"Politikerin ist ein Beruf"
Schlusswort von Lilija Čanyševa im gegen sie geführten politischen Strafverfahren, 29.5.2023
Lilija Čanyševa leitete ab dem Jahr 2017 die neu gegründete Regionalorganisation der „Stiftung zur Korruptionsbekämpfung“ von Aleksej Naval’nyj in Ufa, der Hauptstadt der russländischen Teilrepublik Baschkortostan. Die Stiftung wurde im April 2021 für extremistisch erklärt und aufgelöst. Čanyševa wurde im November 2021 verhaftet und wegen Gründung und Leitung einer extremistischen Vereinigung sowie öffentlichem Aufruf zu Extremismus angeklagt. Der Staatsanwalt forderte im April 2023 12 Jahre Haft. Am 29. Mai 2023 wurde der Prozess mit ihrem Schlusswort beendet. Das Urteil wird am 14. Juni 2022 verkündet. Wir dokumentieren Lilija Čanyševas Schlusswort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Mitbürger und Gleichgesinnte!
Das Strafverfahren gegen mich ist politisch motiviert. Daher fühle ich mich nicht als Angeklagte. Ich bin Politikerin, eine Frau, die von männlichen Gegnern verfolgt wird. Sie heißen: Putin und Chabirov.[1]
Politikerin ist ein Beruf. Mich für schuldig zu befinden ist das gleiche, wie eine Lehrerin dafür zu verurteilen, dass sie Lehrerin ist und eine Ärztin, weil sie Ärztin ist.
In der Politik bin ich nicht alleine. Es gibt wie gesagt Gegner. Um sich ein Urteil über meine Tätigkeit zu bilden, muss man den Kontext kennen. Hier ist er:
In Baschkortostan begann unter Chabirov der Angriff auf Menschen, die sich für Bürgerrechte und Umweltschutz einsetzen, die Organisation „Baškort“ wurde für extremistisch erklärt[2], der Politiker Ajrat Dil’muchamedov ins Gefängnis gesteckt, ebenso der Vorsitzende der Gewerkschaft der Angestellten im Gesundheitswesen Anton Orlov[3], der Rechtsanwalt Aleksandr Vojcech[4], und auch der Abgeordnete Dmitrij Čuvilin ist in Haft.[5] In Baschkortostan ist heute jeder in Gefahr, denn Chabirov wendet seine polizeistaatlichen Methoden auch im Kampf gegen Frauen an, die eine eigene politische Position vertreten.
Vergleichen Sie die Vorgehensweise: Petitionen, Enthüllungen, Beschwerden, Teilnahme an friedlichen Versammlungen und öffentlichen Anhörungen. Und als Antwort: Überwachung, Durchsuchungen, Entführungen, Verhaftungen, Gefängnis, Menschen werden gewaltsam von öffentlichen Anhörungen weggeführt, ihr Auto mit Farbe übergossen, Schadensersatzklagen angestrengt wegen der Lohnkosten der zu unseren Versammlungen beorderten Polizisten.
Gleichzeitig versucht Chabirov persönlich immer wieder, baschkirische Naturdenkmäler an Oligarchen zu verkaufen[6], lässt Krankenhäuser schließen, hält den Lohn von Ärzten zurück, betrügt bei Staatsaufträgen und zwingt die Einwohner Baschkortostans zur Zahlung überhöhter Kommunalabgaben. Unsere Republik lag einst mit Tatarstan gleich auf. Jetzt liegt das Ergebnis auf der Hand. Die Armutsrate ist in Baschkortostan doppelt so hoch wie in der Nachbarrepublik.
Für die Vorbereitung meines letzten Wortes habe ich die Schlussreden von Dutzenden Angeklagten gelesen. Von Evgenij Rojzman[7], Vladimir Kara-Murza, Dmitrij Ivanov, Aleksej Gorinov, Andrej Pivovarov, Ivan Safronov, Vladimir Voroncov, Jurij Ždanov, Il’ja Jašin und natürlich von Aleksej Naval’nyj.
Alles starke und kluge Männer, die Putin in jenen anderthalb Jahren hat verhaften lassen, die ich in Untersuchungshaft verbracht habe. Aber Putin hat auch Frauen nicht verschont. Sechs Jahre Haft für die Journalistin Maria Ponomarenko, die Künstlerin Aleksandra Skočilenko steht vor Gericht, gegen die Theatermacherinnen Evgenija Berkovič und Svetlana Petrijčuk ist ein Strafverfahren eingeleitet.[8]
Und nach alldem sitzt der ehemalige Ministerpräsident Dmitrij Medvedev auf einem juristischen Forum und amüsiert sich darüber, dass der Frauenanteil in Russlands Regierung weniger als 25 Prozent beträgt, im Unterschied zu Ägypten. Heißt das, dass Frauen in unserem Land keinen Platz in der Politik haben? Oder hängt der Zugang zu diesem Beruf von ihren politischen Ansichten ab? Ist das keine Diskriminierung? Haben die Männer an der Macht beschlossen, dass es neben der gläsernen Decke noch Gitter vor dem Fenster bedarf?
Meine politischen Rechte und die meiner Mitbürger werden konsequent verletzt. Dies zeugt davon, dass Putin schon seit langem jedes Andersdenken beseitigen will – mit einem einzigen Ziel: über das Jahr 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. Aber Putin bedeutet Korruption, niedrige Löhne und Renten, wirtschaftlicher Niedergang und steigende Preise. Putin bedeutet Krieg. Und das betrifft wirklich jeden!
Beantworten Sie sich die Frage: Leben Sie heute besser als vor zehn Jahren? Fällt Ihnen das Einkaufen leichter als vor zehn Jahren? Fühlen Sie sich sicherer als vor zehn Jahren? Wenn die Antwort lautet: „Nein“ – dann handeln Sie! Auch Sie können die Dinge zum Besseren wenden.
Euer Ehren! Für mich sind Sie nicht nur Richter, sondern auch mein Wähler. Während des Prozesses habe ich Ihnen von meinen Erfolgen erzählt. Unterstützen Sie mich als Politikerin, als Frau, und ich werde alles mir mögliche tun, um Sie von dem Druck zu befreien, den die Exekutive gesetzeswidrig auf Sie ausübt. Ich werde weiter gegen Korruption und Gesetzlosigkeit in unserer Republik kämpfen.
Euer Ehren! Sie sind nicht nur Richter und Wähler, sondern, wie der Prozess gezeigt hat, auch ein Mensch mit eigenen Ansichten. Wenn Sie mich für 12 Jahre ins Gefängnis bringen, werde ich kein Kind mehr bekommen. Geben sie mir eine Chance, Mutter zu werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Quelle: https://t.me/teamnavalny/19066
[1] Radij Chabirov wurde im Oktober 2018 zum kommissarischen Oberhaupt der Republik Baschkortostan im Föderationskreis Wolga ernannt und ein Jahr später bei Wahlen im Amt bestätigt. Zuvor arbeitete er viele Jahre in der Moskauer Präsidialverwaltung.
[2] Der 2014 gegründete Verein setzte sich für die Belange des baschkirischen Volks ein und war eine der wichtigsten Organisationen der baschkirischen Nationalbewegung. Sie wurde auf dem Höhepunkt der Säuberungswelle gegen Anhänger des bis 2010 amtierenden langjährigen baschkirischen Präsidenten Murtaza Rachimov gegründet, die aus öffentlichen Ämtern entlassen wurden und setzte sich gegen die Schließung von baschkirischen Schulen und die Entlassung ethnischer Baschkiren aus dem Staatsdienst ein. Baškort organisierte mehrfach Proteste für den Erhalt des Tratau-Berges im Süden Baschkortostans, einer unter Naturschutz stehenden regionaltypischen Felsformation (sog. Šichan)., die in der baschkirischen Kultur eine wichtige Rolle spielt. Der Tratau sollte für die Gewinnung von Soda und Zement freigegeben werden.
[3] Anton Orlov war von 2022 bis Regionalkoordinator der unabhängigen Gewerkschaft „Dejstvie“ (Handeln) in Ufa und organisierte u.a. den Streik der Krankenhausmitarbeiter in der südlich von Ufa gelegenen Mittelstadt Išimaj. Er wurde im September 2022 wegen angeblichen schweren Betrugs zu sechs Jahren und sechs Monaten Straflager verurteilt.
[4] Aleksandr Vojcech wurde im September 2022 wegen angeblichen schweren Betrugs zu vier Jahren Haft verurteilt. Im April 2023 hob ein Berufungsgericht das Urteil auf. Bereits seit Mitte der 2010er Jahre hatten die Behörden immer wieder versucht, seine Anwaltslizenz zu entziehen.
[5] Dmitrij Čuvilin wurde im Jahr 2018 auf der Liste der Kommunistischen Partei in das baschkirische Regionalparlament (Kurultaj) gewählt. Zusammen mit vier anderen Personen wurde er im März 2022 verhaftet und wegen Gründung einer Terrorzelle angeklagt.
[6] Es geht um die geplante Bergbautätigkeit am Tratau sowie am Berg Kuštau.
[7] Evgenij Rojzman, der ehemalige Bürgermeister von Ekaterinburg, wurde im August 2022 für zwei Tage festgenommen und im Mai 2023 wegen „Diskreditierung der Armee“ zu einer geringfügigen Geldstrafe verurteilt. Er ist der einzige der Genannten, der während des Prozesses nicht in Untersuchungshaft saß und nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.
[8] Die Regisseurin Evgenija Berkovič und die Dramaturgin Svetlana Petrijčuk wurden Anfang Mai 2023 verhaftet, und anschließend wurde ein Strafverfahren gegen sie angestrengt, da die Behörden ihr im Jahr 2020 uraufgeführtes Stück „Finist – Jasnyj Sokol“ (Finist, Heller Falke), in dem es um Frauen aus Russland geht, die sich von radikalen Islamisten nach Syrien haben locken lassen, als „Rechtfertigung von Terrorismus“ (Art. 205.5) betrachten.