Titelbild Osteuropa 3/2004

Aus Osteuropa 3/2004

Eine Welt zwischen Wissenschaft und Kunst
Lemberger Kneipen der 1930er Jahre

Bogusław Bakuła

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Abstract

Das städtische Leben im Lemberg der Zwischenkriegszeit war legendär. Restaurants, Cafés und Hotels erfreuten sich großer Beliebtheit in der Polnischen Republik und über ihre Grenzen hinaus. Aus der Kneipen-Perspektive von Szkocka, Atlas, Pod Gwiazdką gesehen erscheint Lemberg als ein besonderer Texttyp mit eigener semiotischer Umrahmung, inneren Kompositionsregeln, Hierarchie und Wertesystemen. Der Lemberger Text ist ein Mythos von großem kulturschöpferischem Wert.

(Osteuropa 3/2004, S. 3–15)

Volltext

Ist man bereit, der noch heute so modischen Optik zu folgen und die Kultur einer Stadt aus der Sicht des Baudelaireschen Flaneurs, des Schlenderers und Vagabunden zu betrachten, der all seine offiziellen und inoffiziellen Räume durchstreift, so bietet Lemberg uns die Gelegenheit zu einer einmaligen Wanderung in die Vergangenheit. Das hat zweifelsohne mit dem Charakter dieser Stadt zu tun, der, im historischen Reichtum wurzelnd, weder Hochnäsigkeit noch Ressentiment erlaubte. Das polnische Element vermochte hier einst ein seltsames Amalgam mit anderen Ethnien, der ukrainischen, der deutschen, der jüdischen und armenischen, zu bilden. Es erübrigt sich nahezu, von Lemberg als einer Art Palimpsest zu sprechen. Darüber haben bereits Józef Wittlin, Ostap Tarnavsky, Stanisław Lem, Andrzej Chciuk und viele andere geschrieben – Menschen, die aus Lemberg und Umgebung stammen oder die als Ankömmlinge in dieser Stadt plötzliche Begeisterung, manchmal aber auch Zurückweisung und Enttäuschung erfahren hatten. Andere wiederum stellen Lemberg als eine Art Schiff dar, was von einer mutigen Phantasie zeugt, wenn man bedenkt, daß Lemberg seit jeher mit Wasser auf schlechtem Fuß stand. Heute erweckt es den Eindruck, eine der vielen, in Vergessenheit geratenen Städte des alten Mitteleuropa zu sein: eine Provinzstadt irgendwo im Abseits. Zum Teil existiert das heutige Lemberg gegen seine eigene Geschichte. Undeutlich zeichnet es sich in bruchstückhaften beziehungsweise bewußt verfälschten Bildern ab. In den zahlreichen, dieser Stadt gewidmeten Romanen, Essays und Gedichten aus der Feder zeitgenössischer ukrainischer Intellektueller tritt die Tragik einer solchen Existenz jedoch nicht zum Vorschein. Das heutige Lemberg sticht, seinen einstigen Glanz vage andeutend, durch eine Eigenschaft hervor: Diese Stadt erweckt beim Betrachter den Eindruck, zugleich einfach und schwer erfaßbar zu sein. Manchmal etwas ungefällig, abweisend und wiederum tief vergeistigt, scheint sie in eine ihr allein bekannte, über den heutigen Tag hinaus weisende Richtung zu streben. Dabei wehrt sie keineswegs den Ankömmling ab. Im Gegenteil, allmählich gestattet sie ihm, historische Verkrustungen und mentale Schranken zu passieren und zu ihrem verborgenen Reichtum vorzudringen. Die Schönheit einer Stadt erkennt man von der Straße aus, ihren Geschmack aber im Lokal. Und so verspürte ich die Lust, diesen Geschmack durch die Legende, den Mythos zu erspüren und mich aus der Perspektive der Lemberger Kneipen der Vergangenheit dieser Stadt zu nähern. Geht das denn überhaupt? Sicherlich bloß theoretisch. Solche Begrifflichkeiten wie „der Geschmack einer Legende (oder eines Mythos)“ haben aber ihren Sinn, wenn man bedenkt, daß die Stadt ein Palimpsest ist, aus dem die Zeit nicht alles zu tilgen vermag: Es bleiben Gänge, Fassaden, Tore, in denen sich immer noch die Gerüche, das Geschrei, die Gesänge, die Liebe, die Angst und der Haß vergangener Zeiten herumtreiben. Alte Mauern und Höfe bergen in sich nicht nur Modergerüche, sondern auch ein spezifisches Klima, das sich inmitten moderner Glas- und Betonbauten nicht halten kann. Wenn selbst Ruinen so etwas wie ein Gedächtnis innewohnen kann, so erscheint es hier um so verlockender, das Geheimnis eines lebenden Organismus zu ergründen – eines Organismus, der seine Säfte aus der Vergangenheit, aus irgendeiner memoria(e) urbis bezieht. Aber je attraktiver und schmackhafter das Thema wurde, um so mehr gezinkte Karten kamen zum Vorschein. Es erwies sich, daß über Lemberger Kneipen schon viel geschrieben worden war und daß Orte wie „Szkocka“, „Atlas“ oder „Żorz“ seit langem ihre treuen Barden besaßen. Die Geschichte ist also schon erzählt, nicht selten im „Bałak“, jener berühmten Lemberger Mundart, die heute in der polnischen Literatur nur zum Zweck der Stilisierung ihre Anwendung findet. Durfte man da keine Enttäuschung empfinden? Aber da wurde mir klar, daß die Menge der Erzählungen nicht zu neuer Güte wird, daß sich die einzelnen Erzähler im Grunde wiederholen, auch wenn sich die Reihenfolge der Einzelheiten, der Erzählstil und die Auswahl der Anekdoten ändern. Die zur Fabel erstarrte Geschichte der Lemberger Lokale ist längst zu einem einzigartigen Mythos, gar zu einem einzigartigen „Lemberger Text“ geworden. Gefärbt durch den Plauderton und die lokale Mundart, befindet sich die Geschichte von der Lemberger Kneipe immer noch im Bereich des ursprünglichen Mythos. Und so begriff ich, daß es nicht meine Aufgabe ist, eine neue Geschichte zu erzählen, sondern durch die wiederaufgenommene Erzählung am Mythos, vielmehr an einer mythologisierten Geschichte teilzuhaben, die sich – bei Wahrung der grundlegenden Struktur der Ereignisse –, nur durch die Farbigkeit ihrer Bilder unterscheidet, seien sie polnischen, ukrainischen, deutschen oder jüdischen Ursprungs. Warum ich auf meiner Suche nach der memoria(e) urbis die Kneipe und nicht zum Beispiel die Kirche ausgewählt habe? Wieso ein profanum und nicht ein sacrum, wo doch Lemberg dafür berühmt war, daß es in ihm ebenso viele Gotteshäuser gab wie Konfessionen und ethnische Gruppen in der alten res publica? Wohl deswegen, weil bei der Anthropologie eines so besonderen Ortes wie eines öffentlichen Lokals die Tatsache schwer zu übersehen ist, daß es seinem Wesen nach kosmopolitisch, universal ist, daß es durch seinen besonderen Raum eine karnevaleske Gemeinschaft formt, in der die politischen, religiösen und sogar gesellschaftlichen Unterschiede schwinden. Die Polen, Ukrainer, Juden, Armenier und Deutschen beteten in ihren Gotteshäusern getrennt, aber in den Kneipen verbrachten sie die Zeit gemeinsam, wenigstens dort haben sie einander toleriert. Im übrigen duldet der Flaneurismus als Welterfahrung durch Wanderschaft auf den Fährten guten Wodkas, kulinarischer Genüsse und des Kabaretts keinen Chauvinismus und keine Absonderung. Die Wanderung des Schlenderers integriert die Stadt auf eine besondere Weise, läßt sie zu einer Gesamtheit werden, unabhängig davon, wie viele innere, vergangene und aktuelle Einteilungen es in ihr gibt. Noch eine Anmerkung: Den Ausdruck „Kneipe“ benutze ich in dem Sinn, wie ihn der Stammgast diesem Wort zuschreiben würde, der hier eine bestimmte Freiheit des Daseins, eine Entsakralisierung und den Bruch steifer gesellschaftlicher Barrieren vorfindet. Die Kneipe ist ein Raum jenseits von Familie, Büro und Staat. Aber vergessen wir nicht, Kneipe, insbesondere die Künstlerkneipe, ist auch Theater: Das ganz tief verwurzelte Hauptmotiv ist der angeborene Hang des Menschen zum Theater und Schauspiel, das innere Bedürfnis, eine Rolle zu spielen. […] Je mehr man die Menschen und die Szenerie kennt, umso interessanter und interessanter ist die Vorstellung – schrieb ein verbürgter Kenner der Thematik, Kazimierz Schleyen, in seinen Lemberger Plaudereien. Das Phänomen der Lemberger „Kneipe“ Den Ruf einer Stadt mit vorzüglichen Cafés und Restaurants erwarb Lemberg schon zu Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie. Übrigens ist es für dieses historische Gebilde bezeichnend, daß zahlreiche Städte der berühmten k.u.k. Monarchie – so z. B. Kraków, Zakopane, Lemberg – dank ihrer Lokalitäten eigene und überregionale Legenden errangen. Nichts dergleichen hat sich in den übrigen Teilen der alten Republik ereignet. Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert entstand in Lemberg ein besonderer Typ von Lokalen, deren Kunden Künstler verschiedener Profession, verschiedenen Alters und verschiedener Bedeutung waren. Solche Orte hatten ihre zahlreichen Liebhaber, zogen aber auch Snobs, manchmal gar die Halbwelt an. Es gab Künstlerkneipen, Malerkneipen, Literaten- und Musikerlokale. Auch gab es Lokale, in die die wissenschaftlichen Kreise gingen: ein heute unvorstellbares Phänomen. Das Leben spielte sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab: zu Hause, auf der Straße und im Lokal. Letzteres war für den Lemberger etwas Unverzichtbares, wenn er am künstlerischen Leben der Stadt teilnehmen wollte. Das war der Lebensstil der Lemberger Metropole, der Stil der inneren Kultur. Es gab zwar Lokale für einzelne Berufsstände und Nationalitäten. Die eleganten jüdischen Damen fanden Gefallen am literarischen Roma, die ukrainischen Nationalisten besuchten das Lokal in der Narodna Hostynyca, die Armenier versammelten sich in den Cafés hinter dem Alten Markt, die Mehrzahl der Lemberger Lokale trennte das Publikum jedoch nach materiellem Zensus: Die Nationalität hatte weniger Bedeutung als der Inhalt der Brieftasche. Am fin de siècle erfreuten sich eines stetig wachsenden Bekanntheitsgrades die Etablissements Żorz, Café de la Paix, Kryształowa, Europejska, Imperial, die Cafés von Schneider, Zaleski, das Kasyno Literackie. Das Café, das Restaurant oder auch der gewöhnliche Ausschank in der Vorstadt, sie waren in den dreißiger Jahren exterritoriale Gebiete und unterschieden sich damit von der Universität, wo scharfe politische Trennungen herrschten und das gegen jüdische Studenten gerichtete „Schulbankghetto“ einen Schandfleck auf der weißen Weste der Stadt darstellte. Darum gerade war in einem so gespaltenen und unterschiedlichen Milieu wie Lemberg die integrierende und übernationale Position der Kneipe im besten Wortsinn eine Möglichkeit, vielen Konflikten zu entgehen. Gleichzeitig trug sie dazu bei, den Lemberger Mythos zu bereichern, der wie jeder aus Legenden und Fakten bestand, die von verschiedensten Auslegungen überwuchert waren. Jeder Stadtteil von Lemberg, und es gab hiervon vier – Krakowska, Halicka, Żółkiewska und Łyczakowska – besaß seine besonderen Köstlichkeiten, Spezialitäten und Getränkearten. Auf dem Altmarkt regierten die jüdischen Restaurantbesitzer Atlas und Naftuła sowie die Weinimporteure, die berühmten Didolić und Prpić, auch Stadtmüller. Am Stadtrand erlangten ein gewisser Swystun und die Weinhandlung von Perontoni Berühmtheit. Die Jugend besuchte kleine Kneipen und einfache Wirtschaften. Davon gab es eine Unzahl, und viele erfreuten sich eines zweifelhaften Rufs, weswegen sie auch von Bohémiens und Flaneuren besucht wurden, die auf Sensation, Exotik und starke Eindrücke aus waren. Zur Lemberger Kneipe der dreißiger Jahre gehört also, daß sie in einem plurinationalen Umfeld eine integrierende Rolle, aber auch die eines Wettkampfplatzes spielen konnte, auf dem die Rivalitäten der einzelnen Milieus und Generationen offen zu Tage traten. In der Kneipe, vor allem in der Kneipe der Künstler und Gelehrten, konnte das gesellschaftliche System mit all seinen Schichtungen (die insbesondere während offizieller Gala-Abende, politischer Veranstaltungen, Militärparaden sichtbar wurden) plötzlich außer Kraft treten. Aristokraten und Bauern, Kommunisten und Nationalisten, Bigotte und Gottlose konnten hier an einem Erlebnis teilhaben, das an einem anderen Ort keine Chance gehabt hätte, sich zu ereignen. In Lemberg überfällt mich die Legende dreier besonderer Plätze, an denen Kunst, Wissen, Politik und Gastronomie in einer überaus engen Beziehung zueinander standen, was einen ungewöhnlichen Effekt ergab, der das kurze Leben dieser Orte überdauert sollte: Szkocka, Atlas und Pod Gwiazdką. Der sie einst umgebende genius loci ist ein kapriziöser, scheuer Geist, dessen Spuren sich in Lemberg nicht leicht finden lassen. Um so mehr wächst der Hang zum Mythos, der ein literarisches Behandeln der Materie erlaubt. Das Buch der Gelehrten Das erste Abenteuer hat mit dem Mythos des Cafés mit dem Namen Szkocka zu tun. Die Geschichte steht in Zusammenhang mit der Raumtheorie von Stefan Banach und den im sogenannten Schottischen Buch angegebenen Möglichkeiten ihrer Lösung. In der Szkocka saßen Tage und Nächte lang, oft bis zum frühen Morgen, Menschen zusammen, die man an einem anderen Platz unmöglich hätte versammeln können. Am Fenster eine Gruppe, die leidenschaftlich über einer mit Zeichen bedeckten Serviette diskutierte – die Mathematiker. Dies war der Tisch von Stefan Banach, Hugo Steinhaus, Stanisław Ulam, Władysław Orlicz, Antoni Łomnicki, Stanisław Mazur. Der jüngste von ihnen, Banach, mathematisches Genie und Autodidakt, genoß das höchste Ansehen. In dem stickigen Saal kamen die Grundlagen der modernen Mathematik zur Welt, bei der die Raumtheorie von Banach eine Schlüsselrolle spielt. Als Stanisław Ulam die amerikanische Wasserstoffbombe mitentwickelte, stützte er sich auf Ansätze, die eben hier formuliert worden waren (und die zu kühn waren, als daß die damaligen akademischen Gremien sie hätten akzeptieren können). Beflügelt durch große Mengen schwarzen Kaffee und guten Wodka, zeichnete und rechnete man hier auf Servietten und den Marmorplatten der kleinen Tische. Als es eines Tages nicht gelang, ein Problem zu lösen, trug die Bedienung die mit Kreide beschriebenen Tischplatten in die Speisekammer und am nächsten Tag ging man, bei schon besserer Verfassung, wieder an die Lösung. Nicht selten hat eine eifrige Putzfrau die mit Kreide beschmierten Tische gesäubert und dabei insgeheim die schmuddeligen Kunden verflucht. Auf diese Weise kam so manche Theorie ums Leben. Aber es wurden neue erfunden. Banach selbst hat die meisten seiner Einfälle auf Servietten notiert. Später hat er sie verloren oder vernichtet. Aus einigen geretteten entstanden wertvolle, obwohl bruchstückhafte Arbeiten seiner Schüler. Tomasz Zielinski, Besitzer der Szkocka, verfiel auf den Gedanken, die gestellten Theorien, Aufgaben und Aporien aufzuschreiben, damit sie nicht verloren gehen. So rettete er die wertvollen Marmorplatten, die unter dem Einfluß von Kreide und Wasser Schaden nahmen. So entstand das in der Geschichte der Mathematik einmalige Schottische Buch, eine geheimnisvolle und bis heute nicht entschlüsselte Aufzeichnung vom Schicksal unserer Welt und der an sie grenzenden Welten. Für die Lösung eines Problems pflegten die Lemberger Mathematiker lustige Preise zu verleihen. Für die Lösung des „Problems Nr. 153“, beispielsweise, das 1936 von Stanisław Mazur gestellt worden war, sollte der Preis – nach einer Idee von Banach – eine lebende Gans sein. Erst 46 Jahre später erhielt sie der schwedische Mathematiker Per Enflö, als das in der Kriegszeit außer Land gebrachte Buch einigen wenigen Mathematikern zugänglich gemacht wurde, die damit etwas anfangen konnten. Es entstand eine Tradition, die von den größten Autoritäten auf diesem Gebiet fortgeführt wird. Die fleißigen Amerikaner haben über elftausend wichtige wissenschaftliche Arbeiten gezählt, die im Titel die Formulierung „Banach-Theorie“ tragen. Aber was bringt das schon, wenn die Geheimnisse des Schottischen Buches nur eine Handvoll eingeweihter Genies versteht. Darum auch wurden bisher nicht viele dieser lebenden Gänse verliehen. Viel weniger als Nobelpreise. Die Sammlung der Aufgaben beginnt mit einer Eintragung von Banach aus dem Jahr 1936 und endet mit dem Problem, das im Mai 1941 von Steinhaus formuliert wurde. Bis heute lockt das Schottische Buch mit seinen Geheimnissen, die gewiß die Rätsel des zweiten Bands der Poetik des Aristoteles übersteigen, welche so geschickt in Der Name der Rose von Umberto Eco erzählt werden. Gibt es ein besseres Thema für den postmodernen Roman? Das Buch befindet sich an einem geheimnisvollen Platz auf der anderen Hälfte der Erdkugel, wird behütet, weil es Theorien und Lösungen enthält, deren Kenntnis die Türen der Herrschaft öffnet. Es ist ein Buch der Macht, die heute das mathematische Wissen vom Wesen der Welt verleiht. Also ist noch alles offen. Am anderen Ende des Saals entbrennt ein kleiner Streit. Ein mächtiger Mann mit weißem Bart diskutiert voller Eifer mit drei Gegnern. Das ist Kazimierz Twardowski, Begründer der Lemberger-Warschauer Philosophie-Schule. Ein großer Philosoph, Lehrer, eine moralische Autorität. Der große, schlanke Mann ihm gegenüber ist Kotarbinski, daneben der kleinere mit Schnurrbart, das ist Władysław Tatarkiewicz, und der, der das Gemüt des Meisters so erregt hat, das ist unser guter Bekannter, der Autor des Literarischen Kunstwerks, Roman Ingarden. Am Gespräch nehmen auch die jüngeren, künftig großen Philosophen wie Kazimierz Ajdukiewicz, aber auch die Studenten teil, die schon zum Tisch zugelassen sind, wie Izydora Dąbska oder Władysław Witwicki. Twardowski hat hier seine wissenschaftlichen Theorien verfaßt. In der Szkocka hat ihn und Banach Wiland Quine besucht. Twardowskis Schule hat die Kontinuität der modernen polnischen Philosophie gesichert und (durch die Theorien von T. Kotarbinski, R. Ingarden, W. Tatarkiewicz, K. Ajdukiewicz, Stanisław Ossowski, Alfred Tarski) einen wichtigen Einfluß auf die europäische Philosophie ausgeübt. Ein magischer Ort, ein starker genius loci. Wie viele bedeutende Menschen sind in der Szkocka gewesen? Heute ist davon keine Spur übriggeblieben. Und dabei könnte selbst ein rein ukrainisches Lemberg mit Stolz die ruhmreichen Erinnerungen seiner Vergangenheit präsentieren, seinen historischen Beitrag zur Geschichte der Weltkultur. Dieses Milieu war international. An den Debatten, Scherzen und Gelagen beteiligten sich neben Polen auch Deutsche und Juden, sicherlich auch Ukrainer. Ende der dreißiger Jahre war von Neumann, der Erfinder der Wasserstoffbombe, ein paar Mal in der Szkocka und bot vor Kriegsausbruch allen Mathematikern die Ausreise nach Amerika an. Einige, Ulam, Steinhaus, Infeld, sind ausgereist. Stefan Banach, der größte polnische Gelehrte des 20. Jahrhunderts, blieb, starb 1946 in Lemberg und ist auf dem Łyczakowski-Friedhof begraben. Das Schottische Buch bleibt bis heute sein größtes Geheimnis. Nur er besaß alle Schlüssel zu dem, was in ihm aufgezeichnet wurde. Der in Polen fast unbekannte Stefan Banach ist einer der Herren der Zukunft. Lachwände Wenn der Kenner der Lemberger Lokale, sagen wir, im Jahre 1936 die Szkocka verläßt und sich über die Akademie-Straße in Richtung Żorz und Altmarkt begibt, wird er wiederholt in die Versuchung geführt, jenen Reizen zu erliegen, die auf den Connaisseur eine gelungene Mischung aus Gastronomie und Kunst ausüben kann. Wenn er aber weiß, wohin er will, wird er auch hinkommen, und sei es mit dem Fiaker. Wenn er ein Liebhaber von Literatur, Malerei und Musik ist, ein Freund von Witz und gutem Wodka, dann wird er gewiß zum Atlas auf dem Altstädter Ring, zur Nummer 45, eilen. Man nannte es die „Urkneipe“. Der Name des Lokals stammt vom Nachnamen des jüdischen Pächters, M. L. Atlas, des angeblichen Erfinders der vorzüglichen Schnäpse Maciczna (beliebtes Getränk der Lemberger Marktweiber) und Atlasówka (Getränk von Literaten, aber auch von Marktfrauen). Mit der Zeit übernahm der Schwiegersohn das Geschäft, Herr Edzio Tarlerski, ein bedeutender Spezialist für Obstler, Erfinder von zwölf Schnapsarten, darunter der berühmten Nemówka. Der emigrierte Dichter Andrzej Chciuk hat einmal behauptet, das Lemberger „Atlas“ habe verschiedene Künstler und Exzentriker, Snobs und Literaten, die junge Bohème und Revolutionäre, Intellektuelle und Staatsdiener, Originale und Phantasten jeglicher Couleur angezogen, und daß sie alle hier stets miteinander ausgekommen, und zwar gut ausgekommen seien. Dieses Lokal war nämlich übernational, überpolitisch und überkonfessionell, fast exterritorial – schreibt einer der Forscher über die Geschichte Lembergs, W. Szolginia. Das verband das Atlas zweifellos mit der Szkocka, obgleich die Materie, die am Altmarkt behandelt wurde, eine ganz andere war. Die Szkocka hatte Einfluß auf den Lauf der Dinge der Welt. Das Atlas dagegen war „Lebensschule, Akademie von Literatur, gutem Ton und Witz, Ort schönrednerischer Wettbewerbe und schauspielerischer Konzerte“. Das von außen recht unscheinbare Lokal barg in seinem Inneren fünf Säle – den Weißen, den Grünen, den Grauen, den Faßsaal und den Künstlersaal. Im Faßsaal saß man breitbeinig auf Fässern und kostete den Trank aus Bechern, die mit Ketten an den Wänden befestigt waren. Hier saßen Jan Kasprowicz und der Maler Oleksa Nowakiwski zusammen, hier entflammte in den Diskussionen der große Ostap Ortwin, der allerdings das Kasyno Literackie am Akademieplatz vorzog, wo er unbestrittener König war, hier schaute Bruno Schulz vorbei. Die Gäste des Atlas verteilten sich je nach Vorliebe auf die einzelnen Säle, es gab also die „Faßleute“ (Weinliebhaber), die Ritter des „Weißen Saals“ (Liebhaber nicht nur von Weißwurst, sondern auch von weißem Schnaps), die „Maler“, die die Wände mit ihren Kommentaren bedachten, die „Grünen“ und „Grauen“, Bewunderer von Fleisch und Obstler. Die Rechnungen gingen hier bis in die Hunderte Złoty, es wurden aber auch „Künstler“-Gerichte, ein kleines Bier und bigos für sechzig Groszen der Teller, serviert. Das Restaurant Atlas hatte eine besondere Attraktion. Seine Wände waren mit Karikaturen bemalt und mit Gedichten seiner Stammkunden beschrieben. Die Legende erzählt, daß Jan Kasprowicz einmal im „Atlas“ sechsunddreißig Stunden ohne Pause gesessen und etwas überaus Unanständiges an die Wand gemalt hat. An die Wände schrieben Tadeusz Boy-Żeleński und Leon Chwistek. Die Wände schmückten Karikaturen der Maler wie Oleksa Nowakiwski, Kazimierz Sichulski, Antoni Procajłowicz, Kazimierz Grus und Artur Szyk. Diese Zeichnungen und Malereien waren mit boshaften Versen über die bekannten Gäste versehen. Auf diese Weise haben manche ihre Schulden bei Tarlerski beglichen. Man erzählte sich die geläufigen Witze. Den mit dem bekannten Schauspieler Stefan Jaracz, der aus dem Lokal gekommen war, eine pralle Amme sah, die am Rathaus einem Säugling ihre volle Brust gab, höflich seinen Hut lüftete und fragte. „Gestatten Gnädige Frau, mit diesem Jüngling Bruderschaft zu trinken?“ Es war ein Lokal, in dem nationale Ansichten vor der Tür blieben. Wenn der bekannte ukrainische Maler Oleksa Nowakiwski seine Witze an die Wand malte, saßen nebenan am Tisch die Polnisch-Nationalen und die Deutschen, Professor Bartel stritt mit Boy-Żeleński, und Artur Rubinstein, der im Laufe seiner Tourneen hier hereinzuschauen beliebte, amüsierte sich über die Sprüche des Dichters in der Soutane, des Priesters und Religionslehrers Błotnicki. Das Gästebuch des Atlas enthielt keine mathematisch formulierten Voraussagen für die Zukunft der Welt, dafür barst es an seinem Reichtum von Sprüchen, Aphorismen, die später in ganz Polen umgingen. Die wesentliche Kommunikationsrolle spielten die Wände. Daß sie ein scherzhaftes, clowneskes, klatschhaftes Buch der Stadt waren, verlieh der Atmosphäre des Atlas besonderen Reiz. Diese Wände erzählten, was gestern und heute früh sich ereignet hatte. Sie waren eine lebendige Zeitung und so etwas wie ein Gästebuch. Der berühmte Tarlerski kümmerte sich darum, daß dieses „Buch“, insbesondere die Wand im Faßsaal, immer aktuell blieb und dem laufenden Tag genügend Raum für Kommentare bot. Dem neuen Gast wurde die Hausordnung des Atlas vorgelegt. Hier einige Auszüge: 1. Gäste, die zufällig, aus Versehen, die Rechnung in Bargeld begleichen, haben 100 Prozent Nachlaß. […] 3. Nach Kreditverweigerung werden Speisen und Getränke nur nach Abgabe von Pfand (Uhr, Mantel – nicht unbedingt die eigenen) gereicht. […] 8. Ein gewisses vom Gast getrunkenes Quantum berechtigt, vom Hausherrn nach Hause gebracht zu werden. 9. Wenn der Gast eine Stunde lang im Lokal verweilt, haftet die Firma für Zähne, mHut, Tasche, Stock und eventuell für die Geliebte. […] 14. Das Verhältnis zur Klofrau beruht auf Bezahlung und hat anständig, ohne dumme Vorschläge, zu verlaufen. […] 16. Die Provokation, das Grammophon in Bewegung zu setzen, unterliegt einer Strafe von zwanzig bis hundert Złoty. […] 21. Für die Bezeichnung der Gaststätte als Prügelstätte leitet der Hausherr unverzüg lich gerichtliche Schritte ein. In Wirklichkeit war das Atlas ein Lokal ungewöhnlicher Toleranz und gegenseitiger Achtung unter den Gästen. Dieser karnevaleske Ort adelte den Besucher, indem er ihn mit dem Lemberger künstlerischen, ostpolnischen Gutsherrenstil vertraut machte – einem Stil voller Phantasie, Witz und Leben. Im Atlas traf sich auch die linke Jugend, die später zum berühmten Lokal Pod Gwiazdką, zu einem gewissen Swystun in der Łyczakowska-Straße, zog. Dort betreten wir eine Welt des Karnevals, hinter dem sich aber die Revolution verbirgt. „Revolver“ Pod Gwiazdką. Dieses Lokal gehörte zu den besonderen Orten Lembergs, und dies keinesfalls allein wegen der dort angebotenen Gerichte. Man aß hier gut – eben so, wie es in Lemberg üblich war. Wie die vorherigen Kneipen, verdankte auch dieses Lokal seine Besonderheit der Mischung dreier Ingredienzien: dem Hausherrn, dem Kreis seiner Gäste und den praktizierten Bräuchen. Der Hausherr, ein gewisser Swystun, bot allerlei Getränke zu niedrigen Preisen an, und dies bis in den frühen Morgen hinein. Er kannte sich weder in Kunst noch Literatur aus, dafür hatte er ein gutes Gespür, das ihn die aus Amerika von Verwandten überwiesenen Gelder in einem sicheren Geschäft – und das war in Lemberg die Künstlerkneipe – hatte anlegen lassen. Er hatte geahnt, daß zu seinen Gäste die Jugend, die Bohème und die Opposition zählen würden. Und auch damit hatte er ins Schwarze getroffen. Zum Sternchen, Pod Gwiazdką pflegte sich vornehmlich die linke Jugend zu treffen; hierher kamen polnische Intellektuelle wie Karol Kuryluk oder Stanisław Piętak aus dem Umfeld der Lemberger Zeitung Sygnały und ukrainische Literaten linker Orientierung wie Jaroslav Halan und Stepan Tudor. Aber es gab auch Hinweise, die besagten, daß in der Kneipe Aktivisten der verbotenen Kommunistischen Partei Westukrainas und vielleicht sogar Mitglieder von Kampfverbänden verkehrten. Das war aufregend, manchmal schaurig, vor allem aber war es lustig – so, wie es in einem Lokal sein sollte. Nach dem Vorbild der Gäste des Atlas verfertigte der junge Künstler Stanisław Toegel wunderbare Karikaturen der Besucher der Kneipe, die brechend voll war, da es sich beim Hausherrn gut anschreiben ließ. Zwei Dichter, Tadeusz Banaś und Tadeusz Holender, haben diese Abende in einem Gedicht, einer Parodie der „Pani Twardowska“ von Mickiewicz, verewigt. Der Held des seltsamen Poems, „Pijodor“, ist der später berühmte Autor avangardistischer historischer Romane Teodor Parnicki. Parnicki war in Lemberg als Verfasser kleiner Kriminalgeschichten bekannt, die in Folgen beim Regenbogenblatt Niedziela Rano erschienen. Diese Säuferballade voll Übermut und Angeberei enthielt Bekenntnisse, die nicht gerade von Höhenflug zeugten: Das anspielungsreiche Gedicht der allseits verehrten Beata Obertynska „Anioł w knajpie“ (Ein Engel in einer Kneipe) scheint sich ebenfalls auf die in Pod Gwiazdką praktizierten Bräuche zu beziehen. Die schriftlichen Quellen belegen es nicht, aber es ist doch bekannt, daß der Lieblingstrunk der Stammgäste von Pod Gwiazdką – die im verräucherten Lokal in modischen Lederjacken und den runden Ledermützen der Kinder der Revolution erschienen -, der „Revolver“ war, ein Pfefferschnaps (eigentlich ein Pfefferspiritus) mit nur Swystun bekannten Ingredienzien. Ins Bewußtsein des Konsumenten (wenn er solches noch besaß) drang er angeblich wie der Schuß aus einem Revolver, konnte für den Mutigen gar tödlich sein. Swystun stellte auf der Theke eine Reihe großer Gläser auf, goß sein Getränk schnell ein, ohne auf die Menge zu achten, dann trat Stille ein. Dann eine schnelle Handbewegung mehrerer Männer, offene Münder, Stille, jemand fällt um, ein anderer wankt nur. Man trägt hinaus. Der nächste „Schuß“. Und der nächste. Es zahlt der Herr an der Seite, Unwichtig, wie er heißt. Genosse… ? Nicht zu auffällig hinschauen. Die revolutionäre Jugend kannte die Regeln des konspirativen Anstands. Nicht gucken, so tun, als sei nichts geschehen, das war ein Zeichen von Respekt. Die Abende bei Swystun beehrte die polnische, ukrainische und jüdische Jugend, die mehr oder minder einträchtig die künstlerischen Autoritäten in Lemberg bekämpfte. Diese Treffen, die voller heißer Diskussionen über die Zukunft waren, erwiesen sich auch als Herausforderung für das damalige politische Establishment. Aber dann kam der Krieg, und andere Sterne schienen über Lemberg. Auch Swystun verschwand. Ereilte ihn ein Schuß aus einem echten revolutionären „Revolver“? Oder hat er den Krieg überlebt und sein Leben als Vorkriegsrestaurateur und bourgeoiser Nationalist in einem Konzentrationslager abgeschlossen? Eine der Erzählungen besagt, daß er sich wahrscheinlich in Polen versteckt hat, das er nicht mochte, aber ohne das er auch keine Geschäfte machen konnte, und daß er irgendwo in den Westgebieten immer noch seinen entsetzlichen Fusel mit Namen „Revolver“ weiterbrennt. Hat er da noch von einer Revolution in der Getränke-Branche geträumt? Epilog Das also sind die drei Gesichter der Lemberger Kneipe, die im Mythos der Stadt lediglich ein Fragment bilden: Szkocka an der Ecke Akademicka und Łoziński-Straße, Atlas am Altmarkt Nr. 45, Pod Gwiazdką, das Lokal der künstlerischen Bohème, in der Łyczakowska-Straße. Dieser Mythos beinhaltet die Erzählung von einem Buch, das die Zukunft der Welt und die in mathematischen Zeichen chiffrierte Kunde von Parallelwelten bewahrt. Da ist die Geschichte von Wänden, die Zeitungen, zugleich aber auch eine eigenartige Kurzfassung des Schicksals vieler Menschen waren. Schließlich ist da auch die Erzählung von einem Wirt, seinen Gästen und einem Getränk, das die Apokalypse der Geschichte ankündigt. Ein Buch – eine Wand – ein revolutionäres Manifest, das sich in der Metapher des „Revolvers“ verdichtet. Drei Kneipen, die drei Typen von Begegnung, drei Kommunikationsmodelle (Wissen – Kunst – Politik) repräsentieren – drei ganz verschiedenartige Gesellschaftsmodelle: elitär-universitär, ostpolnisch-künstlerisch, revolutionär-städtisch. Natürlich ist die Ebene, auf der man das alles unterbringen könnte, das Para-Theater. Hier könnten sich diese Modelle durchdringen, sicher aber auch nebeneinander koexistieren. Die Extraversion der Stadt, eines Vielvölker-Organismus, hat bewirkt, daß hier eine Atmosphäre herrschte, die den schöpferischen Prozeß auf der Bühne (und die Bühne war die Lemberger Kneipe) begünstigte. Ganz banal kann man sagen, daß diese Lokale die Kultur und den Lebensstil Lembergs in ihrer Vielschichtigkeit enthüllt haben. Wie in keiner anderen Stadt ergaben sich hier das Wesen und das Rätsel der Kneipe (Café, Restaurant, Ausschank) aus der besonderen Kultur des Orts und der Sensibilität seiner Bewohner, aus dem einmaligen genius loci. Lemberg – eine paradoxe Stadt, die nur scheinbar leicht und verständlich ist, birgt noch viele solcher Geheimnisse. Aus dem Polnischen von Adam Opyrchal, Langenhagen

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