Viel Schatten, ein wenig Licht

Nikolay Mitrokhin, 5.6.2024

Russlands Krieg gegen die Ukraine, die 118. Kriegswoche

Die ukrainische Armee hat kaum noch Reserven. Sie hat Russlands Angriff auf das Gebiet Charkiv zwar aufhalten können, die Probleme an anderen Frontabschnitten wachsen jedoch. Einen weiteren gefährlichen Durchbruch der Okkupationsarmee gibt es zwar noch nicht, aber die Erschöpfung der ukrainischen Truppen ist erkennbar. Die Erlaubnis, westliche Waffen gegen militärische Ziele auf russländischem Territorium einsetzen zu können, verspricht eine leichte Verbesserung der Lage. Im Luftkrieg geht der Schlagabtausch weiter, die Ukraine steht angesichts der fortschreitenden Zerstörung von Kraftwerken sowie des Stromnetzes vor schwierigen Abwägungen.

Die Abwehr des russländischen Angriffs im Norden des Gebiets Charkiv hat die ukrainische Armee an anderen umkämpften Frontabschnitten geschwächt. Bislang widersteht sie den permanenten Angriffen der Okkupationstruppen. Doch die Zahl der kleinen schlechten Nachrichten häuft sich. Dem Angreifer fehlt es allerdings an Truppen, um die Schwäche zu nutzen. Ein Einsatz neuer Kontingente ist nicht zu erkennen, die Angriffe werden mit Reserven aus dem unmittelbaren Frontgebiet und dem nahegelegenen rückwärtigen Raum geführt.

Im Norden des Gebiets Charkiv hat die Ukraine nach eigenen Angaben Mitte der letzten Maiwoche in Vovčans’k die Hälfte des dort von den russländischen Okkupationstruppen zuvor eingenommenen Gebiets zurückerobert. Die ukrainischen Medien zeigten in großer Zahl Fotos und Videos aus dem völlig zerstörten Nordteil der Stadt. Schwere Kämpfe finden westlich der Stadt nahe der Siedlung Starica statt, wo Russland unter schweren Verlusten leichte Geländegewinne erzielen konnte. Nach ukrainischen Angaben verteilt der Gegner hier Reservetruppen zwischen dem rückwärtigen Raum des gegenwärtigen Kampfgebiets bei Vovčans’k und dem im Gebiet Kursk gelegenen Kreis Sudža. Von dort könnte Russland möglicherweise einen weiteren Angriff, nun in Richtung Sumy, der Hauptstadt des gleichnamigen ukrainischen Gebiets, führen. In dieser Gegend hat die ukrainische Armee am 2. Juni auf russländischem Territorium in unmittelbarer Nähe zur Grenze eine ganze Kolonne von mindestens zwei Dutzend Militärfahrzeugen zerstört.

Im Gebiet Donec’k verschlechtert sich westlich von Bachmut bei Časiv Jar die Lage der Ukraine zunehmend. Bereits vor zwei Wochen sind die Okkupationstruppen in den östlichen Stadtbezirk Kanal eingedrungen und setzen dort u.a. das schwere Flammenwerferfahrzeug Solncepek ein. Weiter südlich dringen die russländischen Truppen im Raum der nördlich von Avdijivka gelegenen Siedlung Očeretine langsam weiter vor, ebenso leicht südlich davon (westlich von Berdyči) – und nutzen so das Potential des Durchbruchs, der ihnen dort vor einigen Wochen gelungen ist. Kleine Geländegewinne erzielen sie auch südlich der bei der Eroberung zerstörten Stadt Mar’inka.

Weiter südlich haben die russländischen Truppen an der westlichen Peripherie der Stadt Donec’k den Sturm auf Krasnohorivka fortgesetzt. Sie greifen die um ein Ziegelwerk errichtete Stadt, die vor 2022 rund 15 000 Einwohner hatte, seit Anfang 2024 an. In den letzten Wochen haben sich die Attacken jedoch intensiviert. Anfang Juni sind sie offenbar bis zu den Verwaltungsgebäuden im Stadtzentrum vorgedrungen und haben den Südteil der Stadt erobert. Volodymyr Zelens’kyj hat davon gesprochen, dass die Ukraine keine Reserven für eine Rotation im Gebiet Donec’k mehr hat. Stimmt dies, wird Krasnohorivka wohl im Laufe des Monats fallen.

Im Gebiet Zaporižžja haben die Okkupationstruppen nach eigenen Angaben die zerstörten Dörfer Staromajors’ke und Urožajne erneut weitgehend eingenommen. Diese hatte die Ukraine im Laufe ihrer Sommeroffensive 2023 unter größten Mühen zurückerobert.

Ganz im Süden der über 1000 Kilometer langen Front haben die russländischen Truppen begonnen, die Inseln im Delta des Dnipro anzugreifen. Diese hatte die ukrainische Armee im Winter und Frühjahr 2024 unter ihre Kontrolle gebracht. Voraussetzung dafür war gewesen, dass die Bäume in den Flussauen keine Blätter trugen und die aus der Luft leicht ausfindig zu machenden Einheiten des Gegners mit Drohnen und Artillerie angegriffen werden konnten. Jetzt können sich diese wieder unter dem Blätterdach verstecken. Daher hat die Ukraine auch Drohnentrupps abgezogen und ins Gebiet Charkiv verlegt.

Die Okkupationstruppen, die nun versuchen, die Inseln wieder einzunehmen und ein mögliches Übersetzen ans rechte Ufer des Dnipro vorzubereiten, erleiden schwere Verluste. Die Gruppe Süd der ukrainischen Armee verbreitete über den von ihr betriebenen Telegram-Kanal Nikolaevskij Vanëk Bilder von im Wasser liegenden Leichen gegnerischer Soldaten. Möglicherweise hat ein Angriff der Ukraine auf kleinere Militärboote auf der Krim mit der Lage im Dnipro-Delta zu tun und sollte verhindern, dass Russland weitere Soldaten auf die Inseln und Teile der rechten Uferzone des Flusses bringt.

Der Angriff auf ein so unbedeutendes Ziel wie die Militärboote vom Typ Tunec zeigt, dass sich die Taktik des Angriffs auf große Schiffe mit unbemannten Booten erschöpft hat. Russland versteckt die großen Schiffe entweder in den fernen Häfen am Ostufer des Schwarzen Meers oder in jenen Häfen auf der Krim, die gut mit Luftabwehr abgedeckt und an der Einfahrt in die Reede mit Netzen geschützten Häfen auf der Krim. Sie werden praktisch nicht mehr an der Küste der Krim oder gar im westlichen Teil des Schwarzen Meers eingesetzt.

Dies ist zweifellos ein Erfolg der Ukraine. Doch damit gibt es keine Verwendung für die unbemannten Boote mehr. Und Russland entwickelt die Methoden zu deren Bekämpfung weiter. Anstelle der wenig erfolgreichen Versuche, sie von Hubschraubern oder gar von Flugzeugen aus abzuschießen, treten eine genauere Überwachung der Meeresoberfläche und anschließende Attacken mit Angriffsdrohnen. Diese können mit bis zu 120 Stundenkilometern fliegen und die unbemannten Boote sind für sie ein sicheres Ziel. Die Ukraine wird daher gewiss damit beginnen, unbemannte Unterwasserboote zu entwickeln.

Luftangriffe auf die Krim und die Halbinsel Taman‘

In der Nacht vom 29. auf den 30. Mai hat die Ukraine mit acht ATACMS-Raketen den Hafen von Kerč im Osten der Krim angegriffen. Ziel waren die Auto- und Eisenbahnfähren Konro-Trejder und Avangard. Nach russländischen Angaben wurden die Raketen direkt über dem Ziel abgefangen und nur herab­stürzende Trümmer richteten leichte Schäden an. Die Ukraine sprach von schweren Schäden oder sogar von einer Zerstörung der Fähren. Die vorhandenen Videoaufnahmen geben keine Klarheit.

Am 31. Mai folgten zum wiederholten Mal Angriffe im Raum der Meerenge von Kerč. Mit Raketen vom Typ Neptun sowie Drohnen attackierte die ukrainische Armee den auf der Landzunge Čuška auf russländischem Gebiet gelegenen Hafen „Kavkaz“. Im dortigen Ölterminal gingen Tanks in Flammen auf. Nahe der Siedlung Volna im Süden der Taman’-Halbinsel geschah das gleiche mit einigen Tankwagen eines dort stehenden Güterzugs des dortigen Öl und Gasunternehmens Taman’neftegaz. Auch das Umspannwerk bei Taman’, das für die Stromversorgung der Krim eine Rolle spielt, wurde zum Ziel von Angriffen.

Der Hafen Kavkaz ist gemessen an der Umschlagskapazität nach jenem von Novorossijsk der zweitgrößte im Gebiet Krasnodar. Er dient vor allem dazu, die Krim mit Treibstoff zu versorgen. Mit den Angriffen versucht die Ukraine, die Versorgung der russländischen Truppen auf der Krim und in der Südostukraine zu unterbinden. Allerdings hat Russland mittlerweile auf dem Festland eine Bahnstrecke sowie eine Fernstraße gebaut, die von Taganrog über Mariupol’ und Berdjans’k auf die Krim führt. Dies hat den Nutzen der Angriffe auf die Infrastruktur im Bereich der Krimbrücke reduziert.

Daher steht die Ukraine vor einer schwierigen Abwägung. Zweifellos ist sie völkerrechtlich berechtigt, zur Selbstverteidigung russländisches Territorium anzugreifen. Andererseits ist offensichtlich, dass Putin nervös auf alle Attacken auf die Krimbrücke und deren Umfeld reagiert. Die massiven Angriffe auf das ukrainische Energiesystem etwa begannen nach dem erfolgreichen ukrainischen Sprengstoff­anschlag auf die Brücke am 8. Oktober 2022. Die Frage, die sich Kiew stellen muss, lautet: Rechtfertigt der erwartete Nutzen von Angriffen wie jenem auf den Hafen Kavkaz die erwartbaren Folgen in einer Situation, in der es an Flugabwehrgeschützen sowie an Flugabwehrraketen mangelt und die Stromversorgung des gesamten Landes nur noch an einem seidenen Faden hängt.

Unmittelbar nach dem Angriff auf Anlagen auf der Halbinsel Taman’ griff Russland zu massiven Luftschlägen. In der Nacht auf den 1. Juni attackierten 53 Raketen und 47 Kampfdrohnen die Infrastruktur der Stromversorgung in den Gebieten Ivano-Frankivs’k, Dnipropetrovs’k, Kirovohrad, Donec’k und Zaporižžja. Getroffen wurden u.a. das gerade erst wiederhergestellte Wasserkraftwerk Zaporižžja-1 sowie das Kohlekraftwerk Burštyn im Gebiet Ivano-Frankivs’k. Es war der sechste Großangriff dieser Art seit Mitte März. Sie alle erfolgten nach ukrainischen Angriffen auf Belgorod oder Anlagen der russländischen Erdölindustrie, deren strategischer Nutzen gering ist.

Die offiziellen Infor­mationen über die Schäden der jüngsten Attacke sind rar, es ist nur die Rede davon, dass zwei Wärme- und zwei Wasserkraftwerke sowie kritische Infrastruktur im Gebiet Lemberg getroffen worden seien. Dass die Raketen und Drohnen massive Schäden verursacht haben, zeigt sich jedoch daran, dass die ukrainische Stromgesellschaft einen Zusammenbruch des Verbundnetzes am folgenden Morgen nur durch Lastabwurf verhindern konnte, so dass es großflächig zu Stromausfällen kam. Auch wenn die Probleme bis zum Abend beseitigt werden konnten, gehören solche Abschaltungen mittlerweile zum Alltag. In einigen Landkreisen des Gebiets Charkiv gibt es überhaupt keinen Strom mehr. Die Ukraine hat durch den Raketenbeschuss rund acht Gigawatt installierte Kapazität verloren und die Versorgung hängt nun sehr stark von den Atomkraftwerken ab. Allerdings liefern die sechs Blöcke in Zaporižžja seit 2022 keinen Strom mehr.

Es verbleiben neun Blöcke an drei Standorten – Varaš (AKW Rivne, 2x 1000 MW, 2x 400 MW), Netišyn (AKW Chmel’nyc’kyj, 4x 1000 MW) und Južnoukrains’k (AKW Südukraine, 3x 1000 MW) – mit einer Gesamtkapazität von 9,8 Gigawatt sowie Stromimporte aus der EU, die stark zugenommen haben, aber gegenwärtig höchstens 1,7 Gigawatt ersetzen können. Reguläre Abschaltungen einzelner Blöcke zwecks Wartung sowie insbesondere der Beschuss von Umspannstationen und Fernleitungen vergrößern das Problem.

Gefangenenaustausch

Am 1. Juni haben die Ukraine und Russland erstmals seit Februar wieder 75 Kriegsgefangene sowie die Leichen von 212 gefallenen Soldaten ausgetauscht. Den Austausch hatten die Vereinigten Arabischen Emirate vermittelt. Unter den zurückgekehrten Ukrainern waren 12 Soldaten, die vor fast zweieinhalb Jahren auf der Schlangeninsel in Gefangenschaft geraten waren, sowie zehn Menschen aus Mariupol’, darunter Frauen. Der Austausch zeugt – ebenso wie die Fortsetzung der Erdgaslieferungen aus Russland nach Ostmitteleuropa über ukrainisches Territorium – davon, dass es weiter nicht-öffentliche Gesprächskanäle zwischen den beiden Kriegsparteien gibt. Ursprünglich hatten beide Seiten je 500 Gefangene freilassen wollen, dann hatte Russland der Ukraine vorgeworfen, bei der Zusammenstellung der Listen unbedeutende russländische Gefangene gegen bedeutende eigene austauschen zu wollen und die Gespräche abgebrochen. Eine Woche später fand der Austausch in verändertem Umfang statt. Insgesamt hat die Zahl der Kriegsgefangenen seit dem Angriff Russlands auf das Gebiet Charkiv auf beiden Seiten zugenommen, die Ukraine hat mittlerweile drei große Kriegsgefangenenlager.

Westliche Waffen zur Verteidigung des Gebiets Charkiv

Die USA – und in kurzer Folge auch deren Bündnispartner – haben in kurzer Zeit ihre Position geändert und erlauben Kiew nun offiziell, der Ukraine zur Verfügung gestellte Waffen für Schläge gegen militärische Ziele in Russland einzusetzen. Konkret geht es um die Abwehr der Angriffe aus dem Gebiet Belgorod auf das ukrainische Gebiet Charkiv. Zelens’kyj hatte zuvor öffentlich erklärt, die Ukraine habe keine Waffen mehr, um neue Reservebrigaden zu bilden, die weitere Angriffe Russlands aus dem Norden auf das Gebiet Charkiv, aber auch auf die Gebiete Sumy und Černihiv, abwehren könnten.

Bereits zuvor wurden Artilleriegranaten, Drohnen und teilweise Flugabwehrsysteme aus westlicher Produktion bei den Kämpfen im grenznahen Gebiet eingesetzt. Belgorod wurde etwa mit tschechischen „Vampir“-Raketen beschossen. Nun kann die Ukraine jedoch deutlich mehr Waffentypen mit größerer Reichweite – bis zu 80 Kilometer in der Tiefe des russländischen Territoriums – zu ihrer Verteidigung verwenden. Damit kann die Ukraine den Aufmarsch neuer Truppen in grenznahen Landkreisen stören oder unterbinden. Doch es gibt weitere Beschränkungen, etwa beim Einsatz der schweren ATACMS-Raketen.

Mit Himars-2-Raketen wurden jedoch bereits die auf einen solchen Angriff nicht vorbereiteten russländischen Truppen im genannten Raum beschossen. Die Ukraine zerstörte auf diese Weise eines der wertvollen S-400 Luftabwehrsysteme, das Russland eingesetzt hatte, um solche Raketen beim Anflug abzufangen. Bei diesem einen wichtigen Erfolg wird es nicht bleiben.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.