Katastrophale Lage bei Pokrovs’k

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 131. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 3.9.2024

Die ukrainische Armee ist im Donbass in massiven Schwierigkeiten. Russland hat Truppen bei Pokrovs’k zusammengezogen und stößt dort an zahlreichen Stellen vor. Die Ukraine muss unerfahrene Soldaten in kaum zur Verteidigung vorbereitetem Gelände einsetzen. Große gesicherte Frontabschnitte südwestlich des Durchbruchs sind in Gefahr. Beide Kriegsparteien haben den Luftkrieg mit Angriffen sowohl auf Infrastruktur als auch auf Wohngebiete in Charkiv und Belgorod massiv ausgeweitet.

Die Ukrainische Armee hat in der letzten Augustwoche im Donbass die schwerste Niederlage der vergangenen zwei Jahre erlitten. Die russländische Okkupationsarmee hat Kräfte zusammengezogen, um am schwächsten Abschnitt der ukrainischen Verteidigung vorzustoßen. Die Truppen rücken auf breiter Front zwischen Myrnohrad, Pokrovs’k und dem 15 Kilometer südlich gelegenen Selydove vor. Es droht eine gleichzeitige Einnahme aller drei Städte und ein Zusammenbruch des gesamten südlichen Frontabschnitts im Gebiet Donec’k, wo die ukrainische Armee massive Verteidigungsanlagen errichtet hat, aus denen heraus sie teils seit einigen Monaten, teils bereits seit zwei Jahren ein Vordringen des Gegners verhindert. Auch zwei weitere große Frontabschnitte sind in unmittelbarer Gefahr: der Bereich zwischen Karlivka und Vuhledar, den dortigen ukrainischen Truppen könnten die bei Pokrovs’k durchgebrochenen von Norden und Westen in den Rücken fallen; der Abschnitt zwischen Vuhledar und Velyka Novosilka, diesen könnten die Besatzungstruppen aus dem vormals sicheren rückwärtigen Raum unter Beschuss nehmen, wenn es ihnen gelingt, nach einer Einnahme von Selydove in Richtung Süden zu der Straßenkreuzung bei Bahatyr vorzustoßen.

Bislang ist nicht zu erkennen, wie der Vormarsch gestoppt werden könnte. Zahlreiche Berichte aus dem Raum Pokrovs’k sprechen davon, dass eilig hierher verlegte Reserveeinheiten, die überwiegend aus neu mobilisierten Soldaten ohne Kampferfahrung bestehen, bei den ersten Einschlägen die Flucht ergreifen. Und dies nicht ohne Grund: Auf offenem Feld gibt es an dieser Stelle keine Verteidigungsanlagen mehr und auch die Siedlungen sind nicht für den Schutz vor Artillerieangriffen vorbereitet. So wurde die Stadt Novohrodivka mit einst 20 000 Einwohnern praktisch kampflos aufgegeben, was den raschen Vormarsch der russländischen Truppen bis zum Stadtrand von Selydove ermöglichte. Bei Pokrovs’k und Myrhorod stehen die Besatzungstruppen nur noch fünf Kilometer vom Stadtrand entfernt und könnten ihn in wenigen Tagen erreichen. Der Oberkommandierende der ukrainischen Armee Aleksandr Syrs’kyj ist bereits seit einer Woche vor Ort, um die Verteidigung zu koordinieren. In Pokrovs’k verharren derweil weiter rund 30 000 Menschen, die sich weder vor der drohenden Einnahme zu fürchten scheinen, noch von dem Druck, den die ukrainischen Behörden nicht zuletzt mit der Verhängung einer 20 Stunden pro Tag geltenden Ausgangssperre ausüben, zum Verlassen der Stadt bringen lassen.

Die Befürchtungen gehen sogar noch weiter. Gelingt es der Ukraine nicht, eine zuverlässige Verteidigung entlang der Linie Pokrovs’k–Velyka Novosilka aufzubauen, dann droht im Jahr 2025 ein Vormarsch der Besatzungsarmee in Richtung der beiden Großstädte Dnipro und Zaporižžja.

Die Lage im Gebiet Kursk

Im Gebiet Kursk haben unterdessen die dort eingesetzten, gut ausgebildeten ukrainischen Brigaden einige taktische Erfolge erzielt. Sie haben einige „Keile“ beseitigt, die in das von ihnen gehaltene Gebiet hineinragten. So ist es ihnen in der letzten Augustwoche gelungen, die russländischen Einheiten einige Kilometer vom östlichen Stadtrand der Kreisstadt Sudža wegzutreiben. Die Front verläuft nun entlang einer Linie zwischen der grenznahen Siedlung Borki und der nördlich davon gelegenen Ortschaft Martynovka an der Fernstraße nach Kursk. Auch haben mittlerweile auch die offiziellen russländischen Stellen zugegeben, dass die seit Anfang August umkämpfte, nördlich von Sudža gelegene Siedlung Malaja Loknja in ukrainischer Hand ist. Auch hier haben die ukrainischen Truppen eine Frontausbuchtung begradigt.

Weiter nördlich wurden die ukrainischen Einheiten allerdings aus dem südöstlichen, am linken Ufer des Krepna gelegenen Teil der Kreisstadt Korenevo verdrängt. Ihr wichtigstes Ziel haben die ukrainischen Truppen damit auch vier Wochen nach Beginn ihrer Offensive auf russländisches Territorium nicht erreicht: Die Einnahme von Korenevo und die Schaffung einer Verteidigungslinie zwischen dem Ort und dem einige Kilometer westlich gelegenen Fluss Sejm, was die Abwehr möglicher Attacken aus Richtung Ryl‘sk erleichtert hätte. Im Landkreis Glušovskij im Westen des von ihr besetzten Raums hat die ukrainische Armee in der letzten Augustwoche keine ernsthaften Anstrengungen zu einem Vormarsch unternommen. Vielmehr hat sie die Übergänge über den Sejm unter Beschuss genommen. Russland hat zwar zahlreiche Fahrzeuge verloren. Ein auf einem Waldweg nahe der Ortschaft Zvannoe aufgenommenes Video zeigt sechs, mit Teilen für Pontonbrücken beladene russländische Lastwagen, die am 28. August bei einem ukrainischen Angriff zerstört wurden.

Die russländischen Militärkanäle berichten ihrerseits von Verlusten, die dem Gegner im Gebiet Kursk sowie im angrenzenden ukrainischen Gebiet zugefügt worden seien. Klares Bildmaterial gibt es nicht, was die Behauptungen äußerst zweifelhaft macht. Gerade erst ist eine gezielte Falschmeldung aufgeflogen. Eine Reihe von Kanälen hatte ein Video veröffentlicht, das angeblich einen Angriff im Gebiet Sumy auf eine ukrainische Militärkolonne aus mehreren LKW und PKW zeigte. Die Kolonne wurde mit zwei Iskander-Raketen und Grad-Raketen beschossen. 300 Soldaten des Gegners seien ums Leben gekommen. Kurz darauf verbreiteten ukrainische Kanäle glaubwürdige Fotos der angegriffenen Kolonne. Es handelte sich um Mähdrescher, von denen einer tatsächlich zerstört und einige weitere beschädigt waren. Nach ukrainischen Angaben wurden vier Fahrer der Landmaschinen getötet und einige weitere Personen verletzt.

Ähnlich verhält es sich mit den Berichten der russländischen Militärkanäle über zerstörte Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars und andere Raketenwerfer. Glaubwürdig sind diese Berichte nicht, selbst wenn Drohnenaufnahmen die Explosion beim Einschlag und unmittelbar danach die Detonation der Raketen belegen sollen. Denn die Ukraine setzt vielfach Attrappen ein, um den Gegner dazu zu verleiten, mit teuren Raketen wertvolle Ziele anzugreifen. Daher bedarf es mindestens am Boden entstandener geolokalisierter Aufnahmen zerstörter Fahrzeuge, damit ein Bericht dieser Art als vertrauenswürdig betrachtet werden kann.

Die Front im Gebiet Cherson

Für den Angriff bei Pokrovs’k hat Russland offenbar auch Reserveeinheiten aus Frontabschnitten abgezogen, an denen die Ukraine im Juli und in der ersten Augusthälfte massiv unter Druck gestanden hatte. Zumindest hat das Ausmaß der Kämpfe bei Časiv Jar und in der Agglomeration von Torec’k in der zweiten Augusthälfte stark nachgelassen.

Vor diesem Hintergrund ist es besonders auffällig, dass die russländischen Truppen vom Raum Pokrovs’k abgesehen ihre Angriffe an einer Stelle massiv erhöht haben: auf den Inseln im Delta des Dnipro. Auch die nahe Cherson gelegenen Inseln sind erneut unter Kontrolle der Besatzungsarmee. Die Lage in der Stadt hat sich dadurch stark verschlechtert. Sie liegt unter ständiger Luftbeobachtung, die Zahl der Artillerieangriffe und Attacken mit FPV-Drohnen ist massiv gestiegen. Diese starten russländische Truppen mittlerweile von den Inseln oder aus dem Uferbereich links des Dnipro. Bis vor einiger Zeit wurden sie von starken ukrainischen Drohnentrupps bekämpft, doch diese wurden in das Gebiet Charkiv verlegt und befinden sich möglicherweise heute auf russländischem Territorium im Gebiet Kursk.

Mit einer solchen Verlegung könnte auch zusammenhängen, dass der ukrainische Präsident Zelens’kyj das Ziel einer Rückeroberung des 20 Kilometer östlich des Gebiets Cherson im angrenzenden Gebiet Zaporižžja gelegenen AKW Zaporižžja zurückgestellt hat. Nach der Zerstörung des Kachovka-Staudamms und dem Verschwinden des einstigen Stausees war dieses Vorhaben realistischer geworden. Nun hat Zelens’kyj erklärt, das Ziel sei in nächster Zeit nicht zu erreichen. Möglicherweise wurden Reservekräfte, die für eine solche Operation bereitgehalten worden waren, nach Pokrovs’k verlegt.

Der Luftkrieg

Beide Kriegsparteien haben in der 131. Kriegswoche den Luftkrieg stark ausgeweitet. Waren im Juni und Juli die wechselseitigen Attacken etwas seltener geworden, so finden nun fast täglich massive Angriffe statt.

Bei einer der massiven russländischen Attacken am 26. August stürzte einer der an die Ukraine gelieferten F-16-Kampfjets ab, der zur Abwehr anfliegender Raketen eingesetzt worden war. Der in der Ukraine sehr bekannte Pilot, der als einer der ersten an diesem Flugzeug ausgebildet worden war, kam ums Leben. Die genaue Ursache das Absturzes ist unklar und soll von einer Untersuchungskommission geklärt werden. Die Rede ist unter anderem von einem Abschuss durch eine eigene Patriot-Abfangrakete. Fest steht, dass Präsiden Zelens’kyj den Oberkommandierenden der Luftstreitkräfte Mykola Oleščuk entlassen hat. Ob aus diesem Grund oder wegen der Zunahme von Angriffen auf ukrainische Flugzeuge, die zur Wartung auf unzureichend geschützten Flugplätzen im Osten des Landes zwischenlanden, ist unklar.

Der durch zwei Drohnenangriffe Mitte August ausgelöste Großbrand im Treibstofflager „Kavkaz“ des staatlichen Ölbevorratungsamts Rosrezerv im Gebiet Rostov ist nach 16 Tagen gelöscht. Nach Satellitenaufnahmen zu urteilen sind mehr als 30 der 56 Tanks in Flammen aufgegangen. Ebenfalls zu einem Großbrand führte ein ukrainischer Drohnenangriff in der Nacht vom 27. auf den 28. August auf das Treibstofflager Atlas nördlich von Kamensk-Šachtinskij im Norden des Gebiets Rostov, das ebenfalls von Rosrezerv betrieben wird.

In der Nacht vom 29. auf den 30. August griff Russland mit 40 Kampfdrohnen Ziele in knapp einem Dutzend ukrainischer Regionen an. In der gleichen Nacht fielen fünf von russländischen Kampfjets gestartete schwere Gleitbomben auf ein Areal mit großen mehrstöckigen Wohnblöcken in Charkiv. Sechs Menschen starben, darunter ein 14-jähriges Kind und eine 18-jährige, rund 100 Menschen wurden verletzt, mindestens ein Wohnblock zerstört. Bei einem ukrainischen Angriff in der gleichen Nacht auf Belgorod wurden rund 40 Menschen verletzt. In der gleichen Nacht wurde in Sumy im Norden der Ukraine eine Industrieanlage getroffen. Am 1. September griff Russland erneut Charkiv an – nun mit rund zehn ballistischen Raketen, 40 Menschen wurden verletzt, darunter mehrere Kinder, u.a. wurden ein Postgebäude, ein Einkaufszentrum und eine Sporthalle beschädigt.

In der Nacht auf den 2. September schoss die ukrainische Luftabwehr nach eigenen Angaben neun ballistische Raketen, 13 Marschflugkörper und 20 Drohnen ab, die alle in Richtung Kiew flogen. Nach offiziellen Angaben wurde dennoch ein Schulgebäude zerstört. Auch in dieser Nacht reagierte die Ukraine mit dem Beschuss von Wohngebieten in Belgorod. Bei einem russländischen Angriff mit zwei Raketen auf Poltava am 3. September starben 50 Menschen, mehr als 200 wurden verletzt.

In den frühen Morgenstunden des 1. September führte die Ukraine den bisher größten Drohnenangriff seit Beginn des Krieges. Nach Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums wurden 158 unbemannte Fluggeräte abgefangen, weitere mindestens zehn erreichten ihre Ziele. Getroffen wurde: eine Raffinerie von Gazpromneft‘ im Südosten von Moskau, wo eine Primärverarbeitungsanlage teilweise zerstört wurde und die Produktionskapazität bis auf weiteres halbiert ist; ein Gaskondensationskraftwerk bei Konakovo im Gebiet Tver‘, das achtgrößte Wärmekraftwerke Russlands. Dort wurde die Gasverteilungsanlage sowie die Umspannstation zerstört, möglicherweise ist die Stromproduktion dort bis auf weiteres lahmgelegt; ein weiteres Gaskondensationskraftwerk bei Kašira im Gebiet Moskau, Folgen unbekannt; eine Raffinerie im Gebiet Jaroslavl‘, hier entstand offenbar kein größerer Schaden.

Die Zerstörung des Gaskondensationskraftwerks Konakovo ist der massivste Schlag, der der Ukraine gegen das russländische Energieversorgungssystem gelungen ist. Er zeigt, dass die Ukraine in den kommenden Monaten in Russland die gleichen Schäden anrichten könnte, wie Russland dies in den vergangenen zwei Jahren in der Ukraine getan hat. Der gesamte europäische Teil Russlands liegt mittlerweile in der Reichweite ukrainischer Drohnen. An den Knotenpunkten des Pipelinenetzes sowie in der Nähe der großen Kraftwerke, die in den vergangenen 40 Jahren auf Erdgas umgestellt wurden, befinden sich rund 100 Verteilerstationen. Nach dem Angriff auf das Kraftwerk bei Konakovo werden sie sicher mit Netzen gegen Drohnen geschützt werden. Gelingt es der Ukraine dennoch, solche Anlagen zu zerstören, hat das massive Auswirkungen auf die Strom- und Gasversorgung sowohl der Industrie als auch der Bevölkerung. Mit den bisherigen Angriffen auf Raffinerien ist es der Ukraine gelungen, die Produktion von Benzin und Kerosin um gut fünf Prozent zu senken, was die Regierung in Moskau Ende Februar zu einem zunächst halbjährigen und nun verlängerten Exportverbot für die beiden Treibstoffarten veranlasst hat. Doch im Vergleich zu den möglichen Folgen weiterer Angriffe auf das Erdgasnetz waren dies „Peanuts“.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.