Russischer Stoff, europäische Form
Der Dialog der Kulturen in der Musik
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Abstract
Der Gang durch die Petersburger Musikgeschichte veranschaulicht an ausgewählten Beispielen die vielfältigen Aspekte des interkulturellen Dialogs. Dieser hat im Laufe des 19. Jahrhunderts einen spezifischen musikalischen Stil entstehen lassen, der Ausländern und Russen als „russisch“ im emphatischen Sinne erscheint.
(Osteuropa 9-10/2003, S. 12621280)
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Russian content in a European form
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Die· Vorstellungen von dem, was „russische“ Musik ausmacht und wie sie sich zur „europäischen“ Musik verhält, haben sich im Verlauf der russischen Musikgeschichte, die über lange Zeit eigentlich eine Petersburger Musikgeschichte ist, erheblich gewandelt. Der Rhythmus dieses Wandels entspricht dem der europäischen Kulturen; anders gesagt: Die russische Musik als Kunstmusik von Rang wird greifbar nur über ihren Austausch mit nicht-russischer Musik, gleichsam über die Reibungsflächen mit anderen Musikkulturen, die sie zur Selbstbestimmung drängen. Ohne solchen Dialog bleibt Musik wie jede Kunst strenggenommen provinziell, sie wird über ihren eigenen Rahmen hinaus nicht international wahrgenommen (wie die russische Musik vor 1700 und weite Bereiche der sowjetischen Musik). Was die russische, allgemeiner: eine für eine Nation typische Musik ausmacht, läßt sich einerseits auf der Ebene des Materials und der Sujets bestimmen: Anspielungen auf oder Zitate aus der Volksmusik, Stoffe aus der nationalen Geschichte, das Material oder die Sujets sind nationalspezifisch. Andererseits läßt sich das Typische auf der Ebene der Verfahren betrachten: Wenn sich ein Komponist für Folklore-Elemente oder Sujets aus der Nationalgeschichte entscheidet, läßt sich sein Werk als russisch, italienisch oder deutsch erkennen; die Entscheidung aber, in dieser Weise vorzugehen, teilt er mit jedem Komponisten, der ein nationales Werk schreiben will – das Verfahren, die Technik ist international bzw. europäisch. Internationale Musiksprachen Als Peter I. 1703 von Moskau nach Petersburg übersiedelte, nahm er die Pridvornaja pevčeskaja kapella, deutsch als Hofsängerkapelle bezeichnet, mit und ließ sie zur Feier der Stadtgründung singen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde diese älteste und ehrwürdigste Institution russischer Musik und Musikerziehung nicht mehr nur für Kirchenmusik, sondern auch für den Opernbetrieb zuständig. Als Lehrer wirkten hier bedeutende Komponisten, die durch das Land reisten, um begabte und meist mittellose Jugendliche für die Kapelle zu rekrutieren. Exemplarisch dafür ist der Lebenslauf Dmitrij Bortnjanskijs (1751–1825), der als siebenjähriger Knabe an die Hofsängerkapelle kam. Er erwies sich als außerordentlich begabt, so daß er bei Baldassare Galuppi Unterricht erhielt, den Katharina II. 1763 an ihren Hof geholt hatte. Im Jahr zuvor hatte sie den Thron übernommen und sogleich begonnen, eine Kulturpolitik durchzusetzen, die Petersburg zu einem kulturellen Zentrum von europäischem Rang machen sollte. Für die Musik bedeutete dies, daß Katharina italienische Komponisten nach Petersburg berief, die international ausgewiesen und deren Werke im Petersburger Repertoire eingeführt waren. Diese Komponisten wie Tomaso Traetta, Giovanni Paisiello und Domenico Cimarosa versorgten den Petersburger Hof mit eigenen und fremden Werken – mit dem Repertoire, das auch an anderen europäischen Höfen erklang. Als Galuppi 1768 nach Venedig zurückkehrte, tat Katharina II., was alle Förderer der Künste tun sollten: Sie ließ den 17jährigen Bortnjanskij mit ihm reisen. Bortnjanskij vervollkommnete in Italien seine Gesangs- und Kompositionsstudien; er trat dort als Gesangssolist auf und konnte drei eigene italienische Opern herausbringen. Nach elfjähriger Lehrzeit wurde er 1779 nach Petersburg zurückberufen und wirkte nun am Hof als Cembalist, Komponist und Gesangspädagoge. 1796 übernahm er die Leitung der Hofsängerkapelle. Auch Maksim Berezovskij (1745–1777) und Evstignej Fomin (1761–1800) studierten für mehrere Jahre in Italien. Diese Beispiele zeigen: Jeder Hof, der es sich leisten konnte, engagierte italienische Komponisten und eigene Leute, die er zuvor in Italien ausbilden ließ. So konnte man im 18. Jahrhundert in Venedig und Neapel, in London, Lissabon, Stockholm, Dresden oder eben auch in Petersburg – zunächst aber kaum in Moskau) das gleiche Repertoire auf vergleichbar hohem Niveau hören. Es war letztlich unerheblich, welcher Nationalität Komponisten und Interpreten angehörten, vorausgesetzt, daß sie den internationalen Stil der Zeit beherrschten. Aus Anlaß der Krönungsfeierlichkeiten Elizaveta Petrovnas (1709–1762) – der Zarin Elisabeth – inszenierte man 1742 La Clemenza di Tito (Tito Vespasiano) auf ein Libretto von Pietro Metastasio, vertont vom Dresdener Kapellmeister Johann Adolf Hasse. Damit begann die Etablierung der Opera Seria in Petersburg, die unter Katharina II. zu einem Glanzpunkt des Hofes wurde. Dieser prachtvolle, repräsentative Operntypus, in dem Sängersolisten in standardisierten Rollen auftreten, in virtuosen, dreiteiligen Arien (da-capo-Arien) brillieren und der vorwiegend auf antikisierenden Sujets mit dramatischer Zuspitzung und stets glücklichem Ausgang beruht, ist vor allem mit dem Namen Metastasios verbunden. Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert beherrschte er alle Bühnen in Europa. Gleichermaßen großer Beliebtheit erfreuten sich die sogenannten Opere buffe, in Petersburg vor allem aus der Feder jener italienischen Komponisten, die Katharina II. an ihren Hof geholt hatte. Daß ein deutsches Ensemble, das in der Spielzeit 1777/78 in Petersburg auftrat, sein Gastspiel mit zwei ins Deutsche übersetzten Buffo-Opern begann – La notte critica (deutsch als: Die Nacht) und La buona figliuola (Das gute Mädchen), beide auf Texte von Carlo Goldoni und mit Musik von Paisiello –, mag eine Huldigung an den damaligen Kapellmeister am Hof gewesen sein; es zeigt aber zugleich, in welch hohem Maße auch der komische Operntypus ein internationales Phänomen war. Als Schwerpunkt hatte diese deutsche Operntruppe allerdings Singspiele von Johann Adam Hiller im Repertoire, ein vergleichsweise junges Operngenre, das sich nach dem Vorbild der französischen Opéra comique durch gesprochene Dialoge (statt gesungener Rezitative) und durch volkstümliche Sujets auszeichnet. Vom deutschen Singspiel und von der französischen Opéra comique ließen sich die russischen Komponisten anregen, die für den Hof komponierten: Bortnjanskij brachte drei französischsprachige komische Opern heraus, die für die Sommersitze des Hofs bestimmt waren – La Fête du Seigneur (1786 Pavlovsk), Le Faucon (nach Giovanni Boccaccios Decamerone, Gačina 1786) und Le fils rival ou la Moderne Stratonice (1787 Pavlovsk); Evstignej Fomin und auch Vasilij Paškevič (1742–1797) vertonten russischsprachige Texte zu komischen Opern, darunter mehrere Libretti, die Katharina II. selbst verfaßt hatte. Dieses Panorama zeigt, daß die russische Musik in dem Moment aus dem Provinziellen heraustrat, als mit Petersburg ein gegenüber Westeuropa aufgeschlossenes Zentrum entstand und als die hochgebildete, im Geiste der Aufklärung erzogene Katharina II. dieses Zentrum mit einem blühenden kulturellen Leben zu füllen wußte. In diesem Kontext heißt Russisch-Sein, sich auf dem gesamteuropäischen kulturellen Niveau der Zeit zu bewegen, also in der Musik italienisch zu sprechen. International geprägte Grundlagen russischer Musik Als die zentrale Grundlage der russischen Musik galt der russischen und später der sowjetischen Musikgeschichtsschreibung das Volkslied, mit dessen Sammlung Petersburger und Moskauer Komponisten Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatten. Vor allem die sowjetische Musikwissenschaft setzt den Rekurs auf Volkslied und Volksmusik (auf der Ebene des Materials) gleich mit dem Aufblühen einer russischen Musik im emphatischen Sinne – einer Musik, die sich idealtypisch aus nationalen Wurzeln, nicht aber aus einem Dialog von Kulturen speist. Solche national ausgerichtete Musikgeschichtsschreibung verstellt den Blick auf die Tatsache, daß der Rückgriff auf das Volkslied als Verfahren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem gesamteuropäischen Phänomen wurde. Den Anfang machten die Ossian-Dichtungen, die seit den 1760er Jahren das gebildete Europa begeisterten (und die sich später als Fälschungen des Herausgebers James Macpherson erwiesen). Johann Gottfried von Herder übersetzte sie 1782 ins Deutsche und benutzte sie als Modell für seine Volksliedsammlungen, die wiederum Achim von Arnim und Clemens Brentano für Des Knaben Wunderhorn (1805–1808) als Vorbild dienten. In Rußland gab Vasilij Trutovskij, ein Sänger und Gusli-Spieler am Hof Katharinas II. zwischen 1776 und 1795, eine Volksliedsammlung mit Texten und Noten heraus (üblich waren bis dahin reine Textsammlungen). 1790 erschien die berühmt gewordene Volksliedersammlung von Nikolaj L’vov und Ivan Prač, die im 19. Jahrhundert zahlreiche Auflagen erlebte und sich auch im Ausland großer Beliebtheit erfreute – Ludwig van Beethoven hat daraus die Thèmes russes für seine Razumovskij-Quartette (Op. 59) entnommen. Sie diente späteren Sammlungen als Modell, allerdings bemühten sich Herausgeber wie Milij Balakirev oder Nikolaj Rimskij-Korsakov ihrer Zeit entsprechend um größere ethnologische Korrektheit. Ausdruckscharaktere, wie sie in Volksliedern bereitstehen – der ernste Ton des gedehnten Liedes (Protjažnaja pesnja), die schnellen rhythmisch betonten Tanzlieder, vor allem aber der schwermütige Ton von Abschieds- und Hochzeitsliedern, ebenso die sogenannte städtische Folklore und die damals beliebten Zigeunerromanzen –, gehen seit dem frühen 19. Jahrhundert in das Liedschaffen, später auch in das Opernschaffen der russischen Komponisten ein. Wieder ist Petersburg führend, denn vor allem hier verfestigte sich nach dem gescheiterten Dekabristenaufstand 1825 ein spezifisches, eigentümlich von Melancholie durchzogenes Lebensgefühl, das in einem durchaus sentimentalen Romanzenton Ausdruck fand. Ein typisches Beispiel bietet Aleksandr Aljab’evs kleines Strophenlied von der Nachtigall auf einen Text von Anton Del’vig. Vordergründig spricht der Text von enttäuschter Liebe und der Nachtigall als Botin einer verlassenen Schönen; die Musik lehnt sich bewußt an Volksliedmodelle an, für die man in den Sammlungen der Zeit Beispiele findet. Bedenkt man, daß Del’vig dieses Gedicht seinem Freund Aleksandr Puškin zum Abschied widmete, als dieser in den Kaukasus verbannt wurde, und daß auch Aljab’ev mit Verbannung rechnen mußte, dann gewinnt das kleine Lied eine weitere Dimension: die Nachtigall als Mittlerin zwischen dem Verbannten und seinen Freunden, die Nachtigall auch als Symbol für den Sänger-Dichter, der frei bleibt und von Freiheit kündet. Daß man die Nachtigall nach 1825 in diesem Sinne verstand, bestätigen zahlreiche Gedichte und Lieder, die sie ausdrücklich im Titel führen. Beide Faktoren – die doppelte Dimension des schlichten Textes und die Gefälligkeit dieser Melodie, der durch die Molltonart ein Hauch von Melancholie anhaftet und die so schlicht ist, daß man sie sofort mitsingen kann – haben dazu beigetragen, daß sich Del’vigs und Aljab’evs Nachtigall schnell großer Beliebtheit in Rußland erfreute und daß sie in Westeuropa gleichsam zu einem Schlager wurde. Als Franz Liszt 1842 in Petersburg gastierte, bearbeitete er sie für Klavier und publizierte sie als Le Rossignol, air russe d’Alabieff. Der übergeordnete Bezugspunkt für den elegischen Tonfall, der in den russischen Kunstliedern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrscht, ist die russische Variante des französischen ennui, wie ihn vor allem Puškin und Michail Lermontov in die russische Literatur eingeführt haben. Den aus Lebensüberdruß und Weltschmerz indifferenten Romanhelden (ihr Prototyp, der lišnij čelovek, ist der ironisch gezeichnete Evgenij Onegin) entspricht die weltabgewandte, unfrohe Haltung der lyrischen Ichs in der Poesie. Lermontovs I skučno, i grustno … wird in Aleksandr Dargomyžskijs Vertonung zu einem durchkomponierten Klagegesang, der passagenweise wie in einem Rezitativ deklamiert wirkt. An dieser Lermontov-Vertonung läßt sich exemplarisch nachvollziehen, daß die russische Romanze, die ihre musikalischen Impulse aus Volksliedrepertoire im weitesten Sinne bezieht, ihre literarischen Vorlagen aus der aktuellen Poesie wählt, die sich ihrerseits an französischen Vorbildern (Alphonse Lamartine, Alfred de Musset, Victor Hugo) geschult hat. Als Michail Glinkas erste Oper, Žizn’ za Car’ja (Ein Leben für den Zaren), im November 1836 im neueröffneten Petersburger Bol’šoj-Theater uraufgeführt wurde, brachen in der Presse wahre Begeisterungsstürme aus. Vladimir Odoevskij feierte das Werk als Geburt der russischen Oper und der russischen Musik, mit der eine neue Epoche in der Kulturgeschichte eingeleitet werde. Nikolaj Gogol’ schwärmte nach der Premiere: „Eine Oper aus unseren nationalen Motiven – wie herrlich müßte das sein!“ Etwas weniger enthusiastisch begrüßte man Glinkas zweite Oper, Ruslan i Ljudmila, die 1842 ebenfalls im Petersburger Bol’šoj-Theater uraufgeführt wurde. Hieß im 18. Jahrhundert – zur Zeit Katharinas II. – europäisch und fortschrittlich sein vor allem, eine italienische Oper zu unterhalten, so bedeutete dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit Puškins und Lermontovs, die auch die Zeit Nikolajs I. war, sich um eine Kunst mit ausgeprägt nationalem Kolorit zu bemühen. Die Frage, ob man dieses Phänomen als ein internationales und damit aus russischer Sicht als Modus zur Öffnung nach Westen versteht, oder ob man den Rekurs auf nationales Kulturgut als Weg betrachtet, der sich aufgrund der konkreten nationalen Wurzeln von anderen Kulturen substantiell unterscheidet, mündet in die Kontroverse zwischen „Westlern“ und „Slavophilen“, welche die Debatte der russischen Intellektuellen seit den 1830er Jahren prägte. Unabhängig davon, wie man den Rekurs auf nationales Kulturgut verstand, muß klar gewesen sein, daß diesen Texten, Sujets und Melodien ein aufrührerisches Potential innewohnt, sobald sie sich mit antimonarchistischem Gedankengut verbinden. Das wurde spätestens bei den Revolutionen 1830 und 1848/49 offenbar. Daniel François Esprit Aubers Oper La Muette de Portici, die den Aufstand der neapolitanischen Fischer im Jahr 1647 gegen die spanische Herrschaft behandelt und reich an neapolitanischen Melodien ist, traf im August 1830 in Brüssel auf eine so aufgeheizte Stimmung, daß ihr nachgesagt wird, sie habe die Revolution in Belgien ausgelöst. Die russische Zensur glaubte das Sujet dadurch entschärfen zu können, daß die Oper unter Fenella, dem Namen der Stummen lief. Richard Wagner, den man seit dem Fliegenden Holländer und Tannhäuser im Ausland als einen deutschen Nationalkomponisten betrachtete, stieg 1848/49 in Dresden selbst auf die Barrikaden. Bedenkt man, daß sich Opern, deren Sujet aus der nationalen Geschichte stammte und deren musikalische Sprache als national empfunden wurde, im Bewußtsein der Öffentlichkeit mit dem aktuellen politischen Aufruhr verbanden, so wird begreiflich, warum das Bestreben der russischen Komponisten und das waren vornehmlich Petersburger und die Opernpolitik des Zarenhofes im 19. Jahrhundert auseinandergingen. Das Repertoire des Bol’šoj-Theaters, aber auch anderer Bühnen, die Opern spielten, war nach wie vor italienisch geprägt. Russische Intellektuelle wie Vladimir Odoevskij aber forderten eine genuin russische Oper, die es noch nicht gab. Glinkas beide Opern waren Einzelwerke, nicht genug für ein eigenes Repertoire. Einen um so höheren Stellenwert maß man Glinka bei. Die folgende Generation – das ist vor allem das Petersburger Mächtige Häuflein – erklärte Glinka gar zum „Vater der russischen Musik“. Sie wurde durch westeuropäische Komponisten wie Hector Berlioz und Franz Liszt, die als die Wortführer des musikalischen Fortschritts galten, in dieser Einschätzung bestätigt. Glinkas Opern zeigen, daß er viel von seinen westeuropäischen Kollegen gelernt hat – den Belcanto von Vincenzo Bellini und Gioacchino Rossini, die unheimlichen dramatischen Wirkungen aus französischen Opern der Revolutionszeit (sogenannte Revolutions- und Rettungsopern, etwa von André Ernst Modeste Grétry und Luigi Cherubini) – und Carl Maria von Weber hatte im Freischütz gezeigt, was man tun muß, damit es „deutsch“ klingt. Was bei Weber Hörnerklang, Waldromantik und der volksliedhafte „Jungfernkranz“ sind, werden bei Glinka getragene oder schnelle Chorsätze mit unregelmäßigem Metrum, eine modale Melodik (Halbtonschritte liegen an anderen Stellen als in den üblichen Dur- und Moll-Skalen), und im Ruslan die orientalischen Tänze – vostočnye tancy, die im Zuge der Kaukasus-Politik des Zaren genauso in die Hauptstadt gelangten wie kaukasische Sujets und kaukasische Vokabeln in die russische Literatur und Sprache. Der Ort für russische Opern war das Mariinskij-Theater, das im Herbst 1860 an Stelle des 1859 ausgebrannten sogenannten Theater-Zirkus mit Glinkas Leben für den Zaren feierlich eröffnet wurde. In diesem Theater führte das russische Ensemble ausländische Werke in russischer Übersetzung auf und immer mehr auch Opern russischer Komponisten. Daß diese sich erst allmählich zur Opernkomposition entschlossen, hatte auch einen finanziellen Hintergrund, hinter dem wiederum eine politische Entscheidung gegen russische Musik sichtbar wird: Ein Dekret aus dem Jahre 1827 besagte, daß ein russischer Sänger oder Musiker im Jahr nicht mehr als 1143 Rubel verdienen dürfe; dies war auch die höchste Summe, die für eine russische Oper gezahlt wurde. Zum Vergleich: Verdi erhielt für seine Oper La forza del destino, die im Auftrag der Petersburger Theaterdirektion entstand und hier am 17. November 1962 ohne nennenswerten Erfolg uraufgeführt worden war, 60 000 Goldfranken als Honorar, nach anderen Angaben 20 000 Rubel – entscheidend ist nicht die genaue Summe, sondern die Differenz gegenüber den anderen Honoraren. „Anti-Akademismus“ Mit dem Desinteresse des Hofes an russischer Musik, das sich in der schlechten Bezahlung russischer Musiker offenbarte, und den gleichzeitigen Bemühungen um eine russische Musik, mit denen eine junge Generation in den 1860er Jahren an die Öffentlichkeit trat, war ein kulturpolitischer Konflikt vorprogrammiert. Der Hof hielt an der Anschauung fest, daß gute Musik aus Italien kommen müsse; die russischen Komponisten dagegen meinten, ebenso wie ihre westeuropäischen Kollegen, daß gute, zeitgemäße Musik den Rekurs auf die jeweiligen nationalen Wurzeln voraussetze. Zwischen die Fronten geriet Anton Rubinstein, der in Westeuropa als Pianist und Komponist ausgebildet worden war, die Mängel im russischen Ausbildungssystem um so schärfer erkannte und daher nachdrücklich für die Gründung eines Konservatoriums in Rußland plädierte. Für sein Projekt gewann er die Großfürstin Elena Pavlovna. 1859 gründete er eine Russische Musikgesellschaft (Russkoe muzykal’noe obščestvo), die mit regelmäßigen Konzerten an die Öffentlichkeit trat. Aus dem Erlös wurden ab 1860 Kurse für Musikstudenten eingerichtet; daraus ging das erste russische Konservatorium hervor, das am 8. September 1862 feierlich eröffnet wurde. Entscheidendes Kriterium für Anton Rubinstein war, daß das Konservatorium den Titel des „Freien Künstlers“ (Zvanie svobodnogo chudožnika) verleihen konnte: Damit stiegen die Musiker – Instrumentalisten, Sänger, Komponisten – zu ehrenwerten Mitgliedern der Gesellschaft auf. Um die gleiche Zeit formierte sich in Petersburg ein Kreis junger Musik-Enthusiasten. Der fachlich führende Kopf war Milij Balakirev, der sich autodidaktisch Fachwissen angeeignet hatte; alle anderen hatten militärische Laufbahnen begonnen: Aleksandr Borodin war Militärarzt und machte später auch als Chemiker Karriere; Modest Musorgskij war Offizier und verdiente nach Abschaffung der Leibeigenschaft als Aktenschreiber Geld; Cezar’ Kjui, baltischer Herkunft, war zeitlebens Fortifikationsspezialist; nur Rimskij-Korsakov, der damals als Kadettenschüler zur See fuhr, wurde Berufsmusiker. Der geistig führende Kopf, der Vordenker und Ideologe des Kreises, war Vladimir Stasov, der gerade seine Stelle als Kustos an der Öffentlichen Bibliothek angetreten hatte. Er war profund gebildet, vielsprachig, weit gereist, ein wacher, agiler Geist – und beseelt von der Vision einer russischen Nationalmusik, die im Ensemble der europäischen Nationalmusiken eine führende Rolle einnehmen und die der Komponistenkreis um Balakirev verwirklichen sollte. Worin bestand nun der Konflikt? Als Rubinstein, unterstützt vom Zarenhof, das Konservatorium eröffnete und – faute de mieux – vor allem ausländische Dozenten berief, wurde er von Stasov und seinem Kreis in der Presse heftig attackiert. Hintergrund dieser Fehde war das Spannungsverhältnis von Slavophilen und Westlern. Das Konservatorium war eindeutig eine westlich geprägte Institution mit der klaren Absicht, eine professionelle russische Musikkultur aufzubauen. In der formal ähnlich organisierten, seit langem etablierten Akademie der Bildenden Künste rebellierten um 1860 die Studenten unter der Führung von Ivan Kramskoj gegen die Vorgabe von klassizistischen Sujets für die Examensarbeiten; 1863 kam es zum Eklat – die jungen Künstler verweigerten die Vorgaben und damit das Examen, sie malten eigene Sujets und stellten sie außerhalb der Akademie aus. Dies war der Ursprung der „anti-akademischen“ Wanderausstellungen (peredvižnye chudožestvennye vystavki), die 1870 ins Leben gerufen wurden. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, daß die Gründung eines Konservatoriums aus der Sicht Stasovs und der Petersburger Komponisten einen Anachronismus und eine Behinderung bei der Herausbildung einer nationalen Kultur bedeutete. Also riefen sie – schon im März 1862 – die Bezplatnaja muzykal’naja škola (Musikalische Freischule) ins Leben; sie finanzierte sich über Konzerte, wurde nicht vom Hof unterstützt und etablierte sich im Lauf der Jahre vor allem als Gesangsschule. Der Konflikt zwischen Rubinstein, dem Hof, der Russischen Musikgesellschaft, dem Konservatorium einerseits – und Stasov, dem „Mächtigen Häuflein“, der Freischule andererseits ist typisch für den russischen, vor allem in Petersburg ausgelebten Selbstfindungsprozeß, wie ihn Nikolaj Černyševskij in seinem Roman Čto delat’? (Was tun? 1863) schildert. Dieser Konflikt kann auch als ein Symptom der generellen Umbruchsphase um 1860 verstanden werden. Er fand ein sichtbares Ende, als Rimskij-Korsakov sich 1872 bereit erklärte, eine Professur am Konservatorium zu übernehmen. Damit war der Grundstein gelegt für eine russische „Komponistenschule“, die bis weit ins 20. Jahrhundert reicht. Der Selbstfindungsprozeß der „russischen Schule“ Was die Charakteristika dieser „Schule“ ausmacht, hat Vladimir Stasov 1882/83 in programmatischer Zuspitzung in dem Aufsatz Unsere Musik in den letzten 25 Jahren dargelegt. Aus einer Reihe einleitender und in ihrer Ausschließlichkeit nicht haltbarer Behauptungen seien drei zitiert: Glinka glaubte, er schaffe nur eine russische Oper, aber er irrte sich. Er schuf die ganze russische Musik, eine ganze russische musikalische Schule, ein ganzes neues System. […] Die russische Schule existiert seit Glinkas Zeiten mit solchen eigentümlichen Zügen der Physiognomie, die sie von anderen europäischen Schulen unterscheidet. Die Petersburger Komponisten, auch Čajkovskij und die jüngere Generation, die aus beiden Konservatorien hervorging, teilte die Überzeugung, daß Glinka der Begründer einer spezifisch russischen musikalischen „Schule“ sei. In diesem Sinne formuliert Stasov eine comunis opinio. Die Begründung für die Einzigartigkeit aber, in der die Idee der Vorreiterschaft gegenüber anderen europäischen Ländern mitschwingt, liefert Stasov nicht; denn in seiner Perspektive wäre es quasi ehrenrührig einzugestehen, daß man Anregungen von Komponisten anderer Länder aufgegriffen hat. Noch ein wichtiger Zug bestimmt unsere neue Schule – es ist das Streben nach einem Nationalcharakter [nacional’nost’]. Das begann schon bei Glinka und setzt sich ununterbrochen bis heute fort. Bei keiner einzigen anderen europäischen Schule läßt sich ein solches Bestreben finden. Die historischen und kulturellen Bedingungen waren bei den anderen Völkern derart, daß das Volkslied – dieser Ausdruck der unmittelbaren, kunstlosen volkstümlichen Musikalität – bei der Mehrzahl der zivilisierten Völker fast vollkommen und schon seit langer Zeit verschwunden ist. Diese Unterstellung läßt deutlich erkennen, daß sich die russische Musik nach Stasovs Ansicht an die Spitze der europäischen musikalischen Avantgarden setze, weil sie als einzige auf eine lebendige Volksliedkultur rekurrieren könne. Abgesehen davon, daß dies angesichts der Werke etwa von Stanisław Moniuszko, Bedřich Smetana, Antonín Dvořák, Nils Gade, Filipe Pedrell oder George Enescu schlicht nicht zutrifft, ist die Gleichsetzung von „Nationalcharakter“ und „Volkslied“, die später im Sozialistischen Realismus unheilvoll revitalisiert wurde, schon im 19. Jahrhundert eine grobe und fahrlässige Verkürzung, was sich an Werken, die ohne expliziten Rekurs auf Volkslieder auskommen, leicht begreiflich machen ließe. Und Stasov muß zur Stützung seiner Behauptung den Paradigmawechsel, der in der europäischen Kunst im ausgehenden 18. Jahrhundert mit der Besinnung auf das Volkslied stattgefunden hatte, in eine spezifisch russische Errungenschaft umdeuten. Als weiteres Charakteristikum nennt Stasov das „östliche Element“: Nirgends sonst in Europa spielt dies eine so herausragende Rolle wie bei unseren Komponisten. Zum Beleg dient der Hinweis auf das alla turca bei Wolfgang Amadeus Mozart und auf Félicien Davids Symphonische Dichtung Le désert. Für Stasovs „östliches Element“ hat sich die Bezeichnung „Petersburger Orientalismen“ eingebürgert. Sie sind tatsächlich ein „Markenzeichen“ der russischen Komponisten. Als vornehmste Gattung galt den russischen Komponisten die Oper (vgl. die Übersicht S. 1274–1275). Zieht man die bedeutendsten Werke in Betracht, so zeigt sich, daß die russische Oper streng genommen ein Petersburger Phänomen ist. Die Übersicht verdeutlicht, daß es geraume Zeit dauerte, bis man in der Lage war, Opern zur Aufführung zu bringen – die ersten beiden Opern des „Mächtigen Häufleins“, Pskovitjanka und Boris Godunov, kamen 30 Jahre nach Ruslan i Ljudmila heraus. In der Übersicht wird auch deutlich, daß Rimskij-Korsakov spätestens seit 1880 der nahezu alleinige Vertreter der Petersburger „Schule“ ist. Er hat das durchaus als Verpflichtung verstanden, indem er kontinuierlich eine Oper nach der anderen herausbrachte und vor allem, indem er die unvollendeten bzw. nach seiner Einschätzung unvollkommen vollendeten Werke seiner verstorbenen Kollegen für die Nachwelt herrichtete bzw. später für diese Herrichtung Sorge trug. Nach Ansicht der Petersburger Komponisten stehen für eine Oper, welche die Prädikate „russisch“ und „national“ zu Recht trägt, nur zwei Richtungen zur Wahl – entweder große historische Stoffe und Epen (Pskovitjanka, Boris Godunov, Borodins unvollendet gebliebener Knjaz’ Igor’, Čajkovskijs Opričnik und Mazepa und Rimskij-Korsakovs Sadko) oder phantastische und Märchensujets, wie sie vor allem Rimskij-Korsakov vertont hat (Majskaja noč, Sneguročka). Die wenigen Opern, die dem von Glinka abgeleiteten Modell nicht folgen – Cezar’ Kjuis William Ratcliff und Angelo, Dargomyžskijs Kamennyj Gost’ (Steinerner Gast) – wurden im Selbstverständnis des Kreises und in öffentlichen Verlautbarungen dennoch als „russische Nationalopern“ deklariert. Die Argumentation für die Eingemeindung läuft über die Kompositionstechnik – die Einführung des durchkomponierten Rezitativs bzw. der Opéra dialogué, wobei auf geschlossene Nummern wie Arien, Ensembles, Chöre weitestgehend verzichtet wird. Diese Technik übernahmen die anderen Petersburger Komponisten, am deutlichsten Musorgskij, der sich in seiner nicht vollendeten Gogol’-Vertonung Ženit’ba (Die Heirat) streng an Dargomyžskij orientiert, im Boris Godunov aber wieder Chöre zuläßt. Das Modell dieses Operntyps, den Kjui und Stasov als Charakteristikum der russischen Nationaloper reklamieren, ist erstmals in Lohengrin verwirklicht – als erste Oper Richard Wagners am 4. Oktober 1868 in Petersburg aufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten Dargomyžskij, Musorgskij, Rimskij-Korsakov, Čajkovskij an Opern über nationale Sujets; noch keines dieser Werke war abgeschlossen. Aus Wagners Sicht war Lohengrin inzwischen ein überwundener Standpunkt; aus russischer Sicht muß diese Oper in vollendeter Form das verwirklicht haben, wonach man strebte: ein nationales und poetisches Sujet, das in archaische Vorzeit zurückweist und das technisch den kühnsten Fortschritt verkörpert. Entsprechend heftig polemisierten die russischen Komponisten gegen das Werk. Allein Vladimir Odoevskij erblickte in Wagner schon 1863 ein Vorbild sowohl für die Entwicklung einer nationalen russischen Schule als auch für den Kampf gegen den italienisch geprägten Moskauer Opernbetrieb. Daß die Konzeption einer russischen Nationaloper nach Glinka auch als produktive Wagner-Rezeption gelesen werden kann, hat der Moskauer Kritiker Hermann Laroche anläßlich der Wiederaufnahme des Lohengrin 1873 boshaft, aber im Kern zutreffend formuliert: Bei uns hatte man von Wagner noch keinen Begriff, als Serov sich mit der ihm eigenen Hitzköpfigkeit auf russische Art gegen seine [Wagners; D.R.] Gegner rüstete. In glänzendem Panzerhemd, mit Schwert und Schild, zog er auf seinem Kriegsroß hinaus aufs offene Feld und begann in absoluter Einsamkeit, nach rechts und links Schläge auszuteilen, wobei er sich einbildete, er erschlüge Wagners Gegner […]. Als Wagner 1863 zu Konzerten in Petersburg und Moskau herbeireiste, waren die Säle brechend voll. Einige Monate später wurde die Oper Judith, die deutliche Spuren eines starken Wagner-Einflusses trägt, im Mariinskij-Theater inszeniert und mitfühlend aufgenommen. Und dann folgten schon die Werke der „Neuen russischen Schule“ […]: William Ratcliff, Der steinerne Gast, Pskovitjanka, Boris Godunov – Werke, die niemals in der Form existieren würden, in der wir sie kennen, gäbe es nicht Lohengrin, Tristan und das Traktat über Das Kunstwerk der Zukunft. Die Verfasser dieser Opern […] kopieren […] technische Einzelheiten aus Wagners Stil: seine chromatische Schreibweise, seine unruhigen Modulationen, seine nicht endenden Dissonanzen, seine Instrumentation […]. Bemerkenswert dabei ist, daß der Presse-Herold dieser Richtung, der Feuilletonist der Sankt-Peterburgskie vedomosti [Cezar’ Kjui, D.R.] jede neue Erscheinung des Wagnerismus in Rußland begeistert begrüßt, Wagner selbst aber nicht anerkennt und ihn als unbegabt bezeichnet. Er hängt die neue Schule an die große Glocke, aber tadelt ihr Haupt; er predigt sozusagen den enthaupteten, […] den kopflosen Wagnerismus. Daß Wagners Idee des Musikdramas für die Konzeption der russischen Nationaloper eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte, läßt sich an den beiden Sujets ablesen, deren Verwirklichung Stasov so besonders am Herzen lag: das Ende des 12. Jahrhunderts entstandene Igor’-Lied, das älteste erhaltene Epos über die nationale Geschichte, und die Bylinen über Sadko, jenen legendären Novgoroder Kaufmann, Seefahrer, zugleich Sänger und Gusli-Spieler. In den Bylinen – mündlich tradierte Helden-Epen – verschmelzen älteste Geschichte, Mythen und Märchenelemente zu einer Einheit, die man im 19. Jahrhundert als Inbegriff des Poetischen empfand. Beide Themenkreise fanden seit den 1860er Jahren – in einer Phase nationaler Selbstbesinnung und nationaler Emanzipationsbestrebungen – ein stärkeres Interesse bei Historikern und Literaten. Daß sich zumal die Oper gerade dieser Stoffe annehmen müsse, wenn sie im Kontext der europäischen Kulturen einen führenden Platz einnehmen wolle, sah Stasov nur allzu deutlich. Wie weit seine Vision einer russischen nationalen Schule von internationalem Rang und die kompositorische Realität auseinanderlagen, läßt sich an der Korrespondenz ablesen. Bereits am 13. Februar 1861 schrieb er an Balakirev: Mir scheint, daß Sie sich mit dem Lear [einer Musik zu Shakespeares Schauspiel, D.R.] und noch ein, zwei Dingen von der allgemeinen europäischen Musik für immer verabschieden und schon bald zu der Sache übergehen werden, für die Sie geboren wurden: die neue, große, ungehörte, ungesehene russische Musik, noch neuer in ihren Formen (und vor allem im Inhalt), als die, die Glinka zum allgemeinen Skandal eingefallen war. […] Sie selbst haben mich nach der russischen Wasser-Mythologie gefragt. […] Erinnern Sie sich, ich bin auf das „Matrosen-Lied“ gestoßen [gemeint ist der Matrosenchor aus dem dritten Akt des Fliegenden Holländers], dieses Bürokratenstück, diesen „Gemeinplatz“, den jeder gewöhnliche Kerl in Musik steckt. […] Etwas ganz anderes ist Sadko, der auf goldenen Gusli in der Hütte des Meereszaren spielt und ihn zu immer wilderem Tanzen animiert! Das wäre ein Pendant zu Glucks Orpheus, nur mit einem ganz anderen Sujet und – in russischer Art. Balakirev vertonte den Sadko nicht, er gab das Sujet an Musorgskij weiter, der auch ablehnte; Rimskij-Korsakovs kleine Symphonische Dichtung Sadko war 1867 vollendet. Als Rimskij-Korsakov in den 1890er Jahren an der Oper arbeitete – zu einer Zeit, als sich die Idee der Nationaloper bereits überholt hatte –, ermunterte Stasov ihn: „Unser Sadko ist die russische Wiederholung des griechischen Odysseus.“ Es ist kein Zufall, daß sich bei Stasov zwei Assoziationen überlagern: Die mythische Figur des Sadko – ein Sänger-Künstler wie Orpheus und ein erfindungsreicher Seefahrer wie Odysseus – eignete sich in besonderem Maße, die aktuelle (nationale) Kunst in den Kanon klassischer Kunstwerke einzugliedern, ja einen Anspruch auf das Erbe der Meisterwerke der griechischen Antike geltend zu machen. Mit ähnlichem Nachdruck und letztlich gleichfalls ohne Erfolg trieb Stasov das Igor’-Sujet voran. Das Szenarium entwarf er im April 1869 und schickte es an Borodin; ein Jahr zuvor war eine Studie über Die Herkunft der russischen Bylinen entstanden, in der Stasov das Igor’-Lied in die Tradition der Bylinen einreiht und als poetisches Dokument der frühesten nationalen Geschichte würdigt. Das Sujet gewann für Stasov an Dringlichkeit, nachdem er im September 1869 nach München gereist war, um die Uraufführung des Rheingold mitzuerleben. Aus seinem insgesamt eher kritischen Pressebericht geht hervor, daß er genau erkannte, welch ein Opus maximum sich im Ring des Nibelungen anbahnte und welch überragende Bedeutung ihm zukommen würde: Einst kam ihm in den Sinn, daß man ein solches Sujet nehmen müsse, das, wenn es sich mit seiner, Wagners, Musik verbindet, ein großes nationales Monument der deutschen dramatischen Kunst entstehen müsse. Daher wählte er denn auch jene Dichtung, die viele gutherzige Deutsche von jeher für etwas in der Art ihrer heimischen Ilias und Odyssee halten – und das sind die Nibelungen. Es lag nahe, daß von dem Augenblick an, wenn Wagners Nibelungen erscheinen, die deutsche Kunstwelt um ein bedeutendes Werk reicher sein würde, ein Werk, das von seiner musikalischen Seite her ein vollkommenes Pendant zu den beiden Dichtungen Homers darstellt. Aus Stasovs Sicht begann mit der Uraufführung des Rheingold quasi ein Wettlauf der Nationen um die Verwirklichung einer Oper, d.h. eines Gesamtkunstwerks, das das Erbe der griechischen Antike vor allen anderen beanspruchen darf. Da Borodin mit dem Knjaz’ Igor’-Projekt nicht vorankam, es zeitweise sogar ganz fallen ließ, bedrängte Stasov Rimskij-Korsakov, das Sujet zu übernehmen. Die Uraufführung des Knjaz’ Igor’ fand am 23. Oktober 1890 statt, in einer Fassung, die Rimskij-Korsakov und Glazunov aus Borodins Manuskripten und eigenen Ergänzungen kompiliert hatten. Petersburger Musik als Synonym für russische Musik Stasovs Vision einer russischen Nationaloper im emphatischen Sinne, verwirklicht von Petersburger Komponisten, nahm erst seit den späteren 1880er Jahren Gestalt an, zu einer Zeit, als sich das Verständnis von nationaler Kunst im Zeichen von Emanzipation und internationaler Solidarität längst in eine Art frühen Kulturimperialismus zu verlagern begann und sich die Idee der Nationaloper in Richtung nationaler Selbstherrlichkeit verhärtete. Als weithin sichtbares Zeichen dafür wurde die Uraufführung des Ring des Nibelungen 1876 in Bayreuth betrachtet. In einem solchen Kontext ist das Denken über Musik von zeittypischen Kategorien wie Wettkampf und Rivalität geprägt, Kategorien, die der Kunst fremd sein sollten. Dieses Denken geht vom Streben nach Priorität aus, die es in der Kunst in meßbarer Form nicht geben kann. Zugleich schließt es die Überlegung aus, daß Kunst und das, was man im 19. Jahrhundert als Fortschritt in der Kunst anstrebte, nur im Dialog von Kulturen möglich ist. Gibt man diesen interkulturellen Austausch zu, kann deutlich werden: Die Petersburger Komponisten haben viel von ihrem selbsternannten Vater Glinka gelernt, dessen spezifisches Russisch-Sein ein Ergebnis des interkulturellen Dialogs ist, und sie haben sich ebenso bei Wagner bedient und daraus etwas Spezifisches, Unverwechselbares geschaffen. Unter dem Aspekt des Austauschs muß Stasovs These, welche die Grundlage für die sowjetische Musikgeschichtsschreibung lieferte, umgekehrt und gesagt werden: Gerade weil sich die Petersburger Komponisten empfänglich für die Verfahren Wagners und auch Giacomo Meyerbeers zeigten, weil sie sich konstruktiv mit diesen Werken auseinandersetzten und dieser Austausch stattfand, konnte eine Musik entstehen, die in Rußland und im Ausland als spezifisch russisch wahrgenommen wird. Daß es wirklich um Austausch und Dialog geht, zeigt der Export des Petersburger Repertoires an der Wende zum 20. Jahrhundert. 1906 organisierte Sergej Djagilev, der Begründer der Gruppe und Zeitschrift Mir iskusstva (Welt der Kunst), in Paris eine Ausstellung russischer Ikonen. 1907 veranstaltete er eine Konzertreihe mit russischer Musik. Und 1908 brachte er Boris Gudonov in Rimskij-Korsakovs Bearbeitung mit Fedor Šaljapin in der Titelrolle heraus. 1909 folgte dann die erste Saison russe in Paris, eine Ballettreihe, bei der u.a. die „Polovecer Tänze“ aus Knjaz’ Igor’ erklangen. Mit dem Export schuf Djagilev die Voraussetzungen für das, was von da an im Ausland als russische Musik galt und was Stasov in seinem musikgeschichtlichen Essay als charakteristisch festgelegt hatte: den Rekurs auf Folklore im weitesten Sinne, meist gekoppelt mit breit angelegten Chorpartien und von kaukasischer Musik inspirierte Exotismen. Diese „Petersburger Orientalismen“ führen bis zu Igor’ Stravinskij, der sie im Feuervogel mit großer Virtuosität einsetzt. Der Feuervogel hatte 1910 in Djagilevs zweiter „Saison russe“ Premiere. Der Rückgriff auf Folklore gewinnt in Petruška (1911) und im Sacre du printemps (1913) eine neue technische und ästhetische Dimension, welche die Musik des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat. Die Stilmittel, die den Petersburger Komponisten und ihrem Vordenker Stasov als realistischer Ausdruck einer nationalen Musikkultur gegolten hatten, ordneten Djagilev und Stravinskij in ein strenges L’art-pour-l’art-Prinzip ein; die russische Herkunft war ihnen Nebensache im Verhältnis zu den abstrakten, aber durch Schmuck und Bewegung gleichsam erotisierten Formen. Am Beispiel der Musikgeschichte Petersburgs lassen sich also zwei Paradigmenwechsel ablesen, die für die gesamte europäische Kulturgeschichte charakteristisch sind: Erstens zeigt sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert der Wandel von einem in der Musik italienisch bestimmten Selbstverständnis und der Orientierung an einem in ganz Europa geltenden Stilideal hin zu einem Selbstverständnis, das sich über nationale Wurzeln definiert, wobei man die Vielfalt dieser Wurzeln als „Stimmen der Völker“ europaweit schätzte. Zweitens vollzieht sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Wandel von einer Ästhetik, welche die Kunst als national begreift und die durchaus nationalistische Verengungen aufweisen kann, hin zu einer Ästhetik, die solche nationalen Elemente als Bausteine innerhalb eines international geprägten L’art pour l’art versteht. Diese Wende wollte oder konnte die ältere Generation (Rimskij-Korsakov, Kjui, Stasov, Aleksandr Glazunov) nicht nachvollziehen. Unabhängig von diesen Überlegungen stammt das, was Djagilev als „russische Musik“ in den Westen exportierte, nahezu ausnahmslos aus Petersburg; auch die Stilmittel, die man bei Čajkovskij als „russisch“ empfindet, haben ihre Wurzeln in der Petersburger Musikästhetik. Die sogenannte russische Musik ist streng genommen eine Petersburger Erfindung.
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