Handlungsbedarf

Nikolay Mitrokhin, 15.4.2024

Die Lage der Ukraine in der 111. Kriegswoche

Die Ukraine steht unter massivem Druck. Am Boden setzen die russländischen Okkupationstruppen die Offensive im Donbass fort. Sie kommen allerdings nur langsam voran, ein Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung droht noch nicht. Änderungen am Mobilmachungsgesetz zeigen aber, wie heikel die Lage ist. Besonders kritisch ist die Situation bei der Luftverteidigung. Der Ukraine gehen die Abfangraketen aus, Russland konnte mit Angriffen auf Kraftwerke und Umspannstationen eine weitaus größere Zerstörung verursachen als bei früheren Attacken. Erst jetzt kommt neue westliche Hilfe langsam in Gang.

Die Lage an der Front

Russlands Okkupationstruppen setzten in der 111. Kriegswoche ihre Offensive im Donbass westlich von Avdijivka und westlich von Bachmut fort. In sieben Tagen haben sie die ukrainischen Verteidiger im Durchschnitt um drei Kilometer zurückgedrängt.

Bei Avdijivka überwanden sie zu Wochenbeginn im südlichen Abschnitt der dortigen Offensive die ukrainischen Stellungen entlang einer Kette von Rückhaltebecken und nahmen die Siedlung Pervomajskoe ein. Im nördlichen Angriffssektor rückten sie gegen Ende der Woche bis an den Stadtrand des nordwestlich von Avdijivka gelegenen Novokalinovo vor. Das nächste große Hindernis wird der gut befestigte Lauf der von Avdijivka nach Westen fließenden, in die aufgestaute Vovčja mündende Durna sein. Doch bis die russländischen Truppen dorthin vorstoßen, müssen sie erst die unter ukrainischem Beschuss liegenden Felder südlich des Flusses einnehmen. Lediglich bei Berdyči im Zentrum dieses Vorstoßes haben sie den Fluss bereits erreicht und versuchen, das am anderen Ufer gelegene Simenivka zu erreichen. Gelingt dies, könnten sie die flussabwärts gelegenen ukrainischen Stellungen von Nordwesten her angreifen. Aber auch wenn sie diese einnehmen, was nach aktuellem Stand der Dinge frühestens im Juni geschehen könnte, fließt wenige Kilometer weiter westlich die Vovča, an deren Ufern sich eine Reihe von Siedlungen befindet, wo die Ukraine gewiss die nächste Befestigungslinie aufgebaut hat oder gerade aufbaut.

Ähnlich ist die Lage bei Časiv Jar. Die östlichen Ausläufer dieser südwestlich von Bachmut gelegenen Kleinstadt haben die Okkupanten bereits vor zwei Wochen erreicht. Da sie dort jedoch auf heftigen Widerstand gestoßen sind, zerstören sie diesen Teil der Stadt jetzt mit Gleitbomben. Nach Angaben des Oberkommandierenden der ukrainischen Armee Oleksandr Syrs’kyj habe die Führung in Moskau das Ziel vorgegeben, Časiv Jar bis zum 9. Mai einzunehmen. Sollte dies stimmen, wäre es ein ziemlich hoch gestecktes Ziel. Dazu müssten die Moskauer Truppen erst den großen Kanal überwinden, der vom Siverskyj Donec’ ins Zentrum des Donbass führt. Gegenwärtig setzen die Besatzer den schweren Flammenwerfer Solncepek ein, um sich einen Weg in Richtung Stadtrand zu bahnen. Doch dies ist ein risikoreiches Unterfangen. Die ukrainische Armee versteht es gut, Jagd auf dieses schwere Gerät zu machen, das für den Einsatz auf recht kurze Distanz herangeführt werden muss.

An anderen Frontabschnitten ist die Lage vergleichsweise stabil. Die russländischen Truppen unternehmen kleinere Versuche, von Soledar nach Norden vorzustoßen und nach Sivers’k durchzubrechen, doch diese zeitigen kaum Ergebnisse. Bei Vuhledar konnten die Okkupanten die südlichen Ausläufer von Krasnohorivka wieder unter ihre Kontrolle bringen, von wo sie vor vier Wochen vertrieben worden waren. Im Gebiet Cherson hat die Ukraine möglicherweise einen Teil des Brückenkopfs am linken Ufer des Flusses verloren, den die russländische Armee schon seit September ohne Erfolg aufzulösen versucht.

Der Luftangriff vom 11. April und andere Raketenattacken

Am 11. April führte Russland einen schweren Schlag gegen das ukrainische Stromsystem. Nach ukrainischen Angaben wurden von 82 Flugkörpern 57 zerstört: 39 von 40 Drohnen und 16 von 20 Marschflugkörpern. Nicht abgefangen wurden 18 ballistische Raketen – sechs „Kinžal“ und zwölf vom Typ S-300. Sie schlugen unter anderem in Umspannwerken und zwei Gasspeichern im Gebiet Lemberg ein. Der Luftabwehr entgingen auch zwei von vier der neuartigen gelenkten Luft-Boden-Raketen Ch-69. Hierbei handelt es sich um eine Modifikation der oft eingesetzten Ch-59-Rakete, die stets mit einer hohen Quote abgefangen wurde. Sie wird von taktischen Kampfflugzeugen und nicht wie die Ch-59 von strategischen Bombern gestartet und kann eine erhebliche Sprengladung von 310 Kilogramm tragen. Für die ukrainische Luftabwehr ist das Auftauchen dieser Rakete eine schlechte Nachricht, denn der Einsatz von Kampfjets kann schwerer überwacht werden als jener von strategischen Bombenflugzeugen.

Die beiden Raketen, die der Luftabwehr entgingen, schlugen im Kohlekraftwerk Trypil’ska ein. Jede von ihnen trägt eine Sprenglast, die ausreicht, um die Betondecke des Maschinenraums solcher Kraftwerke zum Einsturz zu bringen. Das Kraftwerk in der Stadt Ukrajinka im Süden des Gebiets Kiew, das über die Hälfte des Stromverbrauchs des Gebiets abdeckte, wurde nach ukrainischen, mit Videomaterial belegten Angaben vollkommen zerstört. Russländische Kanäle geben zudem an, das Kraftwerk habe eine wichtige Rolle gespielt, um Spannungsschwankungen im Verbundnetz auszugleichen. Bislang konnte die Stabilität des Verbundnetzes ohne Lastabwurf und anschließende großflächige Stromausfälle aufrechterhalten werden. Doch die Behörden fordern die Bevölkerung bereits auf, gerade in den abendlichen Hauptlastzeiten Strom zu sparen und warnen, Abschaltungen könnten jederzeit notwendig werden. Schlimmer hat es bereits viele Menschen im Gebiet Charkiv getroffen, wo Hunderttausende seit fast drei Wochen ohne Strom sind. Im befreiten Teil des Gebiets Cherson fiel der Strom am 12. April nach einem Raketeneinschlag im Gebiet Mykolajiv aus.

Dramatische Lage der ukrainischen Luftabwehr

Die Angriffe auf das ukrainische Stromsystem sind nur eines von mehreren Beispielen, die zeigen, dass die ukrainische Luftabwehr heute mit den Raketen- und Drohnenangriffen schlechter zu Rande kommt als noch vor wenigen Monaten. Vor einem Angriff auf das Werk Motor-Sič in Zaporižžja stand längere Zeit eine russländische Aufklärungsdrohne über dem Werk, mit deren Hilfe das Ziel der anfliegenden S-300-Raketen präzisiert wurde. Vergleichbares wäre noch vor kurzem unvorstellbar gewesen. Manche westliche Beobachter schreiben, die Ukraine habe keine Raketen mehr für die westlichen IRIS-T- und Patriot-Systeme, der Berater des ukrainischen Präsidenten Michail Podoljak erklärte in einem Artikel im Guardian, es gäbe noch Flugabwehrraketen, aber die Lage sei kritisch.

Dies hat nach den Angriffen aus das Stromsystem auch die Biden-Administration verstanden. Unmittelbar nach dem Raketenschlag hat das State Department 138 Millionen US-Dollar für die Ukraine zur „Modernisierung der Luftabwehr“ aus jenem Teil des Haushalts freigegeben, für den es keiner neuen Zustimmung des Kongresses bedarf.[1] Gemeint ist gewiss, dass die Ukraine US-Raketen in diesem Wert erhält, was allerdings für den genannten Zweck eine sehr bescheidene Summe ist. Der polnische Präsident Andrzej Duda gab bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Volodymyr Zelens’kyj und ihrem Amtskollegen aus Litauen im Rahmen der Drei-Meere-Initiative in Vilnius wenig konkret zu Protokoll, er werde sich bei den polnischen Streitkräften erkundigen, ob diese noch über sowjetische Abfangraketen verfügten, die an die Ukraine geliefert werden könnten.

Das Europäische Parlament hat auf die Lage mit einem Beschluss reagiert, in dem es dem Europäischen Rat die Entlastung für das Haushaltsjahr 2023 verweigert, bevor die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht wenigstens einige Patriot-Systeme an die Ukraine geliefert haben. Die Niederlande – obwohl von allen Seiten geschützt – haben die Abgabe von einem der vier vorhandenen Systeme bereits ausgeschlossen, Deutschland sagte hingegen zu, ein drittes System zur Verfügung zu stellen. Polen hat einen erkennbaren Eigenbedarf und Griechenland, das über mehrere Systeme verfügt, macht geltend, dass diese zur Abdeckung der zahlreichen Inseln im Falle einer Eskalation des Konflikts mit der Türkei benötigt würden. Wann Griechenland wie bereits seit langem angekündigt im Austausch gegen amerikanische Systeme die noch vorhandenen sowjetischen Luftabwehrgeschütze der Ukraine übergibt, ist unklar.

Neues Mobilmachungsgesetz in der Ukraine

Das ukrainische Parlament hat nach langer Diskussion eine Änderung des „Gesetzes über die Mobilmachung“ beschlossen. Diese ermöglicht es, die Entscheidungen der Musterungskommissionen neu zu bewerten, die in den Jahren 2022 und 2023 nach verbreiteter Meinung mit erheblicher Korruption verbunden waren. Auch die nach Februar 2022 erfolgten Entscheidungen über die Vergabe von Behindertenausweisen der ersten und zweiten Stufe sollen überprüft werden. Männer im wehrpflichtigen Alter müssen nach Inkrafttreten des Gesetzes innerhalb von zwei Monaten bei den Wehrämtern ihren Status erneuern lassen. Dies trifft auch für Staatsbürger im Ausland zu. Die Verlängerung von Reisepässen und andere konsularische Leistungen werden davon abhängig gemacht, dass die Antragsteller einen gültigen Wehrpass vorlegen. In der Ukraine selbst sind von nun an alle Männer im Wehralter verpflichtet, den Wehrpass ständig bei sich zu tragen und Polizisten oder Mitarbeitern der Wehrämter auf Verlangen vorzuzeigen. Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, müssen mit Einschränkungen der Fahrerlaubnis rechnen. Als positiver Anreiz ist eine Solderhöhung für Frontkämpfer vorgesehen. Präsident Zelens’kyj muss das Gesetz noch unterzeichnen.

Es ist davon auszugehen, dass mit einer konsequenten Umsetzung des Gesetzes Zehntausende und mittelfristig wohl mehr als Hunderttausend Männer in die Armee geführt werden können. Allerdings fällt nach übereinstimmenden Berichten bereits heute auf, dass in vielen ukrainischen Städten im Straßenbild kaum Männer im wehrfähigen Alter zu sehen sind. Viele wagen es nicht, auch nur zum Einkaufen die Wohnung zu verlassen. Sie fürchten, auf der Straße Mitarbeitern der Wehrämter zu begegnen und eingezogen zu werden. Hausdurchsuchungen, um Rekruten auszuheben, erlaubt das Gesetz nicht.

In der öffentlichen Meinung ist ein Stimmungsumschwung zu beobachten. Noch vor einem Jahr war man stolz darauf, dass junge Männer trotz des Kriegs ein normales Leben führen können. Exemplarisch für die heutige Stimmung steht eine Aussage des Vorsitzenden der Stiftung „Come back alive“ (Povernys’ žyvym), Taras Čmut, der in den Jahren 2015‑2018 im Donbass in einer Spezialeinheit gedient hat: „Wir haben zu viel Zeit verloren. Wenn wir als Land überleben wollen, müssen wir der Tatsache des Kriegs ins Auge schauen und etwas tun. Sonst war alles umsonst.“

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] Für eine ausführliche Darstellung der haushaltstechnischen Möglichkeiten der US-Präsidialadministration siehe: https://threadreaderapp.com/thread/1777328492566471120.html ‑ red.