Editorial
Ein Land sucht sein Gesicht
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Astrid Sahm
(Osteuropa 2/2004, S. 57)
Volltext
Der Etiketten gibt es viele: Für die einen ist Belarus das Kuba im Neuen Europa. Andere sehen in dem Land die Sowjetunion im Kleinformat. Und für weite Teile der europäischen Öffentlichkeit ist Belarus nicht mehr als ein weißer Fleck irgendwo im Osten: peripher, heruntergekommen und vor allem unter der Fuchtel eines bizarren Diktators. Doch ein Gesicht hat dieses Belarus in der internationalen Wahrnehmung nicht. Das erinnert an die Arbeiten Kazimir Malevičs, der drei Jahre die Kunsthochschule im belarussischen Vicebsk leitete. Eines seiner bekanntesten Werke, das Weiße Quadrat auf weißem Grund, provoziert bis heute, alte Perspektiven aufzugeben, genauer hinzuschauen und das Andere sehen zu lernen. Um 1930 entstand sein Torso im gelben Hemd. Auch dieser hat kein Gesicht. Die Landschaft ist ausgeräumt. Das rote Haus am Horizont scheint ihm kein Heim mehr zu bieten. Wohin der Weg führen wird, ist ungewiß. In banger Vorahnung verharrend, steht es dem Land noch bevor, seinen Platz in Europa zu bestimmen und seinem Antlitz Profil zu verleihen. Das heißt nicht, daß das Land kein Gesicht hätte. Nur gewinnt es erst im Auge des Betrachters an Gestalt. Schauen und Angeschautwerden bleiben für Betrachtete und Betrachter nicht folgenlos. Der Maxime verpflichtet, freie Sicht auf Verborgenes zu schaffen, nimmt Osteuropa Anleihen bei Malevič. Das vorliegende Heft schafft Komplexität durch Reduktion. Die Bildsprache ist einfach. Im Zentrum stehen drei Formen: Konturen, Kontraste und Kreise. Diese Beschränkung fördert Überraschendes zutage. Das Bild von Belarus ist bunter und differenzierter, als es – von außen und von innen – scheint. Kein Zufall also, wie der belarussische Graphiker Uladzimir Damnjankaŭ im Anschluß an diese Seiten die Aufgabe löst, das Weiße Quadrat zu aktualisieren. Die Befunde der Analysen zu den politischen und ökonomischen Konturen des Landes bestätigen die zitierten Etiketten: Das Regime unter Aljaksandr Lukašėnka knüpft in der Herrschaftstechnik an sowjetische Praktiken an. Ideologisch sucht es neue Wege in der Tradition des russischen Messianismus. Die Stabilität des autoritären Staats beruht nicht etwa auf Charisma des Präsidenten, sondern erklärt sich aus der Verfügung über die Medien, aus paternalistischen Orientierungen in der Bevölkerung und aus der Schwäche des belarussischen Nationsbewußtseins. Parteien bleiben irrelevant. Reformansätze in den Regionen und der Ökonomie werden durch rigide zentralstaatliche Politik behindert oder unterbunden. Doch der Modernisierungsdruck wächst. Parallel gibt es das andere Belarus. Im Kontrast zu dem vorwiegend autoritären, starren und dirigistischen Staat ist eine lebendige und vielfältige Gesellschaft entstanden. Zahlreiche Organisationen sind in internationaler Kooperation engagiert. Eine tragende Rolle spielen dabei Hunderte von deutsch-belarussischen Partnerinitiativen, die wichtige Entwicklungsimpulse geben. Anders als im Falle des historischen Rußland kann in Belarus nicht mehr die Rede von „Gesellschaft als staatlicher Veranstaltung“ sein. Sie ist eigenständig, doch einem kooperativen Verhältnis von Staat und Gesellschaft verschließen sich große Teile des Regimes noch. Die Tätigkeitsfelder gesellschaftlicher Gruppen sind mannigfaltig. Sie reichen von Bildung über Soziales bis zu Umwelt und Energie. Gemeinsam ist allen Initiativen, daß sie sich von sowjetischen Traditionen emanzipieren, wie die Fallstudien zum Umgang mit Menschen mit Behinderungen, zur Erwachsenenbildung, der Aufarbeitung der Vergangenheit oder zum Kulturleben zeigen. Im Kontrast zur politischen Schwäche des belarussischen Nationsbewußtseins steht auch die vielfältige belarussische Kultur, die Teil des europäischen Erbes ist. Auf den Ausgang des Ringens zwischen Staat und Gesellschaft hat nicht zuletzt das internationale Umfeld Einfluß. Belarus liegt in der Schnittmenge der Einfluß-Kreise zweier europäischer Machtzentren. Die NATO ist bereits an Belarus herangerückt, die Europäische Union wird ihr im Mai 2004 folgen. Ob die gemeinsame Grenze Gräben vertiefen oder sie zuschütten wird, steht noch offen. Rußland hingegen ist so nahe, daß Belarus bisweilen nur noch als „Begleiterscheinung“ gilt. Die Untersuchungen zu den ökonomischen und politischen Folgen der EU-Osterweiterung, zu den belarussisch-rußländischen Beziehungen und der Meinung, welche die Belarussen davon haben, zeigen klar: Solange Rußland als rückständig galt, war die Absicht, einen gemeinsamen Staat zu gründen, mehr von Nostalgie als von realen Projekten getragen. Der Ostkurs des Regimes blieb ungefährlich für die belarussische Eigenstaatlichkeit. Gefahr dräut ihr, seit der wirtschaftliche Aufschwung in Rußland Moskau zu einem attraktiven Modernisierungszentrum gemacht hat. Besonders prekär ist, daß die Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau, die den umworbenen Staaten in den 1990er Jahren ein gewisses Lavieren erlaubte, weitgehend auf Eis gelegt ist. Die EU scheint mittlerweile saturiert: Der Hafen ist voll – so lautet die bislang zumeist hinter vorgehaltener Hand verkündete Devise. Fraglich ist, ob Moskau den ganzen Brocken schlucken wird oder sich nur die ökonomischen Filetstücke herausschneidet. Die Hoffnung, ein Zusammenrücken mit dem liberaleren Rußland könnte nebst ökonomischer Modernisierung auch einen Demokratisierungsschub für Belarus bringen, dürfte sich spätestens seit den Dumawahlen in Rußland im Dezember 2003 bis auf weiteres zerschlagen haben. Konturen, Kontraste und Kreise bestimmen auch die innere Geometrie dieses Länderhefts. Mit den Stichworten Interdisziplinarität und Internationalität sind sie umrissen. Den empirisch fundierten Analysen stehen reflektierte Anschauungen aus der Praxis gegenüber. Das Spektrum der Autoren bietet Betrachtung von innen und außen. Das Fundament stellt die jahrelange deutsch-belarussische Kooperation in Wissenschaft und Praxis. Wie sperrig Unvertrautes zunächst sein kann, demonstriert die belarussische Schreibweise aller Orts- und Personennamen. Die belarussisch-russische Namenskonkordanz am Ende des Hefts bietet Hilfe und zeigt, daß Jaŭhen zwischen Eugen und Evgenij vermittelt.