Vormarsch vorerst gestoppt

Nikolay Mitrokhin, 22.5.2024

Russlands Krieg gegen die Ukraine – die 116. Kriegswoche

Der Ukraine ist es gelungen, ein weiteres Vordringen der russländischen Okkupationstruppen im Gebiet Charkiv zu verhindern. Auch an anderen Frontabschnitten konnte Russland keine neuen relevanten Geländegewinne verzeichnen. Die ukrainische Führung fürchtet jedoch, dass Russland bald mit einem weiteren Angriff von Norden versuchen könnte, die Stadt Charkiv und den gesamten Nordosten des Landes abzuschneiden. Um dem zuvorzukommen, benötigt die Ukraine dringend neue Soldaten. Doch immer mehr Männer entziehen sich der Einberufung in die Armee.

Die Ukraine hat den Vorstoß der russländischen Armee im Norden des Gebiets Charkiv mit herbeigeführten Reservekräften zum Stehen gebracht. An manchen Stellen des neuen Frontabschnitts ist dies an der ersten Verteidigungslinie in 2-3 Kilometer Entfernung von der Grenze gelungen, bei Vovčans‘k und Lipcy hingegen erst an der zweiten oder dritten Linie. Bei Lipcy sind die neuen ukrainischen Kräfte zu Gegenangriffen in der Lage.

Gleichwohl bleibt die Lage sehr ernst. Präsident Zelens’kyj hat eine Auslandsreise abgesagt und die militärische Führung gesteht Fehler bei der Sicherung der Grenze ein. Die ersten beiden ukrainischen Verteidigungslinien bieten nur einen schwachen Schutz. Es kursieren Fotos von Panzersperren, die sich im Grenzgebiet an Straßenrändern türmen, während die angrenzenden Felder ohne Hindernis passiert werden können. Ebenso gibt es Fotos von massiven Befestigungsanlagen aus Beton, die nicht fertiggebaut und nun bereits aufgegeben wurden. Natürlich sorgten auch die massiven russländischen Angriffe mit Drohnen und Artillerie dafür, dass solche Arbeiten nur langsam oder gar nicht vorankamen. Aber es ist davon auszugehen, dass die russländische Armeeführung wusste, wo die Grenze nicht gesichert ist und diese Stellen für den Angriff ausgewählt hat.

In Vovčans’k sind die Okkupationstruppen bis zum Fluss Vovča, einem Nebenfluss des Donec, vorgedrungen, der die Stadt in eine Nord- und eine Südhälfte teilt. Die ukrainische Nachrichtenagentur Unian zeigte bereits wenige Tage nach dem Verlust der Nordhälfte der Stadt mit großer Selbstverständlichkeit schwere ukrainische Luftangriffe auf das im besetzten Teil gelegene Krankenhaus, in dem sich die Besatzer verschanzt hätten.

Zu den Schwierigkeiten trägt auch bei, dass die Ukraine sehr viele Fahrzeuge und Gerät verloren hat – deutlich mehr als üblicherweise bei der Verteidigung. Dies hat offenbar damit zu tun, dass das US-Unternehmen Starlink von Elon Musk die Satellitenkommunikation nach Beginn des Angriffs mit dem Verweis auf illegale Nutzung in einem Kriegsgebiet für beide Seiten abgestellt hat, was eine koordinierte Abwehr der Angriffe erschwert hat.

Die ukrainische Führung befürchtet, dass der Angriff im Grenzabschnitt zwischen Vovčans’k und Lipcy nur dazu dient, die Verteidigungskraft der Ukraine an dieser Stelle zu testen und zugleich dort ukrainische Kräfte zu binden. Der Hauptangriff könne, so die Sorge, möglicherweise in vier Wochen dem Gebiet Sumy gelten. Ziel wäre ein Vorstoß in Richtung Donbass, um die Stadt Charkiv und den gesamten Nordosten der Ukraine vom Rest des Landes abzuschneiden. Ein Grund für diese Sorge ist, dass an dem Angriff auf das Gebiet Charkiv gegenwärtig nur 10 000 der rund 35 000 von Russland zusammengezogenen Soldaten der Gruppe Nord teilnehmen. Es gibt bereits erste Hinweise darauf, dass Russland Soldaten im Südosten des Gebiets Belgorod und im Gebiet Kursk stationiert. Bislang sind dies noch einzelne Nachrichten über kleinere Gruppierungen. Entscheidend ist die Frage, ob die Ukraine in der Lage ist, rechtzeitig neue Soldaten zu rekrutieren und auszubilden, die einen Durchbruch an dieser Stelle verhindern können.

Stillstand an anderen Frontabschnitten

Anders als vielfach befürchtet hat der Angriff im Norden des Gebiets Charkiv nicht dazu geführt, dass Russland seine Angriffe an den umkämpften Frontabschnitten in den Gebieten Donec’k und Zaporižžja intensiviert. Der Ukraine ist es gelungen, den Vorstoß bei Očeretine abzuschneiden. Die Gefahr, dass Russland die für die Truppenrotation sehr wichtige Straße von Pokrovs’k nach Kramators’k unter Kontrolle bringt, ist damit gebannt. Die Okkupationstruppen konnten an diesem Frontabschnitt in der gesamten Woche keine Geländegewinne mehr erzielen.

Leichte Gebietsverluste hat die ukrainische Armee jedoch im Raum der südwestlichen Peripherie von Donec’k zu verzeichnen. Dort konnten die russländischen Truppen bis zum Rand der westlich der zerstörten und besetzten Stadt Mar’inka gelegenen Siedlung Heorhievs’ka vordringen. Nun rücken sie in Richtung der Kleinstadt Kurachove vor. Auch leicht nördlich davon konnten die russländischen Truppen minimale Geländegewinne erzielen. Ähnlich ist die Lage im Gebiet Zaporižžja, wo bei Rabotine, Novomajors’ke und Urožajne heftig gekämpft wurde, ohne dass sich die Frontlinie verschoben hätte. Rabotine befindet sich allerdings jetzt in der „grauen Zone“, die von keiner der beiden Seiten kontrolliert wird.

Entweder hat die russländische Armeeführung den Truppen nach den monatelangen schweren Kämpfen eine Pause verschrieben oder die Armee ist nicht in der Lage, zwei Angriffe von Truppen in Korpsstärke gleichzeitig logistisch zu bewältigen.

Ausweitung der ukrainischen Luftangriffe

Russland hat mit wochenlangen Luftangriffen auf ukrainische Kraftwerke und das Stromnetz erreicht, dass in der 116. Kriegswoche in der Ukraine nach einem festen Plan bestimmte Stromkunden abends vom Netz genommen werden mussten.

Erfolgreiche Luftangriffe konnte in der 115. Kriegswoche jedoch vor allem die Ukraine verzeichnen. Die Armee, der Militärgeheimdienst HUR und der Inlandsgeheimdienst SBU, welche die unterschiedlichen Attacken planen, nahmen sich vor allem zwei Ziele vor. Große Angriffsdrohnen, die Dutzende Kilogramm Sprengstoff tragen können, wurden in Schwärmen in Richtung Süd- und Zentralrussland sowie auf die besetzte Krim gelenkt, wo sie schwere Schäden an Industrieanlagen anrichteten. Getroffen wurden insbesondere Öltanks, Raffinerien und Umspannwerke. Die anderen Ziele, welche die Ukraine mit Raketen vom Typ ATACMS und Storm-Shadow sowie mit Drohnen angriff, waren Luftabwehrsysteme und Militärflugplätze auf der Krim sowie die Schwarzmeer-Flotte. Am 19. Mai wurde im Hafen von Sevastopol‘ entweder das Minenräumschiff Korovec oder nach anderen Angaben das Raketenboot Ciklon versenkt. Dazu reichten drei der zwölf abgefeuerten Raketen, die übrigen neun wurden abgefangen.

Erfolgreich war auch ein Angriff auf den nordwestlich von Sevastopol‘ gelegenen Flugplatz Bel’bek, wo ATACMS-Raketen mit Streumunition im Sprengkopf drei Militärflugzeuge und einen Treibstofftank zerstörten. Auch auf dem Militärflugplatz Kuščevskaja im Norden des Bezirks Krasnodar wurde ein Kampfflugzeug zerstört, zudem eine Anlage der Raffinerie in Tuapse am Schwarzen Meer sowie ein Umspannwerk, das für die Stromversorgung des Hafen von Novorossijsk von Bedeutung ist.

Einem ukrainischen Angriff mit unbemannten Booten ist Russland hingegen zuvorgekommen. Südwestlich von Sevastopol’ zerstörte ein Hubschrauber auf offener See elf solcher Boote. Diese Möglichkeit der Abwehr wird Russland jedoch voraussichtlich nicht mehr lange zur Verfügung stehen. In der Ukraine und im Westen wird die Installation von Abschussrampen für Boden-Luft-Raketen auf unbemannten Booten erprobt. Langsam und niedrig fliegende Helikopter wären ein leichtes Ziel für solche Raketen, die auf den Rotor oder die Seitentür zielen.

Massive Probleme bei der Mobilmachung in der Ukraine

Präsident Zelens’kyj hat in der dritten Maiwoche ein Gesetz unterschrieben, mit dem die Ukraine dem immer gravierenderen Mangel an neuen Soldaten begegnen will. Verurteilte Straftäter können nun auf Bewährung freikommen, wenn sie sich den Streitkräften anschließen. Das Gesetz gilt anders als eine ähnliche Regelung in Russland nicht für Straftäter, die eine Reihe besonders schwerer Verbrechen begangen haben. Nach Angaben des ukrainischen Justizministers fallen etwa 10 000–20 000 der aktuell 35 000–40 000 Strafgefangenen in der Ukraine unter das Gesetz. 5000 hätten sich vor der Verabschiedung des Gesetzes in dem Sinne geäußert, dass sie eine entsprechende Gelegenheit nutzen würden.

Doch dies reicht bei weitem nicht aus, um den immer gravierenderen Mangel an Soldaten zu beheben. Ein erheblicher Anteil der einer Einberufung zur Armee unterliegenden ukrainischen Männer ist nicht bereit, an die Front zu gehen. Dies hat auch mit der inkonsequenten und daher als ungerecht empfundenen Mobilmachung zu tun, die immer häufiger kriminelle Züge annimmt, weil hohe Bestechungssummen zum Freikauf rekrutierter Männer gezahlt werden.

Die ukrainische Zeitung Obozrevatel‘ berichtet, dass die Behörden aus acht der 24 ukrainischen Regionen in den ersten vier Monaten des Jahres 2024 die Namen von zusammen 94 000 Männern zusammengetragen hätten, die sich dem Gestellungsbefehl entziehen. Nur 20 000 von diesen seien bereits ausfindig gemacht worden. Bezeichnenderweise haben die Behörden genau jener Regionen den Journalisten keine Auskunft gegeben, aus denen die meisten Nachrichten über brutale und unbegründete Verhaftungen auf offener Straße kommen, etwa die Gebiete Transkarpatien, Lemberg und Odessa. Rechnet man die vorhandenen Daten auf das gesamte Land hoch, so kommt man auf 380 000 wehrpflichtige Männer, von denen nur 75 000 eingezogen werden konnten. Da die neuen Regelungen des Wehrgesetzes vorsehen, dass Männer im Wehralter sich erneut bei den zuständigen Ämtern melden müssen und Untauglichkeitsbescheinigungen neu geprüft werden, ist davon auszugehen, dass die Zahl der Männer, die sich der Wehrerfassung entziehen, weiter steigen wird.

Ein Teil dieser Männer versucht, sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Die rumänische Grenzpolizei gibt an, seit Februar 2022 seien 11 000 ukrainische Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren beim Versuch, illegal die Grenze zu überschreiten, aufgegriffen worden. Nach einem Rückgang im Jahr 2023 seien alleine in den ersten vier Monaten des Jahres 2024 2370 Männer aufgegriffen worden. Beim Versuch, den Grenzfluss Tisa (Theiß) zu durchschwimmen oder im Winter über die Karpaten nach Rumänien zu gelangen, seien 19 Männer ertrunken oder erfroren. Nach Deutschland sind auf unterschiedlichem Wege seit Februar 2022 knapp 400 000 Männer eingereist, von denen nach Angaben des Innenministeriums Anfang 2024 210 000 zwischen 18 und 60 Jahren und 160 000 zwischen 27 und 60 Jahren alt waren. Der Anteil der Männer in dieser Altersgruppe an den monatlichen Zuzügen aus der Ukraine nach Deutschland betrug schon bald nach Russlands Überfall auf die Ukraine 25 Prozent und ist mittlerweile auf über 30 Prozent gestiegen.

Viele Männer, die das Land nicht verlassen haben, versuchen der Begegnung mit Mitarbeitern der Wehrämter oder der Polizei zu entgehen, indem sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Dies hat bereits spürbare wirtschaftliche und soziale Folgen. In allen Sektoren, in denen männliche Angestellte nicht von der Einberufung ausgenommen sind, gibt es einen erheblichen Arbeitskräftemangel. Spürbar ist dies u.a. im Einzelhandel und im öffentlichen Nahverkehr. Ein besonderer Fall sind die Fernfahrer. Vor einiger Zeit machte in der Ukraine die Nachricht von mehreren LKW-Fahrern die Runde, die ihre beladenen Fahrzeuge nach der Rückkehr aus einem der angrenzenden EU-Staaten auf ukrainischer Seite der Grenze hatten stehen lassen, um diese wieder in Richtung Polen oder Slowakei zu überschreiten. Nun haben in der dritten Maiwoche Fernfahrer auf der vielbefahrenen Straße von Kiew nach Odessa eine große Protestaktion gegen die Verhaftung von Kollegen aus ihrem LKW heraus durchgeführt. Hunderte LKWs aus allen Regionen des Landes blockierten die Strecke und verlangten, dass ihre Berufsgruppe von der Einberufung ausgenommen wird, weil sie zentral für die Logistik eines kämpfenden Landes sei.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.