Titelbild Osteuropa 6/2003

Aus Osteuropa 6/2003

Repressive Toleranz im Kulturleben
Prochanov, ein Literaturpreis und das binäre russische Kulturmodell

Wolfgang Eismann

Abstract

Auch wenn russische postmoderne Schriftsteller, Künstler und Kritiker behaupten, Rußland habe endlich seine lange Tradition eines dualistischen oder binären Kulturmodells polarisierter Oppositionen überwunden und entwickele sich zu einer offenen Gesellschaft mit einer Vielzahl von friedlich koexistierenden Ideen und Konzeptionen, existiert dieses Kulturmodell weiter. Die grundlegende Opposition wir/sie manifestiert sich immer noch, häufig im Phänomen des Antisemitismus. Dies zeigt sich nicht zuletzt an dem erstaunlichen Erfolg des nationalistischen und rassistischen Romans Gospodin Geksogen von Aleksandr Prochanov, der im Jahr 2002 von russischen liberalen Verlegern, Schriftstellern und Kritikern gefördert wurde. Die Publikation und die Verleihung eines Preises für diesen Roman dienen nicht dazu, das traditionelle dualistische Kulturmodell zu überwinden, wie einige ultraliberale Postmodernisten meinen. Ganz im Gegenteil wird ein derartig billiges politisches und antisemitisches Pamphlet ohne literarischen Wert dieses traditionelle Kulturmodell in einer seiner schlimmsten Manifestationen perpetuieren.

(Osteuropa 6/2003, S. 821–838)