Vladimir Putin: Erklärung der Teilmobilmachung
Es gibt historische Dokumente, die nur in wissenschaftlichen Quelleneditionen erscheinen dürfen. Sie sind von solch demagogischem Charakter, dass jedes Wort einer Einordnung bedarf. Die Ansprache, die Russlands Präsident Vladimir Putin 21.9.2022 zur Begründung des Erlasses über eine Teilmobilisierung gehalten hat, gehört ebenso wie jene vom 24. Februar 2022 zur Begründung des Überfalls auf die Ukraine in diese Kategorie. Wir veröffentlichen sie dennoch bereits an dieser Stelle in deutscher Übersetzung. Einen Großteil der Einordnung haben Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler aus Deutschland, der Ukraine und Russland in den vergangenen Jahren u.a. auf den Seiten der Zeitschrift Osteuropa geleistet – red.
Sehr geehrte Freunde!
Ich spreche heute über die Situation im Donbass und den Verlauf der militärischen Spezialoperation zu dessen Befreiung von dem neonazistischen Regime, das im Jahr 2014 mit einem bewaffneten Umsturz die Macht in der Ukraine ergriffen hat.
Ich wende mich an Sie, an alle Bürger unseres Landes, an Menschen aller Generationen, Altersgruppen und Nationalitäten, an das Volk unseres ruhmreichen Vaterlands, an alle, die das große historische Russland vereint, an die Soldaten und Offiziere, an die Freiwilligen, die heute an der Front kämpfen und auf ihrem Posten sind, an unsere Brüder und Schwestern, die Bewohner der Volksrepubliken von Doneck und Lugansk, der Gebiete Cherson und Zaporož’e und weiterer von dem neonazistischen Regime befreiten Gebiete.
Es wird um die notwendigen unverzüglichen Schritte gehen, die zum Schutz der Souveränität, der Sicherheit und der territorialen Integrität Russlands getan werden müssen, um die Unterstützung der Bestrebungen unserer Landsleute, die selbst über ihre Zukunft bestimmen wollen, und um die aggressive Politik eines Teils der westlichen Eliten, die mit aller Macht ihre Hegemonie aufrechterhalten möchten und zu diesem Zweck versuchen, jeden souveränen, eigenständigen Entwicklungsansatz zu behindern und zu unterdrücken, damit sie weiter anderen Ländern und Völkern brutal ihren Willen und ihre Pseudowerte aufzwingen können.
Ziel des Westens ist es, unser Land zu schwächen, seine Einheit zu torpedieren und es in letzter Konsequenz zu zerstören. Mittlerweile sprechen sie ganz offen davon, dass es ihnen im Jahr 1991 gelungen ist, die Sowjetunion zu spalten, und jetzt sei Russland an der Reihe, das in eine Vielzahl einander bis aufs Blut bekämpfender Regionen und Gebiete zerfallen soll.
Sie schmieden diese Pläne schon seit langem. Sie haben internationale Terroristenbanden im Kaukasus unterstützt und die Offensivwaffen der NATO bis dicht vor unsere Grenzen verlagert. Ihre Waffe war eine totale Russophobie, jahrzehntelang haben sie gezielt Hass gegen Russland geschürt, vor allem in der Ukraine, der sie das Los eines antirussländischen Aufmarschgebiets zugedacht haben. Das ukrainische Volk wurde dabei in Kanonenfutter verwandelt, es wurde in einen Krieg gegen uns gedrängt, den sie schon 2014 entfesselt haben, indem sie die Streitkräfte gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt und einen Genozid verübt haben, sie haben eine Blockade verhängt und diejenigen terrorisiert, die die durch einen Staatsstreich an die Macht gekommene Regierung nicht anerkennen wollten.
Und nachdem das heutige Kiewer Regime sich faktisch öffentlich von einer friedlichen Lösung des Donbass-Problems verabschiedet und sogar Anspruch auf Atomwaffen erhoben hatte, war absolut klar, dass ein neuer großangelegter Angriff auf den Donbass ‑ nach den zwei Vorstößen, die es früher schon gab – unausweichlich kommen würde. Und danach ebenso unausweichlich auch ein Angriff auf die russländische Krim, auf Russland.
In diesem Zusammenhang war ein präventiver Militäreinsatz absolut notwendig, er war die einzig mögliche Entscheidung. Das Hauptziel dieses Einsatzes ist unverändert die Befreiung aller Gebiete des Donbass.
Die Volksrepublik Lugansk ist bereits nahezu vollständig von Neonazis befreit. Die Kämpfe um die Volksrepublik Doneck halten an. Hier hat das Kiewer Besatzungsregime in acht Jahren ein tief gestaffeltes Befestigungssystem errichtet. Dieses zu stürmen wäre mit schweren Verlusten einhergegangen, daher gehen unsere Truppen zusammen mit den militärischen Formationen der Volksrepubliken des Donbass nach einem umsichtigen Plan vor, sie setzen Technik ein und schonen die Mannschaften, während sie Schritt für Schritt das Donecker Land befreien, die Städte und Dörfer von Neonazis säubern und denen Hilfe leisten, die das Kiewer Regime zu Geiseln und lebenden Schutzschilden gemacht hat.
Wie Sie wissen nehmen an der militärischen Spezialoperation Berufssoldaten teil, die unter Vertrag stehen. Schulter an Schulter mit ihnen kämpfen Freiwilligenverbände: Menschen unterschiedlicher Nationalität, aus verschiedenen Berufs- und Altersgruppen – echte Patrioten. Sie sind dem Ruf ihres Herzens gefolgt und haben sich schützend vor Russland und den Donbass gestellt.
Ich habe die Regierung, genauer das Verteidigungsministerium, daher bereits angewiesen, den Rechtsstatus der Freiwilligen und der Kämpfer in den Einheiten der Volksrepubliken von Doneck und Lugansk schnellstmöglich und umfassend zu klären. Sie müssen den gleichen Status erhalten wie die regulären Soldaten der Russländischen Armee, auch hinsichtlich der materiellen und medizinischen Versorgung sowie der sozialen Absicherung. Besonderes Augenmerk ist auf die Sicherstellung der Versorgung der Freiwilligenverbände und der Einheiten der Volksmilizen des Donbass mit Gerät und Ausrüstung zu legen.
Im Zuge der Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, des Schutzes des Donbass, haben unsere Truppen entsprechend den allgemeinen strategischen Plänen und Entscheidungen des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs auch erhebliche Teile der Gebiete Cherson und Zaporož’e sowie eine Reihe anderer Landkreise von Neonazis gesäubert. Infolgedessen ist eine ausgedehnte Frontlinie von über 1000 Kilometer Länge entstanden.
Was will ich heute erstmals öffentlich sagen? Nach Beginn der militärischen Spezialoperation haben die Vertreter Kiews, etwa bei den Verhandlungen in Istanbul, äußerst positiv auf unsere Vorschläge reagiert, Vorschläge, die vor allem die Gewährleistung der Sicherheit Russlands und unserer Interessen betrafen. Aber eine friedliche Lösung wäre dem Westen offensichtlich ungelegen gekommen, deshalb wurde Kiew, nachdem bereits gewisse Kompromisse erreicht waren, faktisch dazu aufgefordert, alle Übereinkünfte platzen zu lassen.
Die Ukraine wurde noch mehr mit Waffen vollgepumpt. Das Kiewer Regime setzte neue Banden ausländischer Söldner und Neonazis ein, Armeeeinheiten, die nach NATO-Standards ausgebildet wurden und faktisch unter dem Kommando westlicher Berater stehen.
Gleichzeitig wurden in der gesamten Ukraine die unmittelbar nach dem Umsturz von 2014 eingeführten Repressionen gegen die eigenen Bürger auf maximale Weise verschärft. Die Politik der Einschüchterung, des Terrors und der Gewalt nimmt immer größere Ausmaße, immer schrecklichere und barbarischere Formen an.
Ich betone ausdrücklich: Wir wissen, dass die Mehrheit der Menschen in den von den Neonazis befreiten Gebieten, und das sind vor allem die historischen Länder Neurusslands, nicht unter dem Joch eines neonazistischen Regimes leben wollen. In Zaporož’e und im Land Cherson, in Lugansk und in Doneck, sahen und sehen die Menschen die bestialischen Verbrechen, die die Neonazis in den von ihnen eroberten Landkreisen des Gebiets Char’kov begehen. Die Erben der Banderovcy und der nazistischen Henker morden und foltern, sie werfen Menschen in Gefängnisse, begleichen alte Rechnungen, üben Vergeltung, schikanieren friedliche Bürger.
In den Volksrepubliken von Doneck und Lugansk sowie den Gebieten Zaporož’e und Cherson lebten bis zum Beginn der Kampfhandlungen mehr als sieben Millionen Menschen. Viele von ihnen wurden zur Flucht gezwungen, mussten Haus und Heimat verlassen. Wer blieb – das sind ungefähr fünf Millionen Menschen – wird heute täglich von den neonazistischen Kämpfern mit Artillerie und Raketen beschossen. Sie greifen Krankenhäuser und Schulen an, verüben Terror gegen die Zivilbevölkerung.
Wir können Menschen, die uns nahestehen, nicht wehrlos den Henkern ausliefern, wir haben keinerlei moralisches Recht dazu, wir können ihr aufrichtiges Streben nach einer selbstbestimmten Zukunft nicht ohne Antwort lassen. Die Parlamente der Volksrepubliken des Donbass sowie die Militär- und Zivilverwaltungen der Gebiete Cherson und Zaporož’e haben entschieden, Referenden über die Zukunft dieser Gebiete abzuhalten und sich an uns, an Russland, mit der Bitte gewendet, diesen Schritt zu unterstützen.
Ich betone: Wir tun alles, um eine sichere Durchführung der Referenden zu gewährleisten, damit die Menschen ihren Willen zum Ausdruck bringen können. Und was immer die Mehrheit der Bewohner der Volksrepubliken Doneck und Lugansk und der Gebiete Zaporož’e und Cherson über ihre Zukunft entscheiden wird, werden wir unterstützen.
Sehr geehrte Freunde!
Unsere Streitkräfte sind heute, wie ich bereits sagte, an einer Frontlinie mit einer Länge von mehr als 1000 Kilometern im Einsatz und stehen dort nicht nur neonazistischen Einheiten, sondern faktisch der gesamten Militärmaschine des kollektiven Westens gegenüber.
In dieser Situation halte ich es für unerlässlich, die folgende Entscheidung zu treffen – sie entspricht vollauf den Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind: Zum Schutz unserer Heimat, ihrer Souveränität und territorialen Integrität, zur Gewährleistung der Sicherheit unseres Volks und der Menschen in den befreiten Gebieten halte ich es für unerlässlich, den Vorschlag des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs zur Durchführung einer Teilmobilmachung in der Russländischen Föderation zu unterstützen.
Wie gesagt geht es hier um eine Teilmobilmachung, zum Militärdienst werden also nur jene Bürger einberufen, die gegenwärtig in Reserve stehen, vor allem jene, die bereits in den Streitkräften gedient haben, über eine Ausbildung in bestimmten wehrrelevanten Bereichen und entsprechende Erfahrung verfügen.
Die zum Wehrdienst Einberufenen werden vor dem Transport in die Kasernen ein obligatorisches zusätzliches militärisches Training erhalten, bei dem die Erkenntnisse aus der militärischen Spezialoperation berücksichtigt werden.
Der Erlass über die Teilmobilmachung ist unterzeichnet.
Im Einklang mit dem Gesetz werden darüber die Kammern der Föderalversammlung, der Föderationsrat und die Staatsduma schriftlich in Kenntnis gesetzt.
Die Mobilmachung beginnt heute, am 21. September. Ich weise die Leiter der Regionalverwaltungen an, den Wehrämtern die notwendige Unterstützung zu leisten.
Besonders betonen will ich, dass die Bürger Russlands, die über die Mobilmachung zum Wehrdienst einberufen werden, den gleichen Status, die gleiche Bezahlung und die gleichen sozialen Absicherungen erhalten wie diejenigen, die sich vertraglich zum Militärdienst verpflichtet haben.
Ich füge hinzu, dass der Erlass über die Teilmobilisierung zusätzliche Maßnahmen zur Erfüllung des staatlichen Verteidigungsauftrags erhält. Die Leiter der Rüstungsbetriebe sind unmittelbar dafür verantwortlich, dass die geforderte Steigerung der Lieferung von Waffen und Militärtechnik umgesetzt und zusätzliche Produktionskapazitäten aufgebaut werden. Die Regierung hat ihrerseits unverzüglich die materielle, finanzielle und anderweitige Ausstattung der Rüstungsunternehmen sicherzustellen.
Sehr geehrte Freunde!
Der Westen hat in seiner aggressiven antirussländischen Politik sämtliche Grenzen überschritten. Wir hören permanent Drohungen gegen unser Land und unser Volk. Einige unverantwortliche Politiker im Westen sprechen nicht nur davon, dass der Ukraine Angriffswaffen mit großer Reichweite geliefert werden sollen, Systeme also, die Schläge gegen die Krim und andere Regionen Russlands erlauben würden.
Solche terroristischen Angriffe, auch unter Verwendung westlicher Waffen, gibt es bereits jetzt, in grenznahen Orten der Gebiete Belgorod und Kursk. Schon jetzt findet mit Hilfe moderner Systeme, mit Hilfe von Flugzeugen, Schiffen, Satelliten und strategischen Drohnen eine Echtzeit-Überwachung des gesamten Süden Russlands durch die NATO statt.
In Washington, London und Brüssel wird Kiew geradezu gedrängt, die Kampfhandlungen auf unser Territorium auszuweiten. Man redet bereits unverhohlen davon, dass Russland mit allen Mitteln auf dem Schlachtfeld vernichtet und anschließend seiner politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, ja überhaupt jeder Souveränität beraubt werden soll, unser Land soll völlig ausgeraubt werden.
Auch nukleare Erpressung wird jetzt ins Spiel gebracht. Es geht nicht nur um den vom Westen angetriebenen Beschuss des Atomkraftwerks in Zaporož’e, der eine atomare Katastrophe auszulösen droht, sondern auch um die Aussagen einiger hochrangiger Vertreter führender NATO-Staaten, wonach ein Einsatz von Massenvernichtungswaffen, von Atomwaffen gegen Russland möglich und zulässig sei.
Alle, die sich solche Aussagen in Bezug auf Russland erlauben, möchte ich daran erinnern, dass unser Land über unterschiedliche Angriffssysteme verfügt, die in einzelnen Komponenten moderner sind als die der NATO-Länder. Und bei einer Bedrohung der territorialen Integrität unseres Landes werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volks zweifellos alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Das ist kein Bluff.
Die Bürger Russlands können sicher sein: Die territoriale Integrität unseres Vaterlands, unsere Unabhängigkeit und unsere Freiheit werden, ich betone das noch einmal, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln sichergestellt. Wer versucht, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollte wissen, dass die Windrose sich auch in seine Richtung drehen kann.
Es ist Teil der historischen Tradition, des Schicksals unseres Volkes, diejenigen aufzuhalten, die nach Weltherrschaft streben, die unsere Heimat, unser Vaterland zertrümmern und versklaven wollen. Das werden wir auch diesmal tun, so wird es kommen.
Ich bin sicher, dass Sie dies unterstützen werden.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Quelle: http://kremlin.ru/events/president/news/69390