Lichterloh

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 134. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 24.9.2024

Die Lage der ukrainischen Armee im Donbass wird immer brenzliger. Insbesondere die Industriestadt Vuhledar ist in großer Gefahr. Mit dem Vorrücken der Besatzungstruppen geraten auch die ukrainischen Großstädte am Dnipro immer stärker unter Beschuss. Mit drei Angriffen auf große Munitionsdepots in Russland hat die Ukraine dem Aggressor empfindliche Schläge versetzt. Ob dafür neuartige Drohnen oder westliche Raketen eingesetzt wurden, ist unklar.

Die schweren Kämpfe setzten sich in der 3. Septemberwoche an mehreren Frontabschnitten fort. Russland greift die ukrainischen Truppen im Gebiet Kursk an, bei Kupjans’k im Gebiet Charkiv haben die Okkupationstruppen an zwei Stellen die ukrainische Verteidigung durchbrochen, auch im Donbass geht die Offensive weiter. Dort haben die russländischen Truppen die Stadt Torec’k nun auch von Süden eingekreist und den Durchbruch bei Pokrovs’k erweitert. Weiter südlich droht eine vollständige Einkesselung der Stadt Vuhledar, aus der sich die ukrainischen Truppen in Kürze werden zurückziehen müssen.

Im Gebiet Kursk führt Russland den Gegenangriff von Westen aus dem Landkreis Gluškovo. Die Ukraine ist ihrerseits von ihrem Staatsgebiet aus mit Panzern in diesen Landkreis vorgestoßen. Die Truppen haben an mehreren Orten die erste Verteidigungslinie an der Grenze durchbrochen und sind dort 3-4 Kilometer bis zu den nächsten Verteidigungsstellungen auf russländisches Territorium vorgerückt. Möglicherweise ist diesen Einheiten ein Vorstoß bis in die Gegend östlich von Veseloe gelungen, von wo sich vor einer Woche die ukrainischen Trupps hatten zurückziehen müssen.

Östlich von Kupjans’k im Gebiet Charkiv setzt die Gruppe „Nord“ der Besatzungsarmee ihren Vormarsch auf die Stadt nach zweimonatiger Pause fort. In der zweiten Septemberwoche haben sie die Ruinen der wichtigen Siedlung Sin’kova eingenommen, von dort aus sind sie nun weiter Richtung Westen vorgerückt. Vor allem aber haben sie weiter südlich die ausgedünnte ukrainische Verteidigungsstellung östlich des Flusses Žerebec durchbrochen. Die Ukraine wird ihre Truppen dort auf einer Breite von über zehn Kilometern ans Westufer des Flusses zurückziehen müssen.

Der Donbass

Die Geschehnisse im Gebiet Kursk und bei Kupjans’k sind im Vergleich zu den Ereignissen im Donbass von zweitrangiger Bedeutung. Denn dort finden die Kämpfe in ländlichem Raum statt, der Verlust von einigen Quadratkilometern oder dem einen oder anderen entvölkerten Dorf hat keine große Bedeutung. Im Donbass geht es aber um Industriestädte und -siedlungen. Hier droht ein großflächiger Gebietsverlust, der weitere Folgen hat. Die Angriffe auf die Großstädte Zaporižžja und Dnipro sind bereits heute deutlich intensiver geworden.

Das zentrale Problem der ukrainischen Armee ist, dass es ihr nicht mehr gelingt, eine stabile Front zu errichten. Es mangelt ihr an Soldaten, die die entsprechenden Stellungen halten könnten. Dazu kommt der Mangel an Luftverteidigung, die äußerst schlechte Qualität der Artilleriegranaten sowie Probleme beim Bau von Verteidigungsanlagen. Allerdings hat die Ukraine auch über Jahre Stellungen für die Verteidigung gegen Attacken aus östlicher Richtung errichtet. Mittlerweile stoßen die Moskauer Truppen im Raum Pokrovs’k jedoch von Nord nach Süd und stellenweise von Nordwest nach Südost vor.

Eine wichtige Rolle für die schlechte Lage spielten misslungene Rotationen. So nahmen mehrfach Brigaden beim Verlassen der vordersten Stellungen das Gerät zur elektronischen Drohnenabwehr mit, so dass diese über Stunden oder Tage ohne Deckung blieben. Die Brigaden, die die Stellungen übernehmen sollten, ließen sich ihrerseits damit Zeit. Die gegnerischen Truppen beobachten diese Rotationen genau und haben auf die Weise wiederholt Stellungen kampflos eingenommen.

Ein weiterer Faktor ist ein Wechsel der Taktik auf Seiten der Besatzungstruppen. Anders als im Jahr 2022 und auch noch 2023 rücken diese kaum noch in großen Kolonnen vor. Auf direkte Unterstützung durch Panzer verzichten sie meist, da die Ukraine diese mit Drohnen rasch ausfindig macht und zerstören kann. Stattdessen rücken mehrere kleine Trupps an unterschiedlichen Stellen vor. Der Ukraine fehlt es an Soldaten, um eine durchgehende Verteidigungslinie zu schaffen. Daher gelingen solchen vorrückenden Trupps, die in Waldstreifen vor der Entdeckung durch Aufklärungsdrohen geschützt sind, immer wieder Durchbrüche.

Die Verluste bei solchen Angriffen sind jedoch hoch. Russland gleicht diese aus, indem die Infanterie mit immer neuen Soldaten versorgt wird, seien es Spezialisten, die aus Luftverteidigungs- oder Artillerieeinheiten abgezogen werden, seien es Strafgefangene, Untersuchungshäftlinge oder Männer, die Kredite aufgenommen haben und unter Einsatz ihres Lebens den Schuldeintreibern entkommen wollen. Im Juni sind offenbar Marinesoldaten von Russlands einzigem Flugzeugträger „Admiral Kuznecov“ abgezogen worden, um als Bataillon „Fregatte“ in der 1. Garde-Panzerarmee zunächst im Norden des Gebiets Charkiv und dann bei Pokrovs’k eingesetzt zu werden.

Im Ergebnis stellt sich die Lage an den einzelnen Frontabschnitten des Donbass gegenwärtig so dar: Bei Časiv Jar macht Russland kaum Geländegewinne, die Ukraine hat sogar kleinere Gebiete zurückerobert. Im Raum Torec’k ist die Situation hingegen sehr ernst. Die ukrainische Armee musste die vor zwei Wochen zurückeroberte Siedlung Nju-Jork wieder aufgeben. Die gegnerischen Truppen stehen nun bereits südwestlich von Torec’k, wenn sie von dort nicht bald vertrieben werden, wird die Stadt bald von drei Seiten angegriffen.

Östlich von Pokrovs’k ist die Lage seit rund zwei Wochen stabil, seit die Ukraine in höchster Eile „Rettungstruppen“ in den Raum verlegt hat. Doch der Durchbruch ist so groß, dass es den ukrainischen Einheiten nicht gelingt, die Front vollständig zu stabilisieren. Südlich von Pokrovs’k konnte sie einen Vorstoß bei Selydove abschneiden, östlich der Stadt ist dies nicht gelungen. Noch weiter östlich bei Ukrajins’k ist die Lage sehr ernst. Die Besatzungstruppen stoßen dort in Richtung Kurachove vor und versuchen, sämtliche westlich von Donec’k stehenden ukrainischen Truppen einzukesseln.

Noch ernster ist die Situation im Raum Vuhledar. Noch kann die Ukraine die Truppen in der Stadt von Westen in einem ca. 15 Kilometer breiten Streifen versorgen. Tagsüber sind Fahrten in und aus der Stadt jedoch wohl bereits zu gefährlich. Die Ukraine wird möglicherweise gezwungen sein, die Stadt noch im September aufzugeben, recht sicher aber bis spätestens Ende Oktober.

Die Folgen des Durchbruchs sind in großer Entfernung von der Front zu spüren. Viele Dutzende Kilometer weiter im ukrainischen Hinterland haben der Artilleriebeschuss und die Angriffe mit Gleitbomben stark zugenommen. Die Infrastruktur wird immer stärker zerstört, die Bevölkerung muss evakuiert werden. Am schlimmsten ist die Lage jedoch gleichwohl in Frontnähe. Aus Pokrovs’k wurde in den vergangenen Wochen drei Viertel der Bevölkerung von zuvor 62 000 Menschen herausgebracht. Es sind jedoch noch immer rund 15 000 Menschen, überwiegend Rentner, in der Stadt, aber auch 200 von zuvor 6000 Kindern. Die Zurückgebliebenen gaben gegenüber einem Reporter der ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN an, sie wüssten nicht, wovon sie nach der Evakuierung leben sollten, die hohen Mieten in anderen Landesteilen würden die Kompensationszahlungen für Evakuierte rasch auffressen. Die zentrale Wasserversorgung in der Stadt ist seit Mitte September unterbrochen, ebenso die Stromversorgung. Einige Geschäfte und Apotheken haben jedoch noch gelegentlich geöffnet.

Ukrainische Angriffe auf Munitionslager in Russland

Der Ukraine sind in der 134. Kriegswoche drei spektakuläre Angriffe auf Munitionslager in Russland gelungen. Getroffen wurden am 18. September und 21. September Lager bei Toropec bzw. Staraja Toropa im Gebiet Tver‘ und ebenfalls am 21. September bei Tichoreck im Bezirk Krasnodar. Bei den Explosionen der in Toropec und Tichoreck gelagerten Munition bildeten sich riesige „Flammen-Pilze“, eine massive Druckwelle breitete sich aus, weitere Brandherde führten zu einem ansehnlichen Feuerwerk. Nach der ersten Explosion auf dem Gelände des Depots 107 der Hauptverwaltung Raketenartillerie (Glavnoe raketno-artillerijskoe upravlenie, GRAU) gegen vier Uhr morgens, wurde in Toropec ein Erdbeben der Stärke 2,8 gemessen. Auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern explodierte und brannte Munition. Hiervon kursieren zahlreiche Videos, nicht so im Falle der Explosion des Depots 23 der GRAU bei Staraja Toropa. Fest steht aber, dass die örtlichen Behörden in der Gegend eine Straße sperren und mehrere Orte evakuieren ließen.

Nach ukrainischen Angaben wurden bei den Angriffen Raketen für den Mehrfachraketenwerfer „Grad“ sowie die Systeme S-400 und Iskander zerstört, außerdem Artilleriegranaten und Raketen, die Russland aus Nordkorea erhalten hatte. Satellitenfotos zeigen die Zerstörung eines erheblichen Anteils, jedoch nicht aller Lagerhallen an den drei Orten. Gleichwohl hat die Ukraine Russland damit einen empfindlichen Verlust beigefügt.

Die Angriffe sind im Kontext weiterer erfolgreicher Attacken auf große Munitionslager in den vergangenen vier Wochen zu sehen. Zuvor waren zwei solche Depots im Gebiet Voronež angegriffen worden, ebenso auf besetztem ukrainischen Gebiet unweit von Mariupol' und schließlich auf der Krim.

Statt Flugplätzen, Raffinerien und Öllagern greift die Ukraine nun also Munitionslager an. Erstaunlich ist, warum sie die Angriffe auf solch erstrangige Ziele erst jetzt wieder aufgenommen hat, nachdem sie im Sommer 2022 nach der ersten Lieferung von Himars-Raketen diese bereits einmal ins Visier genommen, dann aber keine weiteren solchen Attacken mehr unternommen hatte.

Eine Erklärung ist, dass Depots dieser Größenordnung bislang mit elektronischer und klassischer Luftverteidigung gut geschützt waren. Aus Daten des russländischen Beschaffungsamts geht hervor, dass für das Depot in Toropec ein Drohnenabwehrsystem im Wert von 212 Mio. Rubel (2 Mio. Euro) angeschafft wurde. Und dass die Ukraine nun Mittel gefunden hat, um diese Systeme zu überwinden.

Dies könnten entweder Drohnen sein, die ihren Weg alleine finden und so die Unterbrechung des Funksignals durch die Truppen der elektronischen Kampfführung des Gegners umgehen. Oder die neuartigen Drohnen vom Typ „Paljanica“, die mit einem Raketenantrieb ausgestattet sind. Oder es handelte sich gar nicht um Drohnen, sondern um Raketen vom Typ Storm Shadow, über deren Einsatz gegen Ziele im russländischen Hinterland in den vergangenen Wochen im Westen so heftig diskutiert wurde. Auch eine kombinierte Attacke mit Drohnen und Raketen ist möglich. Das Moskauer Verteidigungsministerium schweigt und aus den Indizien ergibt sich kein klares Bild.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.