Titelbild Osteuropa 5/2003

Aus Osteuropa 5/2003

Editorial
Frauenfragen?

Volker Weichsel, Manfred Sapper

(Osteuropa 5/2003, S. 603)

Volltext

Stellt man die großen Fragen, die dem innergesellschaftlichen Wettbewerb des Ost-West-Konflikts zugrunde lagen zu analytischen Zwecken erneut, so brachte der Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa ambivalente Ergebnisse. In der sozialen Frage hat sich überall – vielleicht außer in Belarus – die marktregulierte Wirtschaft durchgesetzt. Doch nach fast anderthalb Jahrzehnten fällt es immer schwerer, die damit einhergehenden Härten à la lettre als „Transformationsprobleme“ zu begreifen. In der nationalen Frage löste die Erosion der durch Repression zusammengehaltenen staatlichen Ordnungen einen insgesamt erstaunlich friedlichen Wettbewerb aus. Allerdings eskalierte er überall dort blutig, wo verschiedene Ansprüche auf nationale Staatsterritorien miteinander konkurrierten. Nach dem Zerfall der multinationalen Föderationen Tschechoslowakei, Jugoslawiens und UdSSR sowie der in Ansätzen zu verzeichnenden Konsolidierung der Rußländischen Föderation und auf dem Balkan scheint sich ein neues Gleichgewicht einzustellen. Dies gibt Raum für die dritte Frage, die bislang deutlich im Schatten stand: die der Gleichberechtigung von Frau und Mann, kurz: für die Geschlechterfrage. Da sich die publizistische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit proportional zur Blutigkeit eines Konflikts zu verhalten scheint, wurde dem Verhältnis der Geschlechter in der Transformation bisher kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Grund genug für Osteuropa, diesem Thema einen Schwerpunkt zu widmen. Der Fokus der empiriegesättigten Beiträge mit vergleichender Perspektive ist auf die politische Partizipation von Frauen in Parteien und Parlamenten sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen gerichtet. Die gesellschaftstheoretischen Grundfragen stellen sich in gleicher Weise wie in der nationalen Frage: Sollen die Geschlechter als rechtlich verfaßte Gruppen anerkannt werden, oder sollen Mann und Frau lediglich die gleichen Individualrechte zugebilligt bekommen? Sollen gesellschaftliche Ungleichheiten, welche die rechtliche Gleichstellung unterlaufen, durch asymmetrische Unterstützungspolitik wie Quotierung ausgeglichen werden und falls ja, in welchem Maße? Und worin liegt das spezifische sozialistische Erbe, das die politische Partizipation und die Diskussion der Geschlechterfrage in Osteuropa prägt? Die Fragen sind gestellt. Es sind mehr als Frauenfragen. Die Antworten in diesem Heft sind überraschend.