Titelbild Osteuropa 9-10/2003

Aus Osteuropa 9-10/2003

Auf der Suche nach Europa
Der politische Diskurs in Rußland

Vjačeslav Morozov

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Abstract

Rußland diskutiert seit Jahrhunderten über seinen Platz in Europa und sein Verhältnis zum Westen. Der Westen wird meist als Bedrohung gesehen, der Rußland mit wesensfremden Elementen überströmt und das Land kolonisiert. Das Bild von Europa hingegen ist ambivalent. Mal kann Europa als Teil des feindlichen Westens betrachtet werden, als falsches Europa, mal als „wahres“ Europa, dem Rußland wie selbstverständlich zugehört. Auch im vergangenen Jahrzehnt bewegte sich der außenpolitische Diskurs über Rußlands Platz in Europa und sein Verhältnis zum Westen im Rahmen dieser mentalen Landkarten. Die NATO-Osterweiterung und der Krieg gegen Jugoslawien betrachtete die verunsicherte politische Klasse als Ausdruck einer Verirrung Europas. Seit dem Amtsantritt Vladimir Putins hat sich das Europa-Bild deutlich gewandelt.

(Osteuropa 9-10/2003, S. 1501–1514)

Volltext

Kann· Rußland als vollwertiger Teil Europas angesehen werden? Diese Frage läßt der Intelligencija Rußlands in den letzten Jahrhunderten keine Ruhe. Es versteht sich, daß die „richtige“ Antwort auf diese Frage niemals gefunden werden wird, da sie im Prinzip unmöglich ist. Aber die Anstrengungen der Westler, Slavophilen und ihrer Nachfolger, der Panslavisten, Eurasier, „Atlantiker“ und anderer, wie auch immer sie etikettiert werden, verhallen keineswegs vergeblich. Ihre verbalen Schlachten sind ein äußerst interessantes Studienobjekt. Die eingehende Beschäftigung mit diesem Material ermöglicht ein bei weitem tieferes Verständnis dessen, was Rußland ist und was für ein Selbstverständnis es im Verhältnis zur umliegenden Welt hat, als Versuche, bestimmte „objektive“ Kriterien aufzustellen, die es erlauben würden, unser Land zur europäischen, eurasischen oder jeglicher sonstigen „Zivilisation“ zu zählen. Die Diskussion um die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa bezeugt eindrucksvoll die Paradoxie und Widersprüchlichkeit im Selbstverständnis der rußländischen Gesellschaft. Das erste Paradox liegt an der Oberfläche und besteht darin, daß rußländische Politiker, Wissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich bemüßigt fühlen, fortwährend die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa als eine Selbstverständlichkeit zu betonen. Im folgenden werden nur einige der bezeichnendsten Beispiele jüngeren Datums angeführt: „Wir sind Europäer“, erklärt Michail Gorbačev in seinem programmatischen Buch, das die Idee des gemeinsamen europäischen Hauses begründet. Vladimir Kantor betitelt sein Buch mit einem Zitat aus der „Instruktion“ Katharinas II („Rußland ist eine europäische Macht“) und unterstreicht im Untertitel das Bestreben des Landes, in die „zivilisierte Welt“ einzutreten. „Rußland war, ist und wird ein europäisches Land sein“, deklariert der Leiter des Zentrums für Internationale Studien des USA- und Kanadainstitutes der Rußländischen Akademie der Wissenschaften, Anatolij Utkin. Die Bekräftigung der Zugehörigkeit Rußlands zu Europa ist auch eines der am häufigsten erwähnten Lieblingsthemen des Außenministers Igor’ Ivanov. Folgendes Zitat ist nicht die neueste, aber eine seiner bezeichnendsten Äußerungen: Rußland ist ein integraler Bestandteil des europäischen Kontinents und seiner Zivilisation. Es kann kein Rußland ohne Europa geben, ebenso wenig wie es ein Europa ohne Rußland geben kann. Schließlich liegt auch dem Präsidenten Vladimir Putin ein ähnliches Pathos nicht fern: In einer seiner Ansprachen zur Feier des dreihundertjährigen Jubiläums der nördlichen Hauptstadt beharrte er insbesondere darauf, daß „gerade hier, in Petersburg, besonders deutlich wird, daß Rußland in historischer und kultureller Hinsicht ein nicht wegzudenkender Teil Europas ist“. Äußerungen solcher Art wiederholen sich so häufig, daß sie schon kaum noch wahrgenommen werden. Das Paradox besteht aber darin, daß sie, indem sie die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa immer wieder als unbestreitbare Tatsache betonen, gleichzeitig davon zeugen, daß diese Zugehörigkeit von der Gesellschaft und den politischen Eliten als tief problematisch empfunden wird. In der Tat sind diejenigen sozialen Erscheinungen am stabilsten, über die sich die Menschen nicht ohne besonderen Anlaß Gedanken machen ﷓ so zum Beispiel der Brauch, sich bei einem Treffen zu begrüßen, oder die Verwendung von Geld als universales Wertmaß und Zahlungsmittel. Wenn eine Tatsache aber fortwährend als unbestreitbar postuliert werden muß, führt dies umgehend dazu, daß ihre Unbestreitbarkeit wieder angezweifelt wird. Darüber hinaus verrät die Sprache des politischen Alltags beständig die Doppelnatur der Vorstellungen der Russen über ihr Land und seinen Platz in Europa: Neben der Idee von Rußland als einem europäischen Land zeigt sich im rußländischen politischen Diskurs nicht weniger deutlich eine Opposition „Rußland – Europa“ oder zumindest ihre Wahrnehmung als zwei separate Welten. In seiner oben zitierten Rede reflektierte Präsident Putin auch die „wechselseitige Durchdringung der Kulturen Rußlands und Europas“ – eine etwas sonderbare Formulierung, wenn man als gegeben ansieht, daß Rußland ein nicht wegzudenkender Teil Europas sei. In der Tat würde es kaum jemandem in den Sinn kommen, von der wechselseitigen Durchdringung der Kulturen Italiens und Europas oder etwa Petersburgs und Rußlands zu sprechen. Ein Teil und das Ganze können sich nicht wechselseitig durchdringen. Das Problem stellt sich natürlich nur für Rußland auf diese Weise. Auch in Großbritannien, Norwegen und Schweden wird häufig mit Bezug auf Kontinentaleuropa südlich des Kanals und des Skagerrak über die Ereignisse „in Europa“ gesprochen und geschrieben. Mehr noch, auch in der Koexistenz widersprüchlicher Behauptungen innerhalb eines politischen Diskurses liegt nichts Unmögliches oder Einzigartiges. Dies widerspiegelt lediglich die Vielschichtigkeit der rußländischen nationalen Identität und die Schwierigkeiten bei der Selbstbestimmung der rußländischen Gesellschaft im Verhältnis zu einem solch mehrdeutigen Anderen wie Europa. Die Vielschichtigkeit kann jedoch von unterschiedlicher Natur sein, und es lohnt ein Versuch, sich darüber klarzuwerden, auf welche Weise die Idee Europas im Diskurs über die rußländische nationale Identität hervorgebracht wurde. „Europa“ und der „Westen“ Zu bemerken ist vor allem eine fast offensichtliche, aber nicht immer deutlich bewußte Tatsache: „Europa“ ist für die rußländischen Intellektuellen ganz und gar nicht dasselbe wie der „Westen“, mehr noch, es ist auch kein Teil des „Westens“. Der deutlichste Unterschied im Gebrauch der Termini „Europa“ und „Westen“ besteht darin, daß der erste so gut wie nie zur Bezeichnung von Rußland feindlich gesonnenen Mächten gebraucht wird. In den Reden der einheimischen Propheten in Sachen Geopolitik steht Rußland der Westen gegenüber, nicht aber Europa. Andererseits ist Rußland Teil Europas, aber nicht des Westens. In den oben angeführten Äußerungen über die Zugehörigkeit Rußlands zur europäischen Zivilisation kann das Wort „Europa“ kaum durch das Wort „Westen“ ersetzt werden. Wenn Bekräftigungen der Zugehörigkeit Rußlands zu Europa in der rußländischen Polemik bereits seit langem zum Gemeinplatz geworden sind, konnte sich dagegen bis zu den Ereignissen des 11. September 2001 keiner der mehr oder weniger bekannten Politiker, Journalisten oder Forscher dazu durchringen, die Zugehörigkeit Rußlands zum Westen zu erklären. Selbst Politiker wie Egor Gajdar oder Andrej Kozyrev, die sich selbst erklärtermaßen als Westler sehen, äußern sich nur zur Notwendigkeit, in Rußland „Systeme aus Institutionen der Zivilgesellschaft und zum Schutz bürgerlicher Freiheiten“ zu schaffen und zur Notwendigkeit das Land an den „Pol der am meisten entwickelten und respektierten Staaten der heutigen Welt“ anzuschließen. Hier haben wir es mit der Modalität des Sollens zu tun und nicht mit der Bestätigung einer vollendeten Tatsache. Der Terminus „Westen“ wird in einem solchen Kontext in der Regel äußerst vorsichtig verwendet. Bereits diese einfache Beobachtung widerlegt die Annahme daß die Begriffe „Westen“ und „Europa“ zwei Mengen seien, deren erste die zweite vollständig einschließt. Als näher an der diskursiven Realität erweist sich ein Schema mit zwei sich überschneidenden Mengen, in dem „Westen“ nur den westlichen Teil Europas umfaßt, während die Länder Mittel- und Osteuropas und Rußland Teil der Menge „Europa“ sind, aber nicht Teil der Menge „Westen“. In der Tat reproduziert der rußländische Diskurs bereitwillig eine Vorstellung über Mittel- und Osteuropa, die an und für sich das Resultat einer sozialen Konstruktion räumlicher Bilder ist und die das Verhältnis von Herrschaft und Unterordnung im heutigen Europa widerspiegelt. Obwohl der rußländische Diskurs die westeuropäische Definition „Mittel- und Osteuropas“ als Länder, die die volle Integration in NATO und Europäische Union und damit auch den Beweis ihres „Europäertums“ zum Ziel haben, übernimmt, beschränkt er sich nicht auf diese Entlehnung. „Europa“ und „Westen“ erscheinen in ihm als eigenständige Begriffe, von denen jeder seine Rolle in der Diskussion um den Platz Rußlands in der heutigen Welt spielt. Eine für die rußländische Diskussion höchst charakteristische Gegenüberstellung Europas und des Westens, in der der Westen als eine Art destruktive Macht auftritt, die beständig versucht, das europäische Gleichgewicht zu stören, führt häufig dazu, daß der Westen als aktives, handelndes Prinzip erscheint, während Europa dagegen das passive, leidende Prinzip verkörpert; den Schauplatz diplomatischer Auseinandersetzungen und militärischer Konfrontationen. Besonders deutlich wurde dies während der Kosovo-Krise. Der Mitarbeiter des Moskauer Instituts für sozialpolitische Forschung (Institut social’no-političeskich issledovanij, ISPI), Viktor Levašov, beschrieb die Kriegshandlungen gegen Jugoslawien als Versuch der Vereinigten Staaten, „mit Hilfe der NATO als einer militärischen Allianz Europa umzugestalten“. Igor’ Ivanov charakterisierte die möglichen Folgen der Kosovo-Krise so: Die Kriegshandlungen der NATO werden in die Geschichte Europas am Ende des 20. Jahrhunderts als eines der tragischsten Kapitel eingehen […] Der Kosovo bleibt eine blutende Wunde im Körper Europas […] Ist es möglich, daß dies alles in den Hauptstädten der westlichen Länder nicht gesehen wird? In all diesen Äußerungen tritt der Westen bzw. die USA und NATO als Subjekt der Handlung auf, während Europa das Objekt verkörpert, auf das diese Handlung gerichtet ist. Seine Vollendung findet dieses Denkmuster in einem für Studenten der Moskauer Akademie des Innenministeriums (Moskovskaja akademija MVD) bestimmten Lehrbuch Valerij Kudinovs in der Metapher von einer „Besetzung Europas“ durch die USA „mit Hilfe des Dollars und der NATO“. Selbstverständlich erinnern all diese Zitate an die alte, auf Vladimir Solov’ev und Nikolaj Berdjaev zurückgehende Tradition der Gegenüberstellung des Westens als männliches Prinzip und Rußlands als weibliches Prinzip, die verschiedene Denker wiederholt zur Idee einer fruchtbaren Synthese beider Prinzipien führte. Gleichzeitig ist offensichtlich, daß die Struktur des heutigen rußländischen politischen Diskurses eine etwas andere ist: Hier erscheinen Rußland und der Westen als zwei miteinander konkurrierende männliche Prinzipien, die um den Besitz Europas kämpfen. Dabei besteht die Mission Rußlands darin, Europa vor seiner Einverleibung durch den Westen zu retten und seine Eigenart zu verteidigen. So führte beispielsweise der ehemalige stellvertretende Außenminister Evgenij Gusarov mit Bezug auf die „Idylle“ des byzantinischen Wandermönchs Moschos ein vergleichsweise unbekanntes Detail des Mythos von der Entführung der Europa an: Die Geschichte vom Traum Europas, der Tochter Agenors, unmittelbar vor ihrer Entführung: Sie sah, wie Asien und der Kontinent, der von Asien durch das Meer getrennt ist, in Gestalt zweier Frauen miteinander um sie kämpften. Jede der Frauen wollte Europa besitzen. Asien wurde besiegt und mußte nachgeben. Europa wachte voller Schrecken auf […] Demütig begann die junge Tochter Agenors zu beten, daß die Götter das Unglück von ihr abwendeten […] Da retteten die weisen Götter des Olymp Europa: Zeus selbst verwandelte sich in einen goldenen Stier, entführte die Schönheit nach Kreta und versteckte sie dort. Europa blieb Europa. Bemerkenswert ist, daß solche Andeutungen eines Vergleichs Rußlands mit Zeus, der Europa entführt, auch in Estland, Lettland und Litauen bekannt sind, wo die Annektierung durch die Sowjetunion im Jahre 1940 analog interpretiert wird. Es versteht sich, daß die Metapher in diesem Fall ausschließlich negativ konnotiert ist, wogegen sie der rußländische stellvertretende Außenminister als positives Bild verwendet. Gusarov bemühte sich, die Verwundbarkeit Europas angesichts der amerikanischen Expansion zu betonen, die Europa seiner Identität zu berauben drohe und Europa zu etwas sich selbst Unähnlichem werden lasse. Hierdurch begründe sich die Bedeutung der historischen Mission Rußlands, das sich zum Schutze der einzigartigen europäischen Kultur erhebe und versuche, alles daranzusetzen, daß „Europa Europa bleibt“. Die Annäherung Rußlands an die Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 hat das Verhältnis der Begriffe ein wenig verändert und sogar Äußerungen wie „Der Platz unseres Landes ist im Westen“ möglich gemacht. Nur eine aufmerksame Analyse des Standpunktes des Autors, des ehemaligen ersten Vertreters des Außenministers, Anatolij Adamišin, zeigt, daß die USA für ihn trotz allem die Rolle des Anderen spielen, dem gegen dessen Widerstand die Annäherung Rußlands und Europas verlaufen muß. Weiter formuliert Adamišin eine mögliche Variante des alten und neuen Selbstverständnisses Rußlands und führt Frankreich und England als Beispiele an ﷓ die wie Rußland ein Imperium verloren haben, dabei aber sie selbst geblieben sind, d.h. ihre Identität erhalten haben: Der Schutz zivilisierter Vielfalt und Fülle erscheint in der heutigen Welt besonders unter den Bedingungen amerikanischer Übermacht als höchst aktuelle Mission. Diese könnte Rußland könnte in vielerlei Hinsicht übernehmen. Solche und ähnliche Betrachtungen sind in der rußländischen öffentlichen Diskussion im Überfluß vorhanden. Gewöhnlich gehen sie von einer den meisten Autoren offenkundig erscheinenden Voraussetzung der Überlegenheit der „hohen“ europäischen Kultur über die amerikanische „Massenkultur“ aus. Die Absurdität dieser Annahme, wenn sie absolut gesetzt wird, wird besonders augenfällig im Versuch, sie empirisch zu begründen: Dann sinkt das Niveau der Argumentation unausweichlich und die Autoren behaupten, daß die unkultivierten Amerikaner zu viele Hamburger essen, während die aufgeklärten Europäer vorzugsweise auf den „prestigeträchtigen Konsum einzigartiger und seltener Waren und Lebensmittel ausgerichtet sind“. „Wahres“ und „falsches“ Europa Somit können die Begriffe „Westen“ und „Europa“ im rußländischen politischen Diskurs, indem sie als sich überschneidende Mengen erscheinen, sich sowohl gegenüberstehen, als auch einander ergänzen. Dabei ist auch das Europabild in der rußländischen Diskussion um die Rolle Rußlands in europäischen und globalen Fragen nicht auf eine einfache, eindeutige Definition zu reduzieren. Ole Wæver schreibt zur Frage des europäischen Selbstverständnisses in den nordeuropäischen Ländern: „Eines der wichtigsten Elemente jeder außenpolitischen Weltanschauung besteht darin, sich ein Europa vorzustellen, das mit der Weltanschauung der Nation oder des Staates, um den es geht, vereinbar ist.“ Diese These gilt auch in vollem Maße für Rußland. Wie die Analyse des rußländischen Diskurses zeigt, können als Resultat der „Vorstellung von Europa“ auch kompliziertere Konstruktionen entstehen, die den Rahmen der binären Oppositionen „Rußland – Westen“ und „Rußland – Europa“ überschreiten. Eine dieser Konstruktionen ist die Gegenüberstellung eines „wahren“ und „falschen“ Europas, die zuerst von Iver Neumann beschrieben wurde. Anscheinend läßt sich die Behauptung aufstellen, daß durch eine Reihe historischer Gründe in der rußländischen Gesellschaft das Gefühl einer Sonderstellung im Verhältnis zu Europa und der Wunsch, seine Eigenart zu erhalten, ausgeprägter sind, als in den meisten anderen europäischen Kulturen. Um so greifbarer ist aber auch die Furcht vor Isolation; die Angst, „sich im Hinterhof Europas wiederzufinden“ , in der Lage eines Parias der europäischen Zivilisation. Über Jahrhunderte wird diese Angst mit Hilfe der Konstruktion eines „wahren Europas“ überwunden, einer Art Projektion der rußländischen Werte und Prioritäten auf den ganzen Kontinent. Dagegen wird das Rußland „feindselig gesonnene“ Europa als nicht vollkommen europäisch beschrieben; es hat die wirklichen europäischen Werte verloren und lebt entgegen den von ihm selbst deklarierten Regeln. Ebendieses Konstrukt bezeichnet Neumann als „falsches Europa“. Hier handelt es sich nicht mehr um ein duales Modell, sondern um eine Triade. Entgegen der These Jurij Lotmans zur „prinzipiellen Polarität“ der russischen Kultur, die ihren Ausdruck in der „dualen Natur ihrer Strukturen“ finde, ist hier ein Prozeß der diskursiven Konstruktion nicht nur eines feindlichen Anderen (des Westens oder des „falschen“ Europas) zu beobachten, sondern auch eines freundschaftlichen Anderen, des „wahren“ Europas, das entweder Ebenbild eines idealisierten Rußlands ist, oder im Gegenteil nachahmenswertes Vorbild, eine ideale Gesellschaft, zu der Rußland am Ende der Geschichte werden soll. Dies zu betonen ist um so wichtiger, als daß die Konstruktion dualer Modelle und erst recht ihre Verabsolutierung nicht nur diese Gegenüberstellung beschreiben, sondern sie auch selbst reproduzieren. Sie rechtfertigen ihre Existenz mit Hilfe von Begriffen wie „kulturelles Gedächtnis“ und verurteilen uns letztlich zu einem ewigen „nach außen Wenden“ (vyvaračivat’ na iznanku) der Antithesen „Rußland – Westen“, das sich mal in unbändiger Bewunderung des Westens ausdrückt, mal in einer ebenso radikalen Ablehnung westlicher Werte. Da nach Lotman gerade die prinzipielle Dualität gestattet, „von der Einheit der russischen Kultur in verschiedenen Etappen ihrer Geschichte zu sprechen“ , muß angemerkt werden, daß auch das triadische Modell für die rußländische Kultur seit Jahrhunderten charakteristisch ist. Bereits die Doktrin vom „dritten Rom“, die ein deutliches Element der Opposition Rußlands zu Europa und der orthodoxen Religion zum Katholizismus enthielt, stärkte gleichzeitig die Rolle Moskaus als Hüter echter christlicher, d. h. europäischer Werte und Anführer der wahren christlichen Welt, eine Rolle, die Rußland nach dem Fall Roms und Byzanz’ übernahm. Natürlich konnte die Doktrin des „dritten Roms“ mit verschiedenen politischen Inhalten gefüllt werden. Es ist aber offensichtlich, daß sie keineswegs auf einer wesenhaften Opposition Rußlands und des Westens als zweier einzelner, sich selbst genügender „Zivilisationen“ bestand. Im Gegenteil war die Rede von der fundamentalen Gemeinsamkeit der Ursprünge und von der Treue Moskaus zur „wahren“ europäischen Tradition. Die energische Außenpolitik Peters I. und vor allem der Durchbruch zur Ostsee und die Gründung der neuen Hauptstadt, einer Art idealen europäischen Stadt, zeigt mit aller Deutlichkeit, daß auch dem Zaren und Reformatoren die Idee der Behauptung Rußlands als Zentrums eines „wahren Europas“ nicht fremd war. Ein weiteres kennzeichnendes Beispiel für die Bemühungen des rußländischen Staates zur Konstruktion eines „wahren Europas“ um Rußland ist die Gründung der Heiligen Allianz, die sich die Verteidigung der „wahren europäischen“ monarchistischen Werte vor dem „falschen“ revolutionären Europa zum Ziel gesetzt hatte. Während der konservativ-bewahrende, auf die Stellung des Staates gerichtete Diskurs die „falschen“ revolutionären Ideen als Bedrohung wahrer europäischer monarchistischer Werte interpretierte, betrachtete sowohl die Opposition der revolutionären Demokraten als auch der počvenniki das Europa ihrer Zeit als „falsches“ und sah das wirkliche europäische Ideal in der Zukunft. Die Gegenüberstellung eines „wahren“ und eines „falschen“ Europas zeigt sich offensichtlich in den Arbeiten der Slavophilen und ihrer Nachfolger, und dabei besonders bei denen, die sich den Ideen des Sozialdarwinismus in seiner Anwendung auf die historische Entwicklung unterschiedlicher Völker und ihrer wechselseitiger Beeinflussung verschrieben. In der sowjetischen Ideologie blieb die Opposition eines „wahren Europas“ (zu deren höchster Verkörperung die UdSSR wurde) zum kapitalistischen „falschen Europa“ aktuell. Nach Iver Neumann erreichte der sowjetische Diskurs lediglich zur Zeit der stalinistischen Repressionen in den 1930er Jahren einen solchen Grad der Binarisierung, daß die gesamte äußere Welt zur „feindlichen Umgebung“ erklärt wurde und sich die Kategorie eines „falschen Europas“ somit erübrigte. Ende der 1940er Jahre erscheint das Thema des „wahren“ und „falschen“ Europas erneut im offiziellen Diskurs; nicht zuletzt aufgrund der Entstehung des „sozialistischen Lagers“. In den 1950er Jahren werden in der sowjetischen Propaganda und der „scientific community“ die Europäischen Gemeinschaften, die Vorgänger der Europäischen Union, zum Prototyp des „falschen“ Europas: Sie seien eine Verkörperung der antinationalen Idee der kapitalistischen Integration, die zwangsläufig gegen die Werktätigen gerichtet sei. Als wichtigste Verkörperung des „falschen“ Europas trat im einheimischen Diskurs in den vergangenen fünfzig Jahren allerdings die NATO auf – als Triebwagen des amerikanischen Einflusses auf dem europäischen Kontinent. Bereits in den 1950er Jahren genügte es, zum Beweis des antisowjetischen Charakters jedes beliebigen Vorhabens, wie etwa der europäischen wirtschaftlichen Integration, auf seine Verbindung zur NATO hinzuweisen, die als eine Art Verkörperung des absolut Bösen angesehen wurde. In der postsowjetischen Periode wird der Widerstand gegen die Pläne zur Osterweiterung der Allianz zum Leitmotiv der rußländischen Außenpolitik. Typisch für das Denken der Mehrheit der rußländischen außenpolitischen Elite dieser Periode war, daß sie auf der einen Seite eingestand, daß es keine ernsthafte militärisch-strategische Bedrohung seitens der Allianz gebe. Dies hinderte andererseits aber Experten etwa vom Schlage Sergej Karaganovs jedoch nicht daran zu erklären, daß die „Erweiterung der NATO den nationalen Interessen Rußlands zuwiderläuft“, da sie „ein Gefühl der militärisch-politischen Isolierung Rußlands“ entstehen und „antiwestliche und militaristische Tendenzen im gesellschaftlichen Bewußtsein“ wiederaufleben ließe. Eine solche eklektische Kombination eines realistischen Begriffes von objektiven nationalen Interessen mit „politisch-psychologischen“ Erklärungen erzeugte ein in sich geschlossenes und auf seine Art unwiderlegbares Argument: Wenn die Erweiterung der NATO eine Bedrohung darstellt, muß ihr entgegengewirkt werden, aber da dieser Widerstand selbst nicht im Vakuum stattfindet, verstärkt er in der Gesellschaft zwangsläufig das Gefühl der Bedrohung. Auf diese Weise verstärkt die Abwehr von Bedrohung lediglich die Bedrohung selbst und schafft ein riesiges Betätigungsfeld für Experten, die mit der Ausarbeitung von Gegenmaßnahmen beschäftigt sind. Andererseits wurden alle diejenigen Mächte, die sich den USA entgegenstellten, in Rußland als Verbündete betrachtet. Die bis heute in der rußländischen Gesellschaft vorhandene Sympathie für den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosević erklärt sich weniger aus einem Gefühl der „slawischen Bruderschaft“ als vielmehr damit, daß Milosević die „Souveränität und Unabhängigkeit“ Serbiens angesichts des „NATO-Kolonialismus“ verteidigte. Eine weitere Verkörperung des „falschen“ Europas im rußländischen politischen Diskurs an der Schwelle zum neuen Jahrtausend waren die drei baltischen Staaten. Die Rolle des „falschen“ Europas wurde für sie bereits zu Beginn der 1990er Jahre dauerhaft reserviert, aber besonders häufig wurde diese Konstruktion in den Jahren 1998﷓2000 verwendet, als sich die bilateralen Beziehungen enorm verschlechterten. Im Zusammenhang mit regelmäßigen Märschen von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS durch die Innenstadt von Riga und Prozessen gegen ehemalige Angehörige sowjetischer Militär- und Polizeibehörden in Lettland und Litauen beschuldigten rußländische Diplomaten, Politiker und Journalisten die Regierungen der baltischen Staaten systematisch einer faschistischen Gesinnung. Als einige politische Kräfte in den baltischen Staaten kompromißlos die Forderung nach Unabhängigkeit Tschetscheniens unterstützten, wertete die rußländische Presse dies sowohl als Beweis für die antirußländische Stimmung im Baltikum wie auch als weiteres Argument gegen den tschetschenischen Separatismus. Auf diese Weise untermauerten sich beide Argumente gegenseitig. Ähnliches läßt sich zur Perspektive des NATO-Beitritts der baltischen Staaten sagen. Das Bestreben Lettlands, Litauens und Estlands, in die Allianz einzutreten, wurde zum einen als weiterer Beweis ihrer antirußländischen Einstellung ausgelegt. Umgekehrt wurde jede Erklärung der NATO-Mitgliedsstaaten über die Bereitschaft zur Aufnahme der baltischen Republiken als neues Zeugnis des „NATO-Expansionismus“ und der drohenden „Destabilisierung der Lage in der baltischen Region“ interpretiert. Noch zu Beginn des Jahres 2002 ließen sich in der rußländischen Presse Betrachtungen finden, die ein „echtes“ einem „falschen“ Europa gegenüberstellten. Solange in den baltischen Ländern die russische Bevölkerung unterdrückt wird, wird Rußland nicht aufhören, die europäischen Organisationen und Militärblocks daran zu erinnern, wen sie sich anschicken, in ihre Reihen aufzunehmen. Gegenwärtig ändert sich die Situation allerdings merklich. Erstens ist die Bedeutung der baltischen Staaten in ihrer Eigenschaft als „falsches“ Europa, vor dessen Hintergrund Rußland bequemer seine europäische Identität behaupten kann, im Vergleich zu den Jahren 1998﷓2000 deutlich gesunken. Die Resultate des Prager NATO-Gipfels im November 2002, auf dem die Entscheidung zur Aufnahme von sieben Staaten in die Allianz getroffen wurde, darunter auch Litauen, Lettland und Estland, rief kein lautes Protestgeschrei hervor, selbst nicht in staatsnahen Medien wie der Nezavisimaja Gazeta. Zweitens lassen sich einige Anzeichen dafür finden, daß die baltischen Staaten allmählich als Teil des „echten“ Europas betrachtet werden. In diesem Zusammenhang ist nicht nur der ruhige und sachliche Ton in den Verlautbarungen über die Vorbereitung der baltischen Staaten auf den NATO-Beitritt außerordentlich bedeutsam, sondern auch die Tatsache, daß parallel zu den Beitrittsverhandlungen über Gegenwart und Zukunft der militärischen Zusammenarbeit der baltischen Staaten mit Rußland gesprochen wird. Als im Zusammenhang mit der Schließung der tschetschenischen Website Kavkaz-centr auf dem Server einer estnischen Gesellschaft ﷓ Litauen hatte den Betrieb der Seite auf seinem Territorium bereits unmittelbar zuvor untersagt ﷓ Vertreter Ičkeriens das Vorgehen der estnischen Behörden als „verbrecherisch“ bezeichneten, ließ die Berichterstattung der rußländischen Presse keine Zweifel aufkommen, auf welcher Seite des Konfliktes die Banditen zu suchen seien: Aus Sicht der rußländischen Journalisten sind Estland und Litauen Teil der zivilisierten Welt. Ein noch interessanteres Phänomen ist, daß zumindest in St. Petersburg die Erfahrung der baltischen Nachbarn, insbesondere Estlands, als häufiger nachahmenswertes Vorbild betrachtet wird. Die Zeitschrift Ėkspert Severo-Zapad lobt die estnische Reform der kommunalen Wohnungswirtschaft in den höchsten Tönen, und in der Petersburger Metro ist Werbung für eine „mit estnischer Technologie“ hergestellte Farbe zu sehen. Neues Europa, neues Rußland? Dies deutet darauf hin, daß Estland, Litauen und Lettland – vermutlich in eben dieser Reihenfolge – in zunehmendem Maße als Teil des „echten“ Europas angesehen werden, von dem zu lernen Rußland nicht schaden würde und zu dem man in jedem Falle freundschaftliche Beziehungen pflegen müsse. Sogar die Spaltung Europas in ein „altes“ und ein „neues“ konnte diesen Wandel nicht zurückdrehen. Eher noch wurde der Wunsch der politischen Kreise der früheren „Bruderländer“, die USA im Irak-Konflikt koste es, was es wolle, zu unterstützen, gutmütig aufgenommen: als Zeichen der Unreife des „neuen“ Europas, nicht aber seiner feindlichen Gesinnung. Die Illustration zu einem Artikel über die Entwicklung der Aktienmärkte der baltischen Länder in der Zeitschrift Ėkspert Severo-Zapad drückt dieses Verhältnis anschaulich aus: Sie zeigt drei kleine Jungen, die auf der Straße einer alten europäischen Stadt ein Schiffchen mit dem Euro-Symbol auf seinem Segel in eine Pfütze setzen (Abb. 1). Obwohl das Thema als solches keinerlei Bezug zum Irak-Konflikt hat und der Artikel vor der Spaltung Europas über die Frage zum Verhältnis zur Politik von Bush jr. publiziert wurde, nahm die Illustration die Interpretation des Themas des „neuen“ Europas im rußländischen politischen Diskurs als eines noch im Entstehen begriffenen Europas, eines jungen Europas vorweg – und der Jugend ist es bekanntermaßen eigen, sich zu irren. Auch im Ganzen gesehen ändert sich der Blick Rußlands auf Europa und seinen Platz in Europa allmählich. Offensichtlich ist es heute weniger notwendig, ein „falsches“ Europa einem „wahren“ gegenüberzustellen als in den Jahren 1998–2001. Wahrscheinlich kann man sagen, daß dies eine allgemeine Veränderung des Verhältnisses zur Idee Europas und zum Platz Rußlands in europäischen und globalen Fragen widerspiegelt. Am Ende des vorigen und am Anfang des neuen Jahrhunderts befand sich die rußländische Außenpolitik in einer Krise: Der Kosovo-Konflikt, die allgemeine Verurteilung des zweiten Tschetschenien-Feldzuges, die Erweiterung der NATO und die damit verbundene Perspektive des Beitritts ehemaliger Sowjetrepubliken riefen in der rußländischen Gesellschaft nicht nur die Angst vor Isolation hervor, sondern auch Besorgnis um das Schicksal Rußlands. Einerseits herrschte eine fast allumfassende Angst vor „Verwestlichung“ und dem Verlust der Einzigartigkeit Rußlands. Andererseits war Unsicherheit über die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa und zur „zivilisierten Welt“ im weiteren Sinne ein Grund für die erhöhte Sensibilität gegenüber Kritik und für das Bestreben zu beweisen, daß „wir nicht schlechter sind als andere“. Die außenpolitische Krise lag eine allgemeinere Identitätskrise zugrunde: Die Antwort auf die Frage “Was ist Rußland?“ war für die Mehrheit der Bürger keineswegs eindeutig. Einer der bedeutendsten Erfolge von Putins Team besteht darin, daß sie im Bewußtsein der Bürger Rußlands ein positives Bild des neuen Rußlands geschaffen haben, das ihnen bei aller Doppeldeutigkeit und Widersprüchlichkeit immerhin die existentielle Beunruhigung über die Zukunft Rußlands und die brennende Ungewißheit in Fragen der Identität nimmt. Es ist immer noch das Rußland, das „aus der UdSSR geschlüpft ist“ und die Schale dabei nicht richtig abgeworfen hat, sein Selbstverständnis in Großmachtverhalten sucht und die neue alte Hymne singt. Aber dieses Rußland ist auch zum ruhigen Dialog fähig und sogar zur friedlichen Beilegung von Konflikten mit seinen Partnern – mit den stärkeren ebenso wie mit den schwächeren. So konnte nach schwierigen Verhandlungen mit der Europäischen Union und Litauen ein Kompromiß in der Frage des visafreien Zugangs zum Kaliningrader Gebiet gefunden werden. Auch die Irak-Krise hatte keine katastrophalen Folgen für die Beziehungen sowohl zu den USA als auch zum „neuen“ Europa. Heute ist die Definition Rußlands als Teil der „zivilisierten Welt“ und als europäischer Staat mit einer eigenen, einzigartigen Kultur bei weitem weniger problematisch als noch vor drei Jahren. Dies öffnet Raum für einen Kompromiß, ohne den weder ein Dialog noch die Lösung von Problemen möglich sind. Heute wird die Notwendigkeit von Kompromissen von rußländischer Seite nicht mehr als Zeichen der Schwäche gewertet und führt nicht mehr zur sofortigen Umstrukturierung der Weltkarte im Sinne der dualen Oppositionen „wir – sie“. All dies, ich betone es wieder, ist ein großartiger Erfolg von Putins Team. Ob dies für alle Bürger Rußlands einen Erfolg bedeutet, ist eine Frage, deren Antwort auch den Preis der Konsolidierung der Nation um den Präsidenten in Betracht ziehen muß. Dieser Preis schließt die andauernde „antiterroristische Operation“ in Tschetschenien ein, ebenso die unsichere Zukunft der Redefreiheit, verpaßte Gelegenheiten zur Reform der Wirtschaft ebenso wie der sich bildende globale „antiterroristische Konsens“ mit seinen – milde ausgedrückt – unklaren Folgen für die friedliche Koexistenz des „Westens“ und der restlichen Menschheit. Letztlich stellt sich die Frage, ob innenpolitische Restauration eine notwendige Bedingung für das stabile und voraussagbare Verhalten eines Landes in der internationalen Arena ist. Sind wir fähig, die Vergangenheit und die Gegenwart unseres Landes nüchtern und kritisch zu beurteilen, ohne die Selbstsicherheit zu verlieren und ohne nach einem äußeren Feind zu suchen, auf den sich bequem die eigenen Probleme abwälzen ließen? Natürlich müssen sich nicht nur die Bürger Rußlands diese Frage stellen, aber dadurch wird sie für uns nicht weniger aktuell. Aus der Russischen von Bettina Lange, Berlin

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