Mit harten Bandagen

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 117. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 28.5.2024

Russlands Angriff auf das Gebiet Charkiv ist gescheitert. Die ukrainische Verteidigung hat die Besatzungstruppen gestoppt, die zentralen Ziele wurden nicht erreicht. Auch an allen anderen Frontabschnitten kann Russland trotz heftiger Angriffe nur minimale Geländegewinne erzielen. Moskau setzt auf einen Abnutzungskrieg. Diesen führt es mit immer größerer Luftüberlegenheit. Die Ukraine fordert daher mehr Luftabwehrsysteme und die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Kampfflugzeuge und militärische Infrastruktur in russländischem Luftraum und auf russländischem Boden angreifen zu können. Um den zögerlichen Westen dazu zu bewegen, kämpft Kiew mit harten Bandagen.

Russlands Angriff auf das Gebiet Charkiv ist steckengeblieben. Den Okkupationstruppen ist es seit Beginn der Offensive am 10. Mai nicht gelungen, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Mindestens zwei der drei anfangs von regimenahen Militärbloggern ausgegebenen Ziele wurden nicht erreicht. Die Besatzer konnten nicht in eine Tiefe von 20–30 Kilometern vordringen, um eine entsprechende „Pufferzone“ zu errichten. Erst recht nicht wurde „Charkov befreit“, wie es besonders hitzige Köpfe versprochen hatten.

Lediglich an zwei Stellen ist die Okkupationsarmee bis zur zweiten ukrainischen Linie gelangt: Nördlich von Charkiv ist sie bei Lipcy zehn Kilometer und nordöstlich davon bei Vovčans’k fünf Kilometer tief in ukrainisches Gebiet eingedrungen. Während der gesamten vierten Maiwoche wurde in Vovčans’k heftig gekämpft. Das Ergebnis: Russlands Armee ist um einige hundert Meter vorgerückt, hat aber offenbar den Fluss Vovča, der die Stadt teilt, nicht überschreiten können. Die Stadt ist durch Artilleriebeschuss komplett zerstört – ebenso wie alle anderen Städte, die Russland in den vergangenen zwei Jahren „befreit“ hat. Dass die Ukraine die Besatzer aufhalten konnten, ist zweifellos ein Verdienst der westlichen Partner Kiews, die der ukrainischen Armee sofort nach dem Angriff nördlich von Charkiv eine bedeutende Menge an Artilleriegranaten und Panzerabwehrwaffen geliefert haben.

Auch das zweite Ziel, mit dem neuen Vorstoß bei Charkiv einen Durchbruch an anderen Frontabschnitten zu ermöglichen, hat Russland nicht erreicht. Einige der russländischen Militärkanäle bemühen sich, lokale Geländegewinne an der 1000 Kilometer langen Front als Erfolge auszugeben, die durch die Überlastung der ukrainischen Armee infolge des neuen Angriffs erzielt worden seien. Dies entspricht nicht den Tatsachen. An beiden Stellen, an denen vor einigen Wochen die ukrainischen Verteidigungslinien durchbrochen waren – nördlich von Avdijivka bei Očeretine und unweit davon bei Umans’ke, hat die ukrainische Armee den Vorstoß abgeschnitten. Im Verlaufe der gesamten 117. Kriegswoche konnte Russland trotz ununterbrochener Angriffe dort nur minimal vorrücken. Einen weiteren Durchbruch, der vergleichbar mit der Einnahme von Očeretine wäre, haben die ukrainischen Truppen verhindert. Brenzlig ist die Situation allerdings weiter bei Novoaleksandrivke, wo die Kämpfe um die Kontrolle der für die Truppenrotation sehr wichtigen Straße von Pokrovs’k nach Kramators’k anhalten.

Gescheitert ist auch der Versuch der Besatzungstruppen, auf das westlich von Severodonec’k und östlich von Slovjans’k gelegene Sivers’k vorzurücken. An einigen Abschnitten mussten sie erstmals seit Oktober 2023 sogar Positionen aufgeben. Ähnlich sieht es an den Frontabschnitten im Gebiet Zaporižžja aus. Russlands Truppen versuchen mit aller Kraft, die kleinen Geländegewinne zu annullieren, die die Ukraine im Laufe ihrer Sommeroffensive des Jahres 2023 gemacht hatte, konnten jedoch keine einzige Siedlung wieder unter ihre Kontrolle bringen. Wenig Erfolg hatten auch die Versuche, mit Geländemotorrädern sowie Quads Soldaten und Munition rasch in zuvor mit Artillerie beschossene Waldstreifen zu bringen, wo sie nicht von Drohnen angegriffen werden können. Sie endeten stets mit hohen Verlusten der Angreifer.

Einzig die Beseitigung des Brückenkopfs am linken Dnipro-Ufer bei Krynki können die Besatzer als Erfolg vermelden. Es ist jedoch gut möglich, dass die Ukraine diesen aufgegeben und die Soldaten evakuiert hat, weil sie zuvor die schweren Waffen am gegenüberliegenden hohen Ufer des Dnipro abgezogen hatte. Damit ergab die Aufrechterhaltung des Brückenkopfs, den Russland zuvor sieben Monate lang unter hohen Verlusten durch Beschuss aus ebenjenen Geschützen hatte beseitigen wollen, keinen Sinn mehr. Denn um von diesem Brückenkopf aus einen aussichtsreichen Vorstoß über das sehr stark verminte und leicht unter Beschuss zu nehmende Gelände zu planen, hatten der ukrainischen Armee die Kapazitäten gefehlt.

Das dritte Ziel der Offensive bei Charkiv, die Ukraine zur Heranführung von Reserven, darunter auch „strategischer“ zu zwingen, ist zwar scheinbar erfüllt. Kiew hat tatsächlich erhebliche Truppen in den Nordosten des Landes verlagert. Doch was daraus folgen soll, ist unklar. Die ukrainische Armeeführung ist sich bewusst, dass Russland Truppen zusammenzieht, um westlich von Charkiv einen weiteren Angriff von Norden zu führen, der die Stadt von den übrigen Landesteilen abschneiden soll. Doch Kiew gibt sich gelassen. Tatsächlich würde Russland für einen Vorstoß in eine Tiefe von 50–70 Kilometern, der durch Waldgebiete führt und bei dem zahlreiche Flussläufe zu überwinden wären, eine Truppe von mindestens 100 000 Mann sowie eine riesige Anzahl an Fahrzeugen und Geschützen benötigen. Eine solche Operation hat Russlands Armee seit April 2022 nicht mehr unternommen. Wenn in russländischen Militärkanälen dennoch über Erfahrungen mit dem Überqueren von Flüssen diskutiert und nicht nur ein Vorstoß im Norden, sondern auch in den Gebieten Zaporižžja und Cherson versprochen wird, so geht es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um tatsächlich anstehende ernsthafte Durchbruchsversuche. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Russland auf einen Abnutzungskrieg setzt, in dem die Fähigkeiten des Gegners zur Mobilisierung von Soldaten und zur Produktion oder Beschaffung von Waffen langfristig erschöpft werden soll.

Ukrainische Kampfdrohnen und Russlands strategische Nuklearmacht

Die Ukraine fordert immer eindringlicher, dass sie die ihr von westlichen Staaten zur Verfügung gestellten Waffen zur Zerstörung jener militärischen Infrastruktur nutzen darf, die Russland für Luftangriffe auf die Ukraine nutzt. Russlands ständige Angriffe auf ukrainische Kraftwerke und Umspannanlagen führen in den Abendstunden regelmäßig zu flächendeckenden Stromabschaltungen. Charkiv wird kontinuierlich brutal angegriffen. Am 26. Mai führte eine Attacke auf einen Baumarkt zu fast 20 Toten. Bislang greift die ukrainische Armee mit Himars- und ATACMS-Raketen jedoch lediglich Ziele in den besetzten Gebieten an. Eine einzige Rakete mit Mehrfachsprengkopf zerstörte kürzlich ein aus mehreren Komponenten bestehendes russländisches S-400-Flugabwehrsystem, das für Angriffe auf Ziele am Boden genutzt wurde.

Das zweite wichtige Thema für die Ukraine sind weitere westliche Luftabwehrsysteme, mit denen die Front sowie frontnahe Städte vor Angriffen mit schweren Fliegerbomben vom Typ KAB-500 geschützt werden können. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelens’kyj wächst die Zahl solcher Gleitbomben, die Russland pro Monat von Flugzeugen im russländischen Luftraum startet, von Monat zu Monat. Im Mai 2024 seien es bereits 3200 gewesen, bei gleichbleibender Zunahme werde die Zahl im Juni auf 3500 wachsen. Mit Patriot-Luftabwehrraketen will die Ukraine einen Teil der Kampfbomber zerstören und die übrigen abschrecken.

In diesem Zusammenhang sind zwei ukrainische Drohnenattacken besonderer Art zu betrachten. Am 24. Mai 2024 griffen zwei schwere Kampfdrohnen bei Armavir im Gebiet Krasnodar eine Radaranlage vom Typ Voronež-DM an, die der strategischen Luftraumüberwachung dient. Zwei Tage später wurde im Gebiet Orenburg in der Nähe des bei Orsk in unmittelbarer Nähe zur Grenze mit Kasachstan gelegenen Dorfes Gor’kovskoe eine ukrainische Drohne abgefangen. Dort befindet sich seit 2017 ebenfalls eine solche Radaranlage. Nach anderen Angaben wurde das Fluggerät nicht abgeschossen, sondern richtete Schäden an der Überwachungsstation an. Fest steht, dass die Drohne auf direktem Weg von der Ukraine 1600 Kilometer geflogen ist, wenn sie kasachischen Luftraum umgangen hat, über 1800.

Die Ukraine hat damit erstmals Objekte angegriffen, die Russlands strategischer Raketenabwehr dienen und keine unmittelbare Bedrohung für die Ukraine darstellen. Die Anlage in Armavir erfasste zwar den Luftraum über der südlichen Krim – allerdings in einer solchen Höhe, dass es nahezu ausgeschlossen ist, dass mit ihr der Startort ukrainischer Raketen oder Flugzeuge lokalisiert werden kann.

Es ist offensichtlich, dass die Angriffe nicht der Beseitigung einer unmittelbaren Gefahr dienten. Öffentlich wird darüber nicht gesprochen, doch man kann davon ausgehen, dass ihr Ziel ist, die Debatte über den Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele auf russländischem Territorium zu beeinflussen. Die Botschaft lautet: Wir können uns in die auf hoher Ebene laufende Abstimmung zwischen den USA und Russland einmischen – schließlich betrachtet der Kreml alles, was wir tun, als Erfüllung eines Auftrags aus Washington. Entweder erhalten wir also die Erlaubnis, zu unserer Verteidigung militärische Ziele auf russländischem Territorium bzw. Kampfflugzeuge in russländischem Luftraum anzugreifen, oder wir sehen uns zu anderen Schritten gezwungen. Auf solche Überlegungen deutet auch eine Bemerkung Zelens’kyjs hin, die er in einem am 21. Mai aufgezeichneten Interview mit Reuters-Journalisten fallen ließ, das am 27. Mai in gekürzter Übersetzung in der New York Times erschien. Dort erklärt Zelens’kyj, er hoffe doch, dass Russlands Überfall auf die Ukraine eine einsame Entscheidung des irrationalen Moskauer Diktators war und nicht zuvor hinter den Kulissen darüber gesprochen worden sei, wie der Westen reagieren werde und wie nicht.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.