Tödliche Stabilität
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 119. und 120. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 17.6.2024
An zahlreichen Abschnitten der 1000 Kilometer langen Front im Osten der Ukraine wird heftig gekämpft. Die russländische Besatzungsarmee kann kaum voranrücken, im Gebiet Charkiv ist die Ukraine zum Gegenangriff übergegangen. Gefahr für die Ukraine könnte von einem möglichen Angriff auf das Gebiet Sumy ausgehen. Grundsätzlich fehlt es beiden Seiten nach hohen Verlusten an Reserven für Offensivoperationen. Der zur Zermürbung des Gegners geführte Luftkrieg geht weiter.
Das Epizentrum der Kämpfe im Osten der Ukraine hat sich im Laufe des Juni in den Norden des Gebiets Charkiv verlagert. Die ukrainische Armee hat an der von Russland am 10. Mai eröffneten neuen Front den Angriff nicht nur abgewehrt. Sie ist dort mittlerweile zum Gegenangriff übergegangen. Die ukrainischen Truppen versuchen, die nördlich von Charkiv gelegene Siedlung Hluboke wieder unter Kontrolle zu bringen. Vor allem aber wird in und um Vovčans’k gekämpft. Nach ukrainischen Angaben hat die Armee bereits seit einiger Zeit auf einem Fabrikgelände im Nordteil der Stadt eine große Einheit des Gegners mit rund 400 Soldaten eingekesselt. Diese haben kaum noch Munition, mit Wasser und Lebensmitteln werden sie über Drohnen von ihrer Hauptgruppe versorgt, die sich bislang einige Stadtviertel weiter nordwestlich halten kann. Russländische Militärblogger berichten, ohne Einzelheiten zu nennen, von „schweren Kämpfen im Umkreis der Aggregatoren-Fabrik“.
Heftige Kämpfe finden auch im Donbass nördlich von Očeretine statt. Dort sind die russländischen Truppen teilweise in die Siedlung Novoaleksandrivka eingedrungen. Gelingt es ihnen, diese vollständig einzunehmen, sind sie dem Ziel, zur Straße von Pokrovsk nach Konstantynivka vorzustoßen, ein nicht unerhebliches Stück näher gekommen. Bis dahin wären nur noch sieben Kilometer und eine Siedlung zu überwinden. Diese Straße ist die Hauptroute zur Versorgung der ukrainischen Truppen, die westlich von Bachmut stehen, u.a. in Časiv Jar und in Konstantynivka. Etwas gelindert wird die Gefahr dadurch, dass die Straße an der gefährdeten Stelle einen Bogen nach Osten macht. Sollte die Okkupationsarmee die Route an dieser Stelle unter Beschuss nehmen können, hätten die ukrainischen Truppen die Möglichkeit, den gefährdeten Abschnitt durch eine weiter westlich zu schaffende Stichtrasse zu vermeiden. Die Lage dort zeigt gleichwohl, dass es der Ukraine bislang nicht gelungen ist, die Lücke in ihrer Verteidigungslinie zu schließen, die durch den Fall von Avdijivka und die Aufgabe von Očeretine entstanden ist. Die Verlegung von Einheiten ins Gebiet Charkiv macht sich somit weiter negativ im Gebiet Donec’k bemerkbar.
An anderen umkämpften Frontabschnitten kommt die Okkupationsarmee jedoch kaum voran. Westlich von Svatove, in der Gegend von Terny westlich von Kreminna, im Stadtbezirk „Kanal“ von Časiv Jar, westlich von Avdijivka, bei Krasnohorivka westlich von Donec’k und an anderen Stellen des Frontabschnitts bei Vuhledar, bei Rabotine im Gebiet Zaporižžja – überall sind die russländischen Truppen in der zweiten Juniwoche allenfalls einige hundert Meter vorgerückt. Auch auf den Inseln im Delta des Dnipro gibt es keine wesentlichen Veränderungen.
Die Ukraine berichtet ihrerseits von einem Vorstoß um rund einen Kilometer im südwestlich von Kreminna gelegenen Waldgebiet bei Serebrjanka. Um dieses wird bereits seit Oktober 2022 heftig gekämpft, weil seine Eroberung den ukrainischen Truppen Zugang zu einem wichtigen Knotenpunkt der Verteidigungslinie der Okkupationsarmee verschaffen würde.
Diese Situation an der Front, in der es beiden Seiten an Soldaten und Material für erfolgversprechende Offensivaktionen mangelt, nutzen sowohl die ukrainische Seite als auch die russländische Besatzungsarmee zum weiteren Ausbau ihrer Stellungen. Dies macht größere Territorialgewinne noch unwahrscheinlicher.
Besorgniserregend sind allerdings die Nachrichten aus dem Norden der Ukraine. Es steht weiter im Raum, dass Russland mit einem Angriff auf das Gebiet Sumy eine weitere Front eröffnet. Am 11. Juni ist ein russländisches Überfallkommando in die 60 Kilometer nordwestlich der Gebietshauptstadt Sumy gelegene grenznahe Siedlung Ryživka eingedrungen. Es könnte sich um eine Finte, aber auch um einen Erkundungszug oder um eine Vorbereitung auf einen geplanten großen Angriff in dieser Gegend gehandelt haben. Die ständigen Raketenangriffe auf das Gebiet Poltava im rückwärtigen Raum des Gebiets Sumy lassen jedenfalls befürchten, dass die russländische Armee tatsächlich einen Angriff plant.
Gleichwohl gilt, dass auch Russland keine Reserven für Angriffe hat, die die ukrainische Armee in sehr große Schwierigkeiten bringen könnten. Daran wird sich auf längere Zeit nichts ändern. Selbst wenn die benötigten Fahrzeuge und Waffen beschafft werden könnten, fehlt es immer noch an Soldaten. Putin hat auf dem Petersburger Wirtschaftsforum Anfang Juni erklärt, es werde keine weitere Mobilmachung geben. Und immer weniger Männer begeben sich freiwillig in die Hölle. Mittlerweile tauchen in verschiedenen Telegram-Kanälen wieder deutlich mehr Videos und Kopien von Chats auf, in denen Soldaten der russländischen Truppen über die riesigen Verluste berichten oder sich darüber beklagen, dass die Vorgesetzten sie wie Vieh behandeln würden. Wegen enormer Verluste wurden etwa am 6. Juni und am 10. Juni zwei motorisierte Schützendivisionen aus Vovčans’k im Gebiet Charkiv zurückgezogen. Mittlerweile setzt Russland immer mehr Söldner aus Afrika ein. Kürzlich präsentierte sich ein solcher mit einem Abzeichen der Bewegung „Indigene Völker Biafras“, die für eine Unabhängigkeit von Nigeria kämpft.
Der Luftkrieg
Russland und die Ukraine haben auch im Juni ihre Luftangriffe unvermindert fortgesetzt. Beide Seiten setzen in erster Linie Flugkörper ein, über die sie entweder in großer Zahl verfügen, oder solche, die der Luftabwehr des Gegners die größten Schwierigkeiten bereiten.
Bei einem russländischen Luftangriff auf die ukrainische Industriestadt Krivyj Rih starben am 12. Juni neun Menschen in einem mehrstöckigen Haus, 29 wurden verletzt, darunter fünf Kinder. Am gleichen Tag löste ein Raketenangriff auf eine Industrieanlage im Gebiet Kiew – genaue Angaben über den Ort macht die Ukraine nicht – einen Großbrand aus, der auch nach vier Tagen noch nicht gänzlich gelöscht war. Auch die Erdgasspeicher bei Stryj im Gebiet Lemberg wurden erneut Ziel von Angriffen. Am 16. Juni folgte eine Luftschlag auf den Flugplatz in Myrhorod im ukrainischen Gebiet Poltava, wo ein ukrainisches Jagdflugzeug beschädigt wurde, sowie auf eine S-300-Stellung nahe einer östlich der Stadt gelegenen Siedlung. Mindestens zwei Komponenten wurden zerstört. Der Einschlag wurde von einer russländischen Drohne aufgezeichnet, die 150 Kilometer tief in den ukrainischen Luftraum hatte eindringen können.
Am 14. Juni gelangte ein Schwarm von 70 ukrainischen Drohnen zum Flugplatz Morozovsk im Gebiet Rostov, wo mindestens fünf SU-34-Bomber der russländischen Luftwaffe stationiert sind, die für den Abwurf schwerer Bomben auf ukrainische Stellungen eingesetzt werden. Zu Kriegsbeginn verfügte Russland über knapp 150 dieser Flugzeuge, mindestens 13 davon wurden in den vergangenen zwei Jahren abgeschossen. Nach russländischen Angaben wurden alle 70 Drohnen in der Luft abgefangen, die ukrainische Seite hat Luftaufnahmen vorgelegt, die belegen sollen, dass zumindest einige der Flugkörper Hangars auf dem Flugplatz beschädigt haben. Möglicherweise befanden sich dort ein oder zwei Flugzeuge.
Die übrigen waren jedoch nach dem Luftalarm gestartet und befanden sich auf dem Weg zu anderen Flugplätzen. Einige ukrainische Quellen vermuten, Russlands Luftstreitkräfte würden sich nicht mehr auf die Luftabwehr verlassen und die Flugzeuge in ständiger Kampfbereitschaft halten, um sie bei Alarm starten zu lassen. Tatsächlich ist offensichtlich, dass die Luftabwehr mit großen Drohnenschwärmen nicht zurechtkommt, insbesondere wenn diese auf niedriger Höhe anfliegen. Dies hätte allerdings Folgen für den Zustand der Flugzeuge und auch Auswirkungen auf die Piloten. Von der Krim hat Russland offenbar bereits alle Flugzeuge zurückgezogen, dort greift die Ukraine mit Raketen und Drohnen nunmehr die verbliebenen Luftabwehrstellungen an.
Am 10. Juni etwa erging ein solcher Angriff mit mindestens 12 ATACMS-Raketen auf Einheiten der 31. Luftabwehrdivision, die an drei Orten in den Landkreisen Džankoj und Saky im Norden und Westen der Halbinsel stationiert ist. Selbst die russländischen Militärblogger geben zu, dass keine einzige der anfliegenden Raketen abgefangen wurde. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs wurde ein System vom Typ S-400 sowie zwei des Typs S-300 zerstört. Anderen Angaben zufolge wurden nur die Radaranlagen getroffen. Am 12. Juni folgte ein Angriff auf drei Systeme vom Typ S-300 und S-400 auf dem Flugplatz Bel’bek nahe Sevastopol‘. Angeblich wurden mindestens zwei Radarstationen zerstört. So stellt sich die Frage, wie viele funktionsfähige Luftabwehrsysteme Russland auf der Krim noch stationiert hat, denn unendlich ist deren Zahl keineswegs.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.