Kostjantynivka: Die letzte größere Stadt im zentralen Donbass unter ukrainischer Kontrolle gerät ins Visier der Angreifer. Quelle: Wikimedia
Kostjantynivka: Die letzte größere Stadt im zentralen Donbass unter ukrainischer Kontrolle gerät ins Visier der Angreifer. Quelle: Wikimedia

Skandale und Degeneration in Putins Armee

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 150. Kriegswoche

Nikolaj Mitrokhin, 24.1.2025

Russland verzeichnet geringe, aber entscheidende Geländegewinne. Es zeichnet sich bereits ab, dass noch im Frühling auch die letzte größere Stadt im zentralen Donbass an Russland fallen könnte. Die Besatzer dürften sie von gleich drei Seiten stürmen. Im Gebiet Kursk blieb eine erwartete ukrainische Offensive aus, stattdessen rückt Moskaus Armee auch hier über die ukrainische Grenze. Die Ukraine geht härter gegen Fehler der militärischen Führung vor und nimmt den Chefpsychiater der ukrainischen Streitkräfte fest. Beide Seiten haben große Mobilisierungsprobleme – und provozieren deshalb Skandale. Videos liefern erschütternde Einblicke in die zutiefst kriminellen Zustände in Russlands Armee.

Lage an den Fronten von Zaporižžja und Donec’k

Die russländischen Streitkräfte sind zwar nur langsam vorgerückt – selbst in den erfolgreichsten Gebieten waren es nicht mehr als 200 Meter pro Tag. Trotzdem erlitten die ukrainischen Streitkräfte im Laufe der Woche an den Fronten von Zaporižžja und Donec’k bedeutende Niederlagen.

Die Okkupationsarmee hat die Einkreisung von Velyka Novosilka an der Zaporižžja-Front faktisch abgeschlossen. Nur ein kleines „Fenster“ im Nordwesten ist noch offen, das einen Abzug der noch in der Stadt befindlichen Ausrüstung allerdings nicht ermöglicht. Bestätigten ukrainischen Quellen zufolge sind die Besatzer zudem in den nordöstlichen Teil der Stadt eingedrungen. Russländischen Quellen zufolge haben sie bereits die Hälfte der Stadt besetzt. Schon bis zum Wochenende könnte die Stadt bereits vollständig von Russlands Truppen besetzt sein. Velyka Novosilka, eine Kleinstadt mit einer Vorkriegsbevölkerung von 5500 Einwohnern, war seit Beginn des Krieges das Zentrum der ukrainischen Verteidigungslinie zwischen Vuhledar und Orichiv. Im Jahr 2023 war es der ukrainischen Armee noch gelungen, Russlands Truppen vom südlichen Stadtrand zurückzudrängen, dafür zahlte Kiew einen hohen Preis in Form von Ausrüstung und Personal. Vom Dorf Komar aus, das seit mehr als einem Monat besetzt ist, wird voraussichtlich der nächste Vorstoß zur Autobahn zwischen Pavlodar und Donec’k erfolgen. So sollen die übrigen ukrainischen Streitkräfte abgeschnitten werden, die aktuell noch westlich von Kurachove verteidigen. Darüber hinaus werden Russlands Streitkräfte die Front vor Zaporižžja weiter nach Westen in das Gebiet Dnipropetrovs’k verschieben. Bis zum Dnipro ist es zwar noch weit, etwa 120 Kilometer, doch die ukrainischen Sorgen werden größer.

Parallel dazu umgeht Moskaus Militär Pokrovs’k von Süden her und kappt eine der wichtigsten Verbindungsstraßen ins Hinterland. Wenn die Offensive in diesem Tempo weitergeht, wird auch die zweite Straße bis Ende nächster Woche unter Feuerkontrolle der Russen sein. Die ukrainischen Kämpfer beklagen sich, dass in der Nähe der Stadt kaum Befestigungen vorbereitet sind. Die wenigen, die es gibt, seien oft schlampig konstruiert. Russländische Sabotage- und Aufklärungsgruppen haben am Wochenende versucht, von Südosten über die Felder nach Pokrovs’k vorzudringen. Sie wurden offenbar erfolgreich zurückgeschlagen, Kiew spielte den Angriff in der Folge herunter. Es scheint aber offensichtlich, dass die Russen angesichts von nur drei bis vier Kilometern zwischen Kampflinie und Stadtgrenze Pokrovs’k früher oder später erreichen werden.

Eine weitere schlechte Nachricht kam aus Časiv Jar. Die Okkupanten stürmten die Überreste der Feuerfest-Fabrik, des wichtigsten Verteidigungsknotens der ukrainischen Streitkräfte in der Stadt. Hier hatten die Kämpfe über Wochen angedauert. Putins Truppen rücken nun in den Süden und Westen der Stadt vor. Es handelt sich um Wohngebiete, hier ist die Verteidigung entsprechend komplizierter. Die Ukraine wird Časiv Jar noch einige Wochen halten können, aber auch das Schicksal dieser Stadt scheint besiegelt. Experten erörtern ausführlich die Aussichten der Besatzer, die letzte größere Stadt im zentralen Donbass zu erreichen: Kostjantynivka. Sie ist die südlichste Stadt des Ballungsgebietes von Kramators’k-Slavjans’k. Vom Zentrum von Časiv Jar bis zum Zentrum von Kostjantynivka sind es keine fünfzehn Kilometer. Vom Zentrum von Torec’k, das inzwischen fast vollständig besetzt ist, sind es 21 Kilometer. Von Vozdviženka (nördlich von Mirnohrad), das vor vierzehn Tagen eingenommen wurde, bis Kostjantynivka sind es 31 Kilometer. Höchstwahrscheinlich wird die Stadt von drei Seiten gestürmt. Auch könnte sie von der Straße nach Družkivka und Kramators’k abgeschnitten werden, die aus Časiv Jar kommt. Es sieht so aus, als fiele Kostjantynivka bis zum Ende des Frühlings ebenfalls an Russland.

In der nördlichen Hälfte dieses Frontabschnittes gab es nur minimale Bewegungen. Am 23. Januar teilte Russlands Verteidigungsministerium jedoch mit, dass Einheiten der Einheit Zapad nördlich von Kupjans’k am rechten Ufer des Oskil das Dorf Zapadnoe in der Region Charkiv besetzt haben. Damit hat sich Russlands Brückenkopf, der wiederholt von den ukrainischen Streitkräften angegriffen worden war, am rechten Ufer auf 4,5 Kilometer Tiefe vom Fluss nach Westen hin ausgeweitet.

Lage in der Region Kursk

Russländische Kriegsberichterstatter hatten zu Beginn der Woche eine Großoffensive der ukrainischen Streitkräfte erwartet. Sie hatten zusätzliche Ausrüstung entdeckt, die tief in die Region verlegt worden war. Diese wurden jedoch offenbar dazu verwendet, Machnovka (ein südöstlicher Vorort von Sunža, der von den russischen Streitkräften bei einem Angriff vor zehn Tagen befreit worden war) wieder unter die Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte zu bringen. Dies meldete die ukrainische Seite am Wochenende. Gleichzeitig waren in den ukrainischen Medien Videos von der Zerstörung russländischer Ausrüstung zu sehen, die in Kolonnen von vier oder fünf Fahrzeugen in einem nicht näher bezeichneten Gebiet versucht hatten, Felder einzunehmen. Die ukrainische Armee meldete, dass die Soldaten der 47. Unabhängigen Mechanisierten Brigade Magura zusammen mit der 82. Luftlandebrigade Bukovina einen mechanisierten Angriff des Feindes in der Region Kursk abgewehrt haben. Dabei seien etwa 20 Fahrzeuge und bis zu zweihundert Infanteristen ausgeschaltet worden. Getrennt davon hieß es, dass Spezialeinheiten mindestens 20 Nordkoreaner getötet und 40 verwundet haben. Wo genau diese Kämpfe stattfanden, ist nicht bekannt.

Am 22. Januar wurde bekannt, dass Moskaus Streitkräfte das Dorf Nikolaevo-Dar’ino im südwestlichen Teil der „Blase“, nahe der russländisch-ukrainischen Grenze, befreit und diese sogar überquert hätten. Dies ist ein potenziell gefährlicher Moment: Wenn die Armee der Ukraine nicht über genügend Kräfte und Befestigungen an der Grenze verfügt, könnten Putins Truppen hier der gesamten Gruppierung einen empfindlichen Schlag versetzen.

Probleme der ukrainischen Streitkräfte

Dass die ukrainischen Grenzanlagen und die sie unterstützenden Truppen nicht immer heldenhaft kämpfen, zeigen mehrere Verhaftungen namhafter ukrainischer Militärs durch das Staatliche Ermittlungsamt der Ukraine am 20. Januar. Die Begründung: „Verdacht auf behördliche Fahrlässigkeit im Zusammenhang mit dem Versagen der Verteidigung sowie dem Verlust der Kontrolle über die Truppen in Richtung Charkiv am 10. Mai 2024“. Verhaftet wurden Brigadegeneral Jurij Galuškin, ehemaliger Befehlshaber der Direktion „Charkiv”, Generalleutnant Artur Gorbenko, ehemaliger Befehlshaber der 125. Lemberger Brigade der Territorialverteidigung (Teroborona), sowie der ehemalige stellvertretende Befehlshaber der 125. Brigade Ilja Lapin. Es geht um die Flucht des ukrainischen Militärs aus schlecht vorbereiteten Grenzanlagen. Eine plötzliche Offensive hatte es Moskaus Streitkräften ermöglicht, knapp 20 Kilometer weit in das ukrainische Hoheitsgebiet vorzudringen. Insbesondere konnten sie das Dorf Lipcy einnehmen, um das noch immer gekämpft wird. Darüber hinaus wurde am selben Tag der ehemalige Kommandeur der 155. mechanisierten Brigade „Anna Kiewskaja“, Oberst Dmytro Ryumšyn, in Černyvcy festgenommen. Diese Brigade war auf Kosten der französischen Regierung gebildet worden, sie hatte zunächst in Frankreich und dann auf dem Weg zur Front etwa 2000 Deserteure zu verzeichnen.

Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj und die gesamte militärische und politische Führung der Ukraine sind lange Zeit recht nachsichtig mit den militärischen Fehlern der Armeeführung umgegangen. Der Rückzug der ukrainischen Armee, vorwiegend der Verlust des Südostens des Landes, nachdem Russlands Einheiten ungehindert in die Steppe nördlich der Halbinsel Krim eindringen konnten, ist noch nicht rechtlich bewertet worden. Vor dem Hintergrund eines spürbaren Mangels an Kämpfern, der einen Zusammenbruch der Front nach sich ziehen könnte, sind die Kosten für Fehler und falsche Entscheidungen jedoch gestiegen.

Das gilt auch für den Preis der Korruption: Am 21. Januar nahm der Sicherheitsdienst der Ukraine den Chefpsychiater der ukrainischen Streitkräfte, Oleh Druz’, fest, der auch als stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Militärmedizinischen Kommission fungierte, die über die Diensttauglichkeit der Soldaten entscheidet. Bei seiner Festnahme fand man eine Million Dollar in bar. Bereits 2017 war Druz’ der Bestechung überführt worden, damals als Chefpsychiater des Verteidigungsministeriums und Leiter der Psychiatrie eines Militärkrankenhauses.

Den ukrainischen Soldaten wird seit einem Monat systematisch mitgeteilt, dass der Preis dafür, in Kriegsgefangenschaft zu gehen, der Tod sei. Auf ukrainischen Kanälen werden Ausschnitte von russländischen Soldaten ausgestrahlt, die noch an der Front auf sich ergebende Ukrainer schießen. Ein Video, das im Namen der 155. Marineinfanteriebrigade der Russischen Föderation gedreht wurde, dokumentiert die Erschießung von sechs sich ergebenden und unbewaffneten Militärangehörigen. Es wurde am 23. Januar veröffentlicht. Russlands Präsident Vladimir Putin hatte die 155. Marineinfanteriebrigade Mitte Dezember glorifiziert, indem er sich mit einer Fahne dieser Brigade live im Fernsehen zeigte, die ihm von den Kämpfern überreicht wurde. Schon zuvor war die Brigade bereits dafür bekannt, ukrainische Soldaten zu erschießen. Indem sie Vuhledar erobert hatte, den größten Verteidigungspunkt der ukrainischen Armee an der Kreuzung zweier Fronten, erwarb sie sich die Gunst Putins. Jetzt kämpft sie offenbar südwestlich von Kurachove.

Derartige Propaganda kann das zentrale Problem der Mobilisierung und der Besetzung von Einheiten nicht lösen. Im Gegenteil, sie schüchtert potenzielle Soldaten ein. Einige Militärkommissionen in ukrainischen Städten geben zu, dass die üblichen Mobilisierungsmethoden mehr ausreichen. Dazu zählt etwa die Busificirovanie: Mobile Patrouillen des Territorialen Zentrums für Rekrutierung und soziale Unterstützung (TCK) fahren in Kleinbussen durch Städte und sammeln Männer im wehrfähigen Alter ein. Doch mit solchen Taktiken könne der Plan nicht mehr erfüllt werden.

Militärs aus aktiven Kampfeinheiten kritisieren die Behörden auch für die Entscheidung, frische Rekruten in neue Brigaden zu schicken. Denn Brigaden ohne Kampferfahrung und ohne Waffen haben aus ihrer Sicht weder Sinn noch Wert. So warten die Zwangsmobilisierten oft lediglich im Hinterland ab, solange sie nicht zu ihren Positionen geschickt werden. Sobald sie in den Kampf sollen, fliehen sie nach Hause. Auch wenn die Zwangsmobilisierten zu bereits aktiven Einheiten geschickt werden, ist die Wirkung gering. Oft zerstreuen sie sich schon auf dem Weg zu ihrer Gruppe oder sie gehen bei jeder Gelegenheit ins Hinterland. Russischen Berichten zufolge haben insbesondere jene ukrainischen Einheiten die besetzten Linien verlassen, die den Rückzug der Garnison aus Velyka Novosilka sicherstellen sollten. Somit fiel es den Russen recht leicht, die Stadt einzukesseln.

Die Militärführung der Ukraine versucht, dieses Dilemma durch die Verlegung von Soldaten aus den rückwärtigen Einheiten zu lösen. Anfang Januar wurde in diesem Zusammenhang ein weiterer Skandal publik, bei dem es um den Einsatz von Bodenpersonal der ukrainischen Luftstreitkräfte an der Front geht. Am 14. Januar sorgte eine öffentliche Erklärung von Technikern der 114. Fliegerbrigade für Aufregung. Darin hieß es, dass bereits 250 Personen von der Brigade zur Infanterie versetzt worden seien. Weitere 218 Personen – fast alle Luftfahrttechniker – sollten folgen. Darunter sind auch solche, die speziell für die Arbeit mit westlichem Gerät ausgebildet sind. Zur Erinnerung: Der Westen hat im Rahmen der Übergabe von F-16-Kampfflugzeugen an die Ukraine in den Wiederaufbau der ukrainischen Flugplätze investiert, Technik geliefert und Personal ausgebildet. Die großen Hoffnungen der obersten militärisch-politischen Führung auf die F-16 zerschlugen sich aber bald. Russlands Luftabwehr erwies sich als zu effektiv, um die Kampfjets an der Frontlinie oder im russländischen Hinterland einzusetzen. Inzwischen finden sie nur noch zur Zerstörung von Raketen im tiefen ukrainischen Hinterland Verwendung. Nach heftigen Reaktionen in den ukrainischen Medien, sah sich Zelens’kyj jedoch gezwungen, persönlich zu intervenieren und den Befehl zu widerrufen.

Kriminalität in Russlands Armee

In der Okkupationsarmee sind die Skandale um Unteroffizieren (mladšie kommandiry) und Militärpolizisten, die brutal gegen verwundete Soldaten vorgehen, auch in der zweiten Woche nicht abgeklungen. Offenbar versucht die russländische Armee mit allen Mitteln, ihre Soldaten zum Sturm auf ukrainische Stellungen zu zwingen. Mehrere Videoclips zeigen, wie Soldaten buchstäblich auf Krücken dorthin gehen. Tatsächlich sind sie unter winterlichen Bedingungen dem Untergang geweiht. Denn sie sind ein leichtes, unbewegliches Ziel für ukrainische Drohnen, Mörser und Artillerie. Die Evakuierung von Verwundeten von der Frontlinie ist längst nicht mehr flächendeckend und erfolgt, wenn überhaupt, erst spät. Und für einen Verwundeten ist es schwieriger, sich in der winterlichen Steppe vor der Kälte zu schützen. Die Methoden, mit denen diese Menschen an die Front getrieben werden, sind in Form von Aussagen der verwundeten Kämpfer und in Videos von den „Heldentaten“ untergeordneter Kommandanten sowie einfacher, gesunder Mitsoldaten dokumentiert. Vor laufender Kamera werden die Verwundeten – meist nicht mehr junge Männer – etwa mit Tasern gefoltert, damit sie tun, was ihre Vorgesetzten wollen.

Nur auf die krassesten Fälle reagieren Russlands Behörden: Große Wirkung entfaltete die am 19. Januar ins Netz gestellte Aufnahme von Schlägen und Taser-Folterung einer Gruppe von rekonvaleszenten Vertragssoldaten durch Militärpolizisten der Einheit 55-115 in Kyzyl in der Republik Tuva. Laut dem Aktivisten Vitaly Borodin, der das Video dazu veröffentlichte, „waren die verwundeten Sturmsoldaten empört darüber, an die Front zurückzukehren, obwohl sie sich noch nicht erholt hatten. Daraufhin begannen Folterungen und Schläge.” Gleichzeitig soll einem Soldaten gezielt auf die Wirbelsäule geschlagen worden sein. „Er befindet sich in einem ernsten Zustand“, stellte Borodin fest. Der aktivste der Schläger wurde einen Tag nach der Veröffentlichung des Videos vom russländischen Geheimdienst FSB verhaftet.

In einer Reihe von Fällen haben sich auf der Ebene der einfachen Einheiten, wie auch russländische Militärkorrespondenten anerkennen, zudem kriminelle Banden gebildet. Unteroffiziere organisierten ein System zur Erpressung von Untergebenen. Sie pressten den Menschen von ihrem Sold Zahlungen in nicht unerheblicher Höhe ab, unter dem Vorwand, dass sie „nicht gesetzliche“ Geräte, Baumaterialien, medizinische Ausrüstung oder auch Schutzmittel kaufen müssten. Außerdem wurden den Kämpfern Bankkarten mit den dazugehörigen Codes abgenommen. Oder sie ließen es sich bezahlen, dass verwundete oder schwerkranke Soldaten im operativen Hinterland bleiben können. Danach wurden sie, vor allem wenn sie Anzeichen von Unzufriedenheit zeigten, doch an die Front geschickt oder sogar vor Ort oder auf dem Weg zur Frontlinie getötet.

Allein im Januar wurden Dutzende solcher Videos veröffentlicht, die tief im russländischen Hinterland oder an der Frontlinie als letzter Gruß oder Hilferuf in Kellern aufgenommen wurden. Diese Keller sind entweder improvisierte, schmutzige Krankenhäuser für leicht verwundete Mitglieder von „Sturmtrupps” oder illegale Haftorte. Auch russische Kriegsgefangene der Ukraine berichten von diesen unmenschlichen Praktiken.

Schon im November, wurde ein Fall aufgedeckt, bei dem der Kommandeur der 110. Gardebrigade, Vladimir Novikov, und sein Assistent 17 Soldaten, die keine Angehörige haben, in Hundekäfige steckten. Sie zogen von den Soldaten Gehälter und Zahlungen in Höhe von mehreren Millionen Rubel pro Monat ab. Novikov wurde später verhaftet.

All dies ist nicht verwunderlich, angesichts der Moral in Putins Russland und seiner Armee. Schließlich setzt sie sich aus marginalisierten und offen kriminellen Schichten der Gesellschaft zusammen. Dies hilft der russländischen Armee im Kampf aber wenig. Solche Praktiken schrecken im Gegenteil diejenigen ab, die sich vertraglich verpflichten wollen würden. Seit dem Herbst und vor allem dem Winter hat Russland daher einen Rückgang der Zahl derer zu verzeichnen, die bereit sind, sich als Vertragssoldaten rekrutieren zu lassen. Dies hat Putin offenbar dazu veranlasst, am 17. Januar einen Erlass über die vorzeitige Einberufung von Bürgern in die Reserve zu unterzeichnen. Normalerweise wird eine solche Einberufung im Frühjahr angekündigt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Entwurf mit der dringenden Notwendigkeit zusammenhängt, die Pläne zur Anwerbung von Vertragssoldaten zu erfüllen.

Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift