Prioritäten unverändert

Russlands Reaktion auf den ukrainischen Vorstoß ins Gebiet Kursk

Nikolay Mitrokhin, 20.8.2024

Der Vorstoß der ukrainischen Armee auf russländisches Territorium ist weitgehend zum Stehen gekommen. Russlands Führung versucht nicht, das verlorene Territorium rasch wieder unter Kontrolle zu bringen. Oberste Priorität Moskaus bleibt vorerst die Besetzung des gesamten Donbass. Dort verschlechtert sich die Lage der ukrainischen Truppen weiter.

Zwei Wochen nach dem Vorstoß ukrainischer Truppen in das Gebiet Kursk zeichnet sich der weitere Fortgang der Operation ab. Die Ukraine verfügt nicht über ausreichend Truppen, um in Richtung der nächstgelegenen Städte vorzurücken. Ihre Truppen können jedoch durchaus weitere ländliche Gebiete unter ihre Kontrolle bringen, insbesondere den Landkreis Gluškovo. Russlands Staats- und Militärführung hat beschlossen, keine größeren Kräfte von der Front in der Ukraine in das Gebiet Kursk zu verlegen. Die Armee verhindert mit Reservekräften ein weiteres Vorrücken der ukrainischen Truppen und konzentriert sich zunächst auf die vorrangigen Ziele im Donbass.

Wenn die Ukraine nicht noch unerwartet frische Kräfte in der Stärke von mindestens drei, eher fünf Brigaden heranführen kann, werden die geschätzt 6000 Soldaten, die im Gebiet Kursk operieren, keine ernsthafte Bedrohung für die Städte Ryl’sk, L’gov, Kurčatov, Belaja, Obojan‘ oder gar die Gebietshauptstadt Kursk mehr schaffen können. Bereits zwischen dem 10. und dem 14. August haben russländische Spezialkräfte und Marineinfanteristen mit schultergestützten Panzerabwehrwaffen und FPV-Drohnen entlang der in diese Städte führenden Straßen aus dem Hinterhalt zahlreiche ukrainische Militärfahrzeuge angegriffen und zerstört. Daher hat die ukrainische Armee den Versuch eingestellt, mit kleinen Kolonnen mögliche ungeschützte Straßen zu erkunden. Sie versucht weiterhin, mit kleineren Sabotagetrupps durch die Wälder auf diese Straßen vorzustoßen. Doch die Aussichten sind zweifelhaft. Am 19. August gab Russland bekannt, 19 Soldaten eines solchen Trupps gefangengenommen zu haben.

Zwei Erfolge wird die Ukraine möglicherweise noch erringen können. Zum einen die Einnahme der Kleinstadt Korenevo, wo sich die Verwaltung des gleichnamigen Landkreises befindet. Die 5000-Einwohner-Stadt ist seit einer Woche umkämpft. Sollten die ukrainischen Truppen sie unter ihre Kontrolle bringen, würde sich von dort aus eine russländische Gegenoffensive in Richtung Sudža gut abwehren lassen. Chancen auf einen weiteren Geländegewinn hat die Ukraine zum anderen bei Gluškovo im Westen des derzeitigen Operationsgebiets.

Der dortige Landkreis hat mit rund 850 km² ungefähr die gleiche Fläche wie das Gebiet, das die Ukraine bislang unter ihre Kontrolle gebracht hat. Er befindet sich an einer verwundbaren Stelle: Im Süden und Westen grenzt er an ukrainisches Staatsgebiet, im Osten stehen nun ukrainische Truppen. Im Norden des Landkreises bildet der in diesem Abschnitt recht tiefe und bis zu 80 Meter breite Fluss Sejm eine natürliche Barriere. Am 14. Oktober haben ukrainische Truppen südwestlich von Korenevo die am Ufer des Sejm gelegene Siedlung Krasnooktjabr’skoe erreicht. Seitdem führt für russländische Truppen sowie für die örtliche Bevölkerung jeder Weg in oder aus dem weitaus größeren südlichen Teil des Landkreises nur noch über den Sejm. Die drei Brücken auf dem Gebiet des Landkreises bei Karyž, Zvannoe und Gluškovo hat die ukrainische Armee zwischen dem 15. und dem 19. August aus der Luft zerstört. Bei Zvannoe und Gluškovo haben russländische Pioniere Pontonbrücken errichtet, die jedoch einem Luft- oder Artillerieangriff nicht standhalten würden. Es gibt auch die eine oder andere Furt, die mit geeigneten Fahrzeugen gequert werden kann. Doch die Möglichkeiten, Waffen und Munition oder Lebensmittel in das südlich des Sejm gelegene Gebiet zu verbringen, sind stark begrenzt. Anfang der dritten Augustwoche haben die örtlichen Behörden die Evakuierung angeordnet. Die Zahl der dort operierenden russländischen Soldaten soll bei ca. 700 liegen, dazu Grenzschützer und andere Uniformierte.

Bislang versuchen die ukrainischen Truppen nicht, direkt in den Landkreis vorzustoßen, sondern setzen ihn von den Seiten unter Druck. Die Siedlungen Apanasovka, Vnezapnoe und Gordeevka ganz im Westen des angrenzenden Landkreises Sudža stehen seit Mitte August unter ukrainischer Kontrolle. Dort geriet eine ganze Kompanie des russländischen 408. motorisierten Garde-Schützenregiments mit rund 100 Wehrdienstleistenden in Gefangenschaft. Im Südwesten des Kreises Gluškovo haben sich die russländischen Kräfte zumindest teilweise hinter den dort in zahlreichen Windungen fließenden Sejm in die große Siedlung Tëtkino zurückgezogen, die sich auf einen Angriff der ukrainischen Truppen vorbereitet und bereist permanent beschossen wird. Möglicherweise zieht die russländische Militärführung ihre Truppen schon bald komplett aus dem Landkreis zurück, in dem kaum noch eine Bewegung der ukrainischen Drohnenaufklärung entgeht.

Andernorts im Gebiet Kursk ist der ukrainische Vorstoß zum Stehen gekommen. Im Südosten des Vormarschgebiets wurden die ukrainischen Truppen aus den Siedlungen Gir’i und Belica verdrängt, haben jedoch die Ortschaft Borki am Ufer des Psël eingenommen. Ihr Ziel ist die Kontrolle über die von Sudža nach Westen in Richtung Belica und Belaja führende Straße. Dazu müssen die ukrainischen Truppen aber nicht nur den Psël überwinden, sondern auch die entlang der Straße verlaufenden Befestigungen der „Surovikin-Linie“. In den ersten Tagen des Einmarsches in das Gebiet Kursk wäre dies sicher ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen. Mittlerweile stehen die russländischen Einheiten jedoch tiefer gestaffelt. Weiter nordwestlich wurden die ukrainischen Truppen aus der an der Straße von Sudža nach Kursk gelegenen Kreisstadt Bol’šoe Soldatskoe gedrängt. Noch weiter westlich finden im Bereich der Straße von Sudža nach L’gov und der angrenzenden Felder und Wälder Kämpfe statt, deren Ausgang offen ist.

Wegen Verlusten und Erschöpfung hat die ukrainische Militärführung die an der Spitze des Angriffs stehende 82. Luftlandebrigade abgezogen und durch die 95. Luftsturmbrigade ersetzt. In zahlreichen russländischen Kanälen löste dies panische Reaktionen aus, weil ein Angriff auf die Stadt Kurčatov und das dort gelegene AKW befürchtet wurde. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass der Ukraine ein solcher Vorstoß gelingen könnte, sollte sie ihn überhaupt versuchen. Ihre Truppen befinden sich 35 Kilometer von Kurčatov entfernt und selbst wenn ein Durchbruch der aktuellen Linie gelingen sollte, heben die in der Tiefe stehenden russländischen Truppen bereits seit zwei Wochen eine zweite Verteidigungslinie aus, die von zusätzlichen Reservetruppen verstärkt wird. Ein Vorstoß auf die Stadt würde mit großer Sicherheit dazu führen, dass die gesamte angreifende Brigade noch vor Erreichen der Linie durch Angriffe von den Seiten sowie Drohnenattacken vernichtet wird. Ein kontinuierlicher Beschuss von Kurčatov aus der Ferne ist wegen der russländischen Luftaufklärung ebenfalls nur schwer möglich. Nach jedem Feuer müssen die ukrainischen Geschütze sofort den Ort verlassen, andernfalls werden sie innerhalb weniger Minuten mit ballistischen Raketen angegriffen. Auf diese Weise hat die Ukraine im Gebiet Sumy Mitte August mindestens ein Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem vom Typ Himars verloren.

Die Lage im Gebiet Donec’k

Im Gebiet Donec’k steht die ukrainische Armee weiter stark unter Druck und die Situation hat sich an zwei Stellen der Front weiter verschlechtert. Bei Vuhledar und Časiv Jar greift die Besatzungsarmee weniger heftig als in den Wochen zuvor an. Bei Pokrovs’k und Torec’k hingegen setzt sie die Attacken in unverminderter Härte fort und hat in der dritten Augustwoche weitere wichtige Areale erobert. Torec’k wird mittlerweile auf breiter Front von Osten angegriffen, auch versuchen die Besatzer, die Stadt von Süden zu umgehen.

Der Vorstoß der Moskauer Truppen nordöstlich von Pokrovs’k bedroht mittlerweile drei ukrainische Orte – neben Pokrovs’k selbst, das vor dem Krieg 65 000 Einwohner hatte, auch Mirnograd und Selidovo. Der Leiter der Militäradministration von Pokrovs’k erklärte auf Radio Liberty, spätestens in zwei Wochen würde der Sturm auf die Stadt beginnen. In allen drei Städten wurde eine Evakuierung angeordnet. Doch es ist offensichtlich, dass ein nicht unbedeutender Teil der verbliebenen Einwohner der Anordnung trotz der bevorstehenden schweren Kämpfe und der erwartbaren Besatzung durch die russländische Armee nicht Folge leisten will. Kinder mit Familien sollen in der kommenden Woche zwangsevakuiert werden. Offenbar um die Tausenden verbliebenen Menschen zum Verlassen der Stadt anzutreiben, wurde eine Sperrstunde verhängt. Sie dürfen ihre Häuser nur noch zwischen 11 Uhr vormittags und 15 Uhr nachmittags verlassen.

Der Plan, den die ukrainische Militärführung mit dem Vorstoß ins Gebiet Kursk wahrscheinlich verfolgt hat, ist damit nicht in Erfüllung gegangen. Der Gegner hat sich nicht dazu verleiten lassen, erhebliche Kräfte von den besonders umkämpften Frontabschnitten abzuziehen. Vielmehr überlässt Moskau der Ukraine offenbar die eroberten Gebiete auf unbestimmte Zeit und konzentriert sich weiter auf die Eroberung des Gebiets Donec’k. Zu diesem Zweck musste das Regime die Berichterstattung über die Ereignisse im Gebiet Kursk beschränken. Dazu wurden den Militärkanälen mit den meisten Lesern Daumenschrauben angelegt und die beiden vielgelesenen kremlnahen Telegram-Kanäle Brief und Nezygar‘ zu ausländischen Agenten erklärt. Offenbar hatten sie zu viel über den Vorstoß der ukrainischen Armee ins Gebiet Kursk berichtet und zu oft russländische und ausländische Experten zu diesem Thema befragt.

Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass die Militärführung den offensichtlichen Mangel an Männern, die sich freiwillig zur „Verteidigung der Heimat“ melden, überwinden will, indem sie den „echten russischen Kerlen“ ins Gewissen redet. Diese Aufgabe hat bereits der Fernseheinpeitscher Vladimir Solov’ev übernommen. Gelingt dies nicht, wird eine weitere Teilmobilmachung verkündet, gewiss unter dem Vorwand, dass es um den Austausch der im Herbst 2022 Einberufenen gehe.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.