Editorial
Achtung, Religion!
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Agathe Gebert
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(Osteuropa 4/2004, S. 4858)
Volltext
Ich betrachte die Religionsfreiheit als Teil der allgemeinen Gewissensfreiheit. Lebte ich in einem klerikalen Staat, würde ich wahrscheinlich für die Verteidigung des Atheismus sowie verfolgter Andersgläubiger und Häretiker eintreten. Andrej D. Sacharov 'Ostorožno, religija!'hieß eine Ausstellung, die am 14. Januar 2003 im Moskauer Andrej-Sacharov-Museum eröffnet wurde. Sie zeigte Arbeiten von 40 Künstlern aus Rußland und dem Ausland. Künstlerisch bot sie wenig Neues. Der Soz-Art-Künstler Aleksandr Kosolapov aus New York spielte wie bereits seit Jahren mit dem Markenzeichen von Coca-Cola: Christus vor rotem Hintergrund, darüber der Schriftzug der Marke und darunter „This is my blood“. Andere drapierten bunte Lämpchen um die Abkürzung ROK (Russische Orthodoxe Kirche). Und auf Wodka-Flaschen waren Kuppeln zu sehen – nicht gerade eine sensationelle Anspielung auf den Gemeinplatz, daß das Moskauer Patriarchat zu El’cins Zeiten seine finanziellen Kalamitäten durch den Verkauf steuerfrei importierter Zigaretten und Alkoholika aufbesserte. Vier Tage später war es mit der Ausstellung vorbei: Sechs junge Männer zerstörten die Exponate, hinterließen Graffiti wie „Dämonen“ oder „Ihr haßt die Orthodoxie, Verdammte!“. Sie wurden festgenommen, gaben an, orthodoxe Gläubige zu sein, die sich durch die Ausstellung in ihrem religiösen Empfinden verletzt gefühlt hätten. Es war ein Auftakt bloß. Knapp ein Jahr nach dem Moskauer Bildersturm dringt dieselbe Kunde aus Sankt Petersburg. Das Szenario ist identisch: Am 17. Februar 2004 eröffnet die kommerzielle Galerie „S.P.A.S.“ eine Ausstellung mit den Kosmopoliti-schen Ikonen des Künstlers Oleg Januševskij. In den vergangenen Jahren waren sie mehrfach in deutschen Kirchen zu sehen. Seine Arbeiten stellen eine Synthese der Pop Art mit russischen Ikonen dar. Vier Tage später ist es mit der Freiheit der Kunst vorbei. Zehn maskierte Männer in Kampfanzügen demolieren die Exponate und hinterlassen im Gästebuch den Eintrag /Pravoslavnaja molodež’ (Orthodoxe Jugend). Ob es diese Organisation gibt, sei dahingestellt. Letztlich ist das nebensächlich. Wichtig ist, daß es heute in Rußland einen politischen und gesellschaftlichen Hintergrund gibt, vor dem derartige Verantwortungsbezeugungen Plausibilität gewinnen und Akte „orthodoxen Talibanentums“, wie es der Priester und Menschenrechtler Gleb Jakunin nennt, auf breite Unterstützung zählen können. In dieser Hinsicht ist der Fall, der sich aus der Ausstellung Ostorožno, religija! entwickelt hat, ein Lehrstück. Wenige Tage nach der Festnahme der Täter äußerte Metropolit Kirill von Smolensk und Kaliningrad, seines Zeichens verantwortlich für die Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats und als künftiges Kirchenoberhaupt im Gespräch, Verständnis für die Täter. Die Ausstellung sei eine direkte Provokation gewesen, die zu Spannungen in der Gesellschaft führen müsse. Härtere Bandagen legte die seit 1994 agierende Organisation Za nravstvennoe vozroždenie Otečestva (Für eine moralische Wiedergeburt des Vaterlandes) unter Erzpriester Aleksandr Šargunov an. Sie unterstützte explizit die Zerschlagung der Ausstellung und führt seither eine Kampagne gegen das Museum. Nicht ohne Erfolg: Am 12. Februar 2003 verabschiedete die rußländische Staatsduma einen Entschließungsantrag an den Generalstaatsanwalt mit der Bitte um „unverzügliche Prüfung hinsichtlich der Entfachung religiösen Hasses durch die Organisatoren der Ausstellung "Achtung, Religion!“. Nichts leichter als das. Ende Februar 2003 leitete die Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Strafverfahren ein. Im August 2003 kommt es endgültig zur Umkehrung von Tätern und Opfern. Das Ermittlungsverfahren gegen die „religiösen“ Randalierer wird eingestellt. Die vom Sacharov-Museum eingelegte Kassationsklage gegen das Handeln des Richters wird – rechtswidrig – nicht angenommen. Ende des Jahres kommt es noch besser. Nun stehen der Leiter des Sacharov-Museums, Jurij Samodurov, seine Mitarbeiterin Ljudmila Vasil’evskaja und die Künstlerin Anna Al’čuk unter Anklage. Vorgeworfen wird den Angeklagten die gemeinsame Vorbereitung und Durchführung […] einer Ausstellung, deren konzeptuelle Ausrichtung […] klar in einer erniedrigenden und beleidigenden Haltung gegenüber der christlichen Religion im ganzen und der orthodoxen Religion und der Russischen Orthodoxen Kirche im besonderen sowie den religiösen Symbolen der orthodoxen Gläubigen besteht. „In Ausführung ihrer kriminellen Absicht“, so die Anklageschrift nach § 282 des Strafgesetzbuchs der Rußländischen Föderation, hätten die Museumsmitarbeiter und die Künstlerin Anna Al’čuk auf dem Wege der öffentlichen Zurschaustellung in den Räumen des Museums […] speziell ausgewählte Exponate [gezeigt], die Haß und Feindseligkeit wecken und auch die Würde von Personen in ihrem Verhältnis […] zum orthodoxen Christentum und der Russischen Orthodoxen Kirche im besonderen erniedrigen. Im Falle einer Verurteilung droht ihnen zwei Jahre Haft. Eine im Auftrag der Staatsanwaltschaft erstellte 62seitige Expertise bescheinigt der Ausstellung den Charakter eines Verbrechens. Dieses Verfahren wirft fundamentale Fragen über die Geltung der Verfassung, den Charakter des rußländischen Staates und die Freiheit der Kunst auf. Die Verfassung der Rußländischen Föderation von 1993 ist eindeutig. Artikel 14 regelt unmißverständlich: „Die Rußländische Föderation ist ein weltlicher Staat. Keine Religion darf als staatliche oder verbindliche Religion festgelegt werden.“ Das heißt, Kirche und Staat sind getrennt, keine Religion darf Staatsreligion sein. Und in Artikel 44 wird die Freiheit künstlerischer Tätigkeit garantiert. Ist der Fall insofern ein Lackmustext, als sich hieran eine Verschiebung des Verhältnisses von Staat und Religion unter Präsident Putin ablesen läßt? Osteuropa nimmt den Fall zum Anlaß, in einem breiten Fokus Erkundungen über die Orthodoxie in Rußland anzustellen: Zunächst dokumentieren wir Auszüge aus der von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen Expertise der Gutachter über die Ausstellung Ostorožno, religija!. Angesichts der Tragweite des Falles haben wir uns entschlossen, dies in Zusammenarbeit mit der Berliner Zeitschrift Lettre international zu tun. Komplettiert wird dies durch drei Aufsätze, die einzelne Aspekte des Verhältnisses von Staat und Religion in Rußland systematisch untersuchen. Insbesondere die Beiträge von Aleksandr Soldatov und Sergej Mozgovoj zeigen: Im Widerspruch zur Verfassung ist die Russische Orthodoxe Kirche auf dem besten Wege, zu einer Staatskirche zu werden. In der Armee und den Machtministerien sind Ansätze einer orthodoxen Klerikalisierung zu beobachten. Die ganze Sprengkraft dieser Entwicklung wird deutlich, führt man sich vor Augen, daß dies im multinationalen Rußland nicht nur eine religionspolitische, sondern eine nationalitätenpolitische Frage ist. Daß es in der Tradition der Russischen Orthodoxen Kirche auch andere Strömungen gibt, macht der Aufsatz von Aleksandr Kyrležev deutlich. Es ist ein Zufall, daß wir ausgerechnet in dieser Ausgabe von Osteuropa im Anschluß an den Schwerpunkt durch die Dokumentation der Verleihung des Aleksandr-Men’-Preises an den langjährigen Chefredakteur von Osteuropa, Alexander Steininger, auch eines orthodoxen Priesters gedenken, der aus seinem Glauben ein anderes Verständnis von orthodoxer Lebensführung ableitete als die eifernden Pogromčiki in Moskau oder Petersburg. Aleksandr Men’ stand für bedingungslose Nächstenliebe, Toleranz und für Ökumene. Wahrscheinlich war er seinen Mördern nicht zuletzt deshalb ein Dorn im Auge.
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