts eingewoben, die untrennbar mit jener Ostmitteleuropas und Osteuropas verbunden ist. 1913 wurde in Berlin die Deutsche Gesellschaft zum Studium Rußlands gegründet, aus der die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde hervorging. Erst im Spätherbst 1925 konnte der Spiritus rector der Gesellschaft, der Osteuropahistoriker und Reichstagsabgeordnete Otto Hoetzsch das erste Heft von Osteuropa vorstellen. „Natürlich steht Rußland im Mittelpunkt dieser Arbeit, das Rußland im Umfang des Kaiserreichs, wie es 1914 bestand.“ Dieses programmatische „Wort zur Einführung“, das Hoetzsch in der ersten Ausgabe unter dem Titel „Deutschland und Rußland“ formulierte, ist ohne die im nationalkonservativen politischen Milieu vorherrschende Ablehnung des Versailler Staatensystems, die Skepsis gegenüber der Existenz Polens und ohne den Ausgleich mit der UdSSR im Geiste von Rapallo nicht zu verstehen. Nimmt man die Gründung der Gesellschaft als Herausgeberin der Zeitschrift zum Ausgangspunkt, so fallen in diese Periode der Erste Weltkrieg und der Zweite Weltkrieg, der bis heute seine Schatten wirft. Und Deutschland hat in dieser Zeit sechs politische Ordnungen erlebt: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das NS-Regime, das geteilte Deutschland und die Berliner Republik. Jeweils ist Osteuropa ein Spiegel der Zeit. In den zwanziger Jahren, als es an fundierter Berichterstattung über internationale Beziehungen und außenpolitisch relevante Fragen mangelte, waren die Aktualität, Validität und Solidität, mit der Osteuropa über die UdSSR und den Osten Europas berichtete, einzigartig. Berlin war das weltweit anerkannte Zentrum der Rußland- und Osteuropastudien, wozu auch diese Zeitschrift beitrug. Doch das Signum der Zeitschrift seit ihrer Weimarer Zeit, die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik, Erkenntnis und Interesse, Aufklärung und Handeln, sollte ab 1933 prekäre Konsequenzen haben. Dies belegen die historischen Studien im vorliegenden Heft. Gemeinsam ist diesen Skizzen, daß sie Biographisches mit Milieu- und Ereignisgeschichte verbinden. Am Schicksal des Individuums läßt sich, wie Karl Schlögel in seiner Studie über Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde vorführt, die – mitunter tragische – Eingebundenheit des Menschen in die Gesellschaft und die Wechselwirkung von Besonderem und Allgemeinem begreifen. Klaus Mehnert, der bereits unter Hoetzsch zur Zeitschrift stieß und später zu einem der bekanntesten deutschen Osteuropaexperten avancieren sollte, war in den 1920er Jahren von der Dynamik in der So­wjetunion fasziniert. Nach dem Machtantritt der NSDAP galt er als „Salonbolschewist“ und ging ins Exil, Otto Hoetzsch wurde in die innere Emigration getrieben. Der Versuch, die Zeitschrift über Wasser zu halten, kostete einen hohen Preis. Dies zeigt Dietrich Beyrau, der als erster jene Dokumente gesichtet hat, die aus dem Auswärtigen Amt stammen und seit 1945 im Moskauer Sonderarchiv liegen. Der damalige Chefredakteur Werner Markert, der sich in den 1950er Jahren beim Aufbau der Osteuropaforschung unbestreitbare Verdienste erwarb, versuchte es mit Anpassung an die nationalsozialistischen Machthaber. Das konnte nicht ohne Kompromittierung gelingen. Doch die eigentliche Tragödie traf andere. Mehrere Schüler von Otto Hoetzsch, die an Osteuropa mitarbeiteten, fielen dem kriminellen nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer. Stellvertretend sei an Wolfgang Leppmann erinnert. Er wurde in Auschwitz umgebracht. Auch dies ist ein Teil der Geschichte von Osteuropa. Angehörige seiner Generation bauten nach dem Krieg die Osteuropaforschung wieder auf. Der Kalte Krieg begünstigte es, daß die individuelle Belastung durch die Verstrickung in den Nationalsozialismus zugunsten der Beschäftigung mit der drohenden sowjetischen Expansion verdrängt werden konnte. Hier brachte die Entspannungspolitik auch wissenschaftspolitisch und methodisch eine Zäsur. Die Fokussierung dieses Heftes auf die Phase von 1925 bis in die 1970er Jahre hat ihren Preis. Zwar haben sich der Charakter und die Funktion von Osteuropa in den letzten beiden Jahrzehnten, insbesondere seit dem Ende des Ost-West-Konflikts verändert. Und doch schweigen die Historiker von der jüngsten Vergangenheit, die mit dem jahrzehntelangen Wirken insbesondere von Horst Günther, Alexander Steininger, Jutta Unser und Karl-Eugen Wädekin verbunden ist, und sie schweigen auch von der Gegenwart. Statt dessen kommen drei Beobachter zu Wort. Diese Intermezzi sind mehr als launige Zwischenspiele im ernsten Stoff. Sie laden dazu ein, den Blick über den Tellerrand zu heben und den eigenen Horizont zu erweitern. Der Historiker und Erziehungswissenschaftler Oskar Anweiler, dessen erster Aufsatz in Osteuropa 1955 erschien, verknüpft Lebenserfahrung und Welterfahrung, er repräsentiert den Ost-West-Dialog ebenso wie komparatives Denken. Bodo von Greiff, Chefredakteur des Leviathan, der wie Osteuropa der Interdisziplinarität verpflichtet ist, treibt der Strukturwandel in Wissenschaft und Öffentlichkeit um, er bietet dem Zeitgeist der Spezialisierung, Selbstbiotopisierung und angelsächsischen Standardisierung die Stirn. Und Katharina Raabe, Suhrkamp-Lektorin für osteuropäische Literaturen, enthüllt die Beschwernisse, die nicht nur auf dem Buchmarkt mit dem Begriff „Osteuropa“ verbunden sind, verrät, was das Spezifische an Osteuropa ist und worin der Reiz osteuropäischer Literaturen liegt, und sie schreibt uns ins Stammbuch, wo Osteuropa Schwächen hat. Besten Dank! Bleiben Sie uns dennoch gewogen.