Editorial
Drei Etüden über Rußlands Neoautoritarismus
Manfred Sapper, Volker Weichsel
(Osteuropa 3/2004, S. 48)
Volltext
Groß waren die Hoffnungen, als in Rußland vor mehr als einem Jahrzehnt die Gesellschaft aufbrach, ein „Experiment der Freiheit“ zu wagen. Der Augenblick schien günstig, die staatstragende Elite hatte ihren Willen zur Alleinherrschaft verloren, ihre Legitimationsideologie war zerbröselt. Die Schwäche des Staates gab den gesellschaftlichen Kräften Auftrieb, die sich bereits unter dem Deckmantel der spätsowjetischen Autokratie hatten entfalten können. Die Schwäche des Staates hatte zugleich unheilvolle Konsequenzen. Je mehr die zentralistische Daumenschraube sich lockerte, desto stärker trat die gesellschaftliche Vielfalt mit all ihren Ungleichheiten zu Tage. Diese Ungleichheiten sind in Rußland so riesig, daß das für die Existenz von moderner Staatlichkeit notwendige Minimum an sozialer Integration nicht vorhanden war. Die Demokratie in Rußland ist nicht primär an der weit geöffneten Schere zwischen Arm und Reich gescheitert. Zu schwach war die politische Repräsentation der Armen, zu weit weg vom Moskauer Machtzentrum fand die Verelendung statt, als daß sie den politischen Wettbewerb wirklich hätten beeinflussen können. Fatal wirkte sich aus, daß sich in den wenigen Jahren des Gleichgewichts zwischen der über ökonomische Macht verfügenden Gruppe und der Staatsmacht keine festen Regeln etabliert haben, die beide verinnerlichten. Als sich die Gleichgewichte zuungunsten der Wirtschaftsmacht verschoben – Stichworte: Rubelkrise 1998 und der zweite Tschetschenienkrieg –, ging die Staatsmacht daran, die politische Handlungsfähigkeit ihrer Gegner systematisch einzuschränken und sie dabei, wenn nötig, auch ihrer ökonomischen Grundlagen zu berauben. So gehört die Gewaltenteilung – die horizontale, die vertikale und selbst die über Wahlen gewährleistete zeitverschobene – der Vergangenheit an. Selbst die Garantie der Eigentumsrechte steht wieder zur Disposition. Der demokratische Verfassungsstaat stützt sich auf Voraussetzungen, die er selbst nicht geschaffen hat. Dieser Lehrsatz gilt mit umgekehrten Vorzeichen für Rußland: Wo die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen, hat es die Demokratie schwer. Dennoch ist diese Sicht verkürzt. Denn der autoritäre Staat unterdrückt und zerstört auch die Entfaltung der Gesellschaft, die zur Basis für eine rechtlich verfaßte und Heterogenität repräsentierende Ordnung werden könnte. Die Erkundung des rußländischen Neoautoritarismus hat gerade erst begonnen. Eine erste Bestandsaufnahme bieten die drei folgenden Etüden im vorliegenden Heft von Osteuropa. Ihre Entstehungsgeschichte zeugt vom raschen Gang der Ereignisse. In einer ersten Version wurden die Essays im Sommer 2003 auf Einladung des Historikers Gennadij Bordjugov für den russischsprachigen Sammelband „Putin und die Zukunft Rußlands“ verfaßt. Erscheinen sollte er zur Frankfurter Buchmesse. Die politische Dynamik und der Wegfall von Sponsoren haben bis heute die Veröffentlichung verhindert. Die historische Chance der Demokratie scheint in Rußland bis auf weiteres vergeben. „Keine Experimente!“ lautet die Devise der Stunde. Wann die Demokratie eine neue Gelegenheit erhalten wird, hängt entscheidend davon ab, ob es der Staatsmacht gelingen wird, ein autoritäres Rußland in die globale Ökonomie einzubetten. Wird ihr dies ermöglicht, so wird der bürokratische Staat von dem Stabilitätsgewinn lange zehren können. Schließen sich jedoch die Tore, so droht die Gefahr eines isolationistischen Armutsautokratismus. Einen Weg dazwischen zu finden, das ist die Herausforderung für die europäische Rußlandpolitik.