Titelbild Osteuropa 2-3/2003

Aus Osteuropa 2-3/2003

Editorial
Zu neuen Ufern

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 2-3/2003, S. 157–158)

Volltext

„Im ehemaligen Ostpreußen ist viel Trauriges geschehen. Aber auf die Geschichte böse zu sein, ist ungefähr dasselbe, wie böse zu sein auf die Schwerkraft der Erde. Besser ist es, die Geschichte zu überwinden, so wie Menschen die Schwerkraft überwunden haben, indem sie Flugapparate bauten.“ Tomas Venclova Die Brücke auf dem Titelbild ist mehr als eine Verbindung vom einen Ufer zum anderen. Die Luisenbrücke über die Memel ist ein Symbol für die Stadt, das Gebiet und für Europa. Sie schlägt einen Bogen von der Vergangenheit zur Zukunft. An ihr sind die Zeitläufte des vergangenen Jahrhunderts abzulesen. Errichtet wurde sie zwischen 1904 und 1907 im ostpreußischen Tilsit. Das Sandsteinportal am Südufer hat den zwei Weltkriegen getrotzt. Nur der Schmuck hat sich geändert: An die Stelle des Portraitbildes im Mitteloval, das Königin Luise, die Gattin Friedrich Wilhelms III., zeigte, rückte das Wappen der UdSSR. Aus Tilsit wurde Sovetsk. Und auf die originalen Brückenpfeiler wurde eine sowjetische Bogenkonstruktion aus Eisen montiert. Heute ist es eine russische Brücke, die zu neuen Ufern führt, sobald Litauen auf der anderen Seite der Memel Mitglied der Union sein wird. Die Zukunft Kaliningrads ist die einer Exklave Rußlands im Umfeld der Europäischen Union. Diese Konstellation bietet Risiken und Chancen zugleich. Die Auseinandersetzung im Herbst 2002 zwischen Rußland und der EU über den Transit von und nach Kaliningrad hat in Erinnerung gerufen, daß hier Konfliktpotential existiert. Begriffe wie „Isolation“, „Korridor“ oder „Sezessionismus“ illustrieren, auf welch sensiblem Terrain sich alle Akteure bewegen. Zugleich wurde dadurch die Aufmerksamkeit für die Region geschärft. Doch viele Stellungnahmen und Veröffentlichungen vermögen nicht zu überzeugen. Sie bleiben Stereotypen verhaftet oder konzentrieren sich auf die ewig gleichen Einzelaspekte. Das gilt für Rußland wie für Deutschland gleichermaßen. Deshalb verläßt Osteuropa die ausgetretenen Pfade der Kaliningrad-Literatur. An die Stelle einer nostalgischen Rückschau auf Königsberg oder Ostpreußen, die infolge der nationalsozialistischen Herrschaft, des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung untergingen, rückt der Blick nach vorne. Im Mittelpunkt steht eine sorgfältige empirische Analyse jener Politikfelder, in denen es einen besonderen Bedarf an Kooperation gibt oder die sich für eine Zusammenarbeit zwischen Kaliningrad und den Nachbarn oder zwischen Rußland und der EU heute und morgen anbieten. Ob es um die Verkehrsinfrastruktur oder die wirtschaftliche Entwicklung, um Umweltschutz an der Ostsee und Sicherheit im Baltikum, Energiewirtschaft oder Landwirtschaft geht – überall bietet sich Zusammenarbeit an. Aber Kooperation ist kein Selbstzweck, sondern sie muß allen Beteiligten nutzen. Hier fällt das Urteil über den wechselseitigen Vorteil sehr unterschiedlich aus. Die Einbindung Kaliningrads in Zusammenarbeit mit EU-Mitgliedsstaaten ist unmöglich, ohne daß man sich gleichzeitig die Geschichte und das kulturelle Erbe der Region aneignet. Auch hier bietet das vorliegende Themenheft von Osteuropa neue Perspektiven, etwa durch Tomas Venclovas Analyse des Königsberg-Topos in der russischen Literatur und der Königsberg-Gedichte des Literaturnobelpreisträgers Iosif Brodskij oder durch Wulf Wagners Plädoyer, das landschaftliche und verschüttete baugeschichtliche Erbe der Region wiederzuentdecken. Viele Anregungen und Erkenntnisse des Heftes stammen aus zwei internationalen Tagungen, welche die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde im Juni 2002 in Kaliningrad und Warschau veranstaltete. Die erste war der Analyse von „Konfliktlinien und Kooperationsstrukturen“ in der Region gewidmet. Sie wurde gefördert durch die Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, die im Rahmen ihrer internationalen Aktivitäten einen besonderen Schwerpunkt im Gebiet Kaliningrad hat. Die zweite wurde von der Otto Wolff-Stiftung gefördert, gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Warschau, durchgeführt und widmete sich Kaliningrads Funktion im gesamteuropäischen Umfeld. Auch in Zukunft ist Kaliningrad internationale Aufmerksamkeit sicher. Im Jahr 2005 wird Kaliningrad seine 750 Jahr-Feier begehen. Was während des Ost-West-Konflikts undenkbar war und auch heute noch auf vereinzelten Widerstand auf beiden Seiten stößt, wird zum Fixpunkt aller Aktivitäten: die Anerkennung, daß Kaliningrad eine rußländische Region mit einer langen deutschen Geschichte in Europa ist. 2004 jährt sich der Todestag des berühmtesten Königsberger Bürgers zum zweihundertsten Mal. Immanuel Kants unübertroffener Entwurf Zum Ewigen Frieden von 1795 enthält bereits alle bedeutenden Elemente, die für die zukünftigen Beziehungen zwischen Rußland, den Nachbarstaaten und der EU von Bedeutung sind: Erforderlich sind republikanische Ordnung, die Geltung des Rechts im inneren und nach außen, eine konföderale Organisation der Beziehungen zwischen den Staaten unterhalb der Integration und die Anerkennung gegenseitiger Hospitalität. Nicht mehr und nicht weniger, aber doch soviel.