Gescheiterter Plan für die Gegenoffensive
Nikolay Mitrokhin, 21.6.2023
Die Lage an der Front in der 69. Kriegswoche
Die ukrainische Gegenoffensive läuft seit mehr als zwei Wochen. Kiew hat über acht Monate bedeutende Ressourcen angehäuft, Soldaten wie Gerät. Die Ukraine hat einen sehr klugen Plan gefasst und dessen Umsetzung konsequent vorbereitet. Und doch ist das Vorhaben gescheitert, bevor es überhaupt richtig begonnen hat – zumindest in der Form, wie es ursprünglich geplant war.
Seit Beginn der Gegenoffensive Anfang Juni 2023 konnte die Ukraine kleinere Gebiete bei Bachmut zurückerobern. Es handelt sich allerdings ausschließlich um Felder und einige Hügel. Auch am Frontabschnitt im Gebiet Zaporižžja gelangen ihr minimale Geländegewinne bei der Frontausbuchtung nahe Vremivka. Dort sind die Ruinen von etwa sieben Dörfern in ukrainische Hand übergegangen. Sie gehörten zur ersten Verteidigungslinie der russländischen Armee. Aber auch an dieser Stelle kann von einem echten Durchbruch dieser Linie keine Rede sein. Im Mittelabschnitt der Ausbuchtung halten sich weiter größere russländische Verbände auf. Bis zu den größeren und bedeutenderen Knotenpunkten der zweiten Verteidigungslinie, vor allem die Siedlung Staromlynovka, ist die ukrainische Armee bislang nicht vorgedrungen. Nahe Orichiv ist es ihr gelungen, in einer Tiefe von 1-2 Kilometern in die erste Verteidigungslinie einzubrechen, ebenso bei Polohy, wo sie unter großen Verlusten ein Dorf eingenommen hat. Und so taten die Sprecher der ukrainischen Armee in der zweiten Juniwoche das, was die Moskauer Armeesprecher während der russländischen Winteroffensive getan hatten: täglich mit Stolz über Geländegewinne von 200-300 Metern berichten.
Der misslungene Auftakt der ukrainischen Gegenoffensive hat im Wesentlichen zwei Gründe. Die Abschnitte, an denen der Angriff begann, waren stärker als erwartet vermint. Und die russländischen Einheiten, die aktive Gegenwehr leisteten, agierten koordinierter als erhofft. Neben den Truppen, die die Stellung am Boden halten, und der sie unterstützenden Artillerie wurden Einheiten zur Panzerbekämpfung sowie Kampfhubschrauber eingesetzt, die in großer Entfernung von der Front auf Flugplätzen bei Berdjans’k am Asowschen Meer stationiert sind. Diese Hubschrauber wollte die Ukraine bei Beginn der Offensive am Boden zerstören, was ihr jedoch nicht gelang. Während des Einsatzes werden sie von Einheiten der Radioelektronischen Kampfsysteme geschützt. Am 18. Juni berichtete die ukrainische Armee gleichwohl vom Abschuss zweier solcher Kampfhubschrauber.
Russlands Abwehrtaktik konzentrierte sich in erster Linie auf die Zerstörung von Minenräumfahrzeugen. Dies war so erfolgreich, dass die Ukraine in der zweiten Juniwoche von dem Versuch abrückte, mit solchen Fahrzeugen Korridore durch die Minenfelder zu bahnen und auf Minenräumtrupps setzte. Doch auch dies half nicht. Am 17. Juni berichtete der russländische Militärkanal Rybar‘ über die Vernichtung eines solchen Trupps bei Polohy.
Nun versucht die Ukraine das Problem mit schweren Angriffen im rückwärtigen Raum der russländischen Truppen zu lösen. Russländischen Quellen zufolge schlug am 12. Juni eine Rakete im Stabsquartier der 35. Armee ein. Deren Kommandierender Generalmajor Sergej Gorjačev kam ums Leben (der elfte getötete General auf russländischer Seite), ebenso acht Stabsoffiziere. Diese Armee ist für die Verteidigung der Front im Gebiet der Vremivka-Ausbuchtung verantwortlich, wo die 60. und die 37. motorisierte Schützenbrigade im Einsatz sind. Am 18. Juni wurde einigen Berichten zufolge der Stab der 80. Brigade der russländischen Streitkräfte vernichtet. Auch nahe Kupjans’k starben bei einem ukrainischen Artillerieangriff zahlreiche Soldaten. Sie hatten mehrere Stunden auf einen General gewartet, der zu ihnen sprechen wollte, jedoch nicht eintraf. An mindestens zehn weiteren Orten tief im rückwärtigen Gebiet der russländischen Armee gab es Angriffe, die Brände und Explosionen nach sich zogen. Doch der von der Ukraine gewünschte Effekt an der Front stellte sich bislang nicht ein.
Ein weiterer Grund für das bisherige Misslingen der Gegenoffensive ist die Sprengung des Kachovka-Staudamms. Sie hat verhindert, dass die ukrainische Armee die russländische Verteidigungslinie im Gebiet Zaporižžja von der Flanke her angreifen kann. Das Wasser der Flutwelle ist mittlerweile an vielen Stellen zurückgegangen, die ukrainische Armee versucht auf Inseln und im Ufergebiet links des Dnipro Brückenköpfe zu schaffen. Umkämpft ist insbesondere die Stelle, wo die von abziehenden russländischen Truppen im November 2022 zerstörte Antonivka-Brücke bei Cherson über den Fluss führt. Wer dort den schmalen Uferstreifen kontrolliert, bleibt unklar.
Der Ukraine bleibt ein Trumpf. Zwei große Verbände, die sie aufgebaut und mit westlichem Gerät ausgestattet hat, sind bislang nicht in den Kampf geführt. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass diesen ein Durchbruch gelingt. Dies könnte zwischen Volnovacha und Dokučajevs’k geschehen, wo Russland offenbar nur eine Verteidigungslinie errichtet hat. Sollte dort ein Durchbruch gelingen, hätte die Ukraine zahlreiche Möglichkeiten: Sie könnte in Richtung Mariupol‘ vorstoßen oder zu den südlichen Vorstädten von Donec’k, oder auch unter Umgehung der gesamten Front im Gebiet Zaporižžja in Richtung Süd-Westen. Natürlich ist dies der russländischen Armee nicht unbekannt.
Fortgesetzter Luftkrieg
Russland greift weiter ukrainische Großstädte mit ballistischen Raketen und Drohnen an. Hatten im Winter Nachschubprobleme die Zahl der Attacken begrenzt, stehen die Angriffswaffen nun offenbar in großer Zahl zur Verfügung. Sogar am 16. Juni, als eine Delegation afrikanischer Staatspräsidenten zur Auslotung der Möglichkeiten für Friedensverhandlungen in Kiew weilte, wurde die Stadt mit Kalibr-Raketen attackiert. Objektive Schadensbilanzen sind aus der Ukraine nicht zu bekommen.
Neben Kiew sind vor allem Charkiv, Kremenčug und Krivoj Rih Ziel der Angriffe. Auch wenn Waffenfabriken und Waffenlager das vorrangige Ziel sind, schlagen immer wieder Raketen und Drohnen in Wohnhäusern ein. Regelmäßig sind Tote zu beklagen. So starben in der vergangenen Woche zwölf Menschen bei Raketeneinschlägen in einem fünfstöckigen Wohnhaus und in einer zivilen Lagerhalle in Krivoj Rih.
Die Ukraine greift ihrerseits verschiedene Industrieanlagen in grenznahen Gebieten Russlands an, in der Regel handelt es sich jedoch um unbedeutende Objekte. Gleichwohl kommt es in Folge solcher Attacken 2‑3 Mal pro Woche zu großen Bränden. Im Gebiet Rostov brannte etwa ein Block des Kraftwerks von Novočerkassk ab. Am 16. Juni brannte im Gebiet Belgorod bei Bel Pol‘, dem größten Kissenhersteller Russlands, ein 2000 m² großes Hallendach.
Šojgu gegen Prigožin
Der seit Monaten öffentlich ausgetragene Konflikt zwischen dem Gründer der Söldner-Truppe Wagner Evgenij Prigožin und Russlands Verteidigungsminister Sergej Šojgu ist beendet. Nachdem die Auseinandersetzung immer heftiger geworden war und ein Zusammenbruch der Disziplin an der Front drohte, hat Putin ein Machtwort gesprochen. Bei einem Treffen mit Frontberichterstattern am 13. Juni gab er zu verstehen, dass er Prigožins Eigenmächtigkeit nicht länger dulden werde. Zuvor war der Dauerkonflikt hochgekocht, als Šojgu verfügt hatte, dass alle Soldaten in „Freiwilligeneinheiten“, zu denen auch die Gruppe Wagner zählt, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben müssen. Offiziell ist das Ziel, dafür zu sorgen, dass alle Soldaten, unabhängig davon in welcher Einheit sie kämpfen, die ihnen zustehenden staatlichen Leistungen erhalten. Tatsächlich will das Ministerium auf diese Weise Einblick in die undurchsichtigen Finanzströme der „Freiwilligeneinheiten“ erhalten, die wahre Zahl der dort Kämpfenden herausfinden und die Söldner mit Verträgen an das Ministerium binden. Denn wer bei diesem unter Vertrag steht, kann gegenwärtig auch nach Ablauf des Vertrags nicht aus der Armee ausscheiden. Fronturlaub gibt es ebenfalls nicht, da die Gefahr von Fahnenflucht als hoch eingeschätzt wird. Bei der Gruppe Wagner ist der Spielraum für Übereinkünfte höher.
Zwar hat sich Prigožin noch nicht gefügt. Aber seit Putin am 13. Juni erklärt hat, dass Šojgu nur seine Anordnung ausgeführt habe, ist sein Gegner nicht mehr irgendein Minister, sondern das Staatsoberhaupt. Dies änderte die Lage augenblicklich. Prigožin verschwand praktisch vollkommen aus dem öffentlichen Raum und die von ihm kontrollierte Mediengruppe schraubte die Aggressivität ihrer Berichterstattung stark herunter.
Faktisch ist die Gruppe Wagner seit der Einnahme von Bachmut zum Sündenbock geworden. Vor nicht allzu langer Zeit noch galt sie als „kampffähigste“ Truppe der russländischen Kräfte. Jetzt setzt sich das Bild durch, dass sie ihre Erfolge auf Kosten anderer errungen hat, weil sie bevorzugt mit Munition ausgestattet wurde und darüber hinaus den Mangel durch Diebstahl bei anderen Verbänden überwunden hat. Die Geschichten von den Erfolgen der Gruppe Wagner werden immer öfter in Frage gestellt: Unter Verlust von mehreren Zehntausend Soldaten im Verlauf von acht Monaten und mit Unterstützung regulärer Verbände eine Kreisstadt einzunehmen gilt nicht mehr als Ausweis herausragender Kampffähigkeit.
Hinzu kommt, dass die Gruppe Wagner Konkurrenten hat, deren Wert das Verteidigungsministerium mittlerweile als höher betrachtet und die weniger rebellisch sind. Dies sind etwa die Sturmtrupps, die das Ministerium im vergangenen halben Jahr aus Strafgefangenen zusammengestellt hat und die heute entlang der gesamten Front eingesetzt werden. Ebenso die Sondereinsatztruppe ‚Achmat‘, die zu einem Konglomerat tschetschenischer Einheiten unter Kommando von Ramzan Kadyrov und Adam Delimchanov[1] gehört. Diese liegen schon seit mindestens drei Monaten im Clinch mit der Gruppe Wagner und haben den Vertrag mit dem Verteidigungsministerium sofort unterschrieben.
Šojgu hat faktisch bereits begonnen, Achmat so einzusetzen wie zuvor die Gruppe Wagner. Sie fungiert nicht mehr als Militärpolizei, die für Säuberungen zuständig ist, sondern wird auch an wichtige Frontabschnitte geschickt. So wurde Achmat unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrags in das Gebiet Belgorod verlegt, um dort in schwieriger Lage den Landkreis Grajvoron zu verteidigen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Achmat den Auftrag erhält, die Gruppe Wagner auf ihren Stützpunkten zu entwaffnen. Die Diadochenkämpfe werden mit Gewalt ausgetragen. Am 14. Juni geriet eine Fahrzeugkolonne, in der sich auch Delimchanov befand, in Primorsk nahe Berdjans’k unter Artilleriebeschuss. Zunächst hieß es aus einigen Quellen, Delimchanov sei getötet worden, dann er sei unverletzt. Da er nicht in der Öffentlichkeit erscheint und zugleich eine heimliche Bestattung einer so hochrangigen Person unwahrscheinlich ist, spricht einiges dafür, dass er schwer verletzt wurde. Primorsk liegt außerhalb der Reichweite ukrainischer Geschütze, und mit westlichen Raketen wird die Ukraine kaum auf bewegliche Ziele schießen. In Verdacht geriet bald Prigožin, nicht zuletzt, da bei einem ähnlichen Vorfall im Dezember 2022, der sich allerdings näher an der Front zutrug, Dmitrij Rogozin verletzt wurde, also ein anderer hochrangiger Gegner Prigožins.[2]
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.
[1] Adam Delimchanov ist seit 2007 Abgeordneter der Staatsduma und einer der engsten Vertrauten von Ramzan Kadyrov. Er beteiligte sich in nicht bekannter Funktion am Krieg gegen die Ukraine, insbesondere an der Einnahme von Mariupol‘ – Red.
[2] Rogozin war von 2008–2011 Vertreter Russlands bei der NATO, von 2011-2018 stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der militärindustriellen Kommission, danach bis 2022 Generaldirektor der Staatskorporation Roskosmos – Red.