Desaströse Lage im südlichen Donbass

Russlands Krieg gegen die Ukraine, die 139. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 29.10.2024

Die ukrainische Armee steht im südlichen Donbass vor ihrer schwersten Niederlage seit den ersten Kriegswochen. Sie hat seit Anfang August 1500 km² und zahlreiche wichtige Orte verloren. Russlands Vormarsch wird immer gefährlicher. Kann die Ukraine keine Reserven heranführen, ist die letzte Verteidigungslinie, die das Gebiet Dnipropetrovs’k und die Großstadt Zaporižžja vor direkten Angriffen schützen soll, in Gefahr.

Russlands Armee ist in der letzten Oktoberwoche im Süden des Gebiets Donec’k weiter vorgerückt. Dabei ist auch die Kleinstadt Selydovo südlich von Pokrovs’k unter ihre Kontrolle geraten, wo die Ukraine fast zwei Monate lang Widerstand gegen die anrennenden Okkupationstruppen geleistet hatten. Nun hatten russländische Einheiten sie ohne nennenswerte Gegenwehr innerhalb weniger Stunden mit einer Zangenbewegung von Süden her eingekreist, bis die ukrainischen Verteidiger sie aufgeben mussten. Damit haben die Besatzungstruppen auch die nördliche Flanke eines um Kurachove entstehenden Kessels verlängert, wo sich das Zentrum der ukrainischen Verteidigung in diesem Raum befindet.

Ganz ähnlich entwickelte sich die Lage weiter südöstlich nahe der Kleinstadt Hirnik in der Agglomeration von Kurachove. Diese wurde nur noch von einem Bataillon der Territorialverteidigung gehalten, das über keine schweren Waffen verfügte. Unter dem Druck der anstürmenden Okkupationstruppen verließen diese rasch ihre Stellungen.

Auch im Gebiet Zaporižžja haben russländische Truppen zwischen Velyka Novosilka und Vuhledar an mehreren Stellen eine Offensive gestartet und in nur zwei Tagen die Verteidigungslinien auf einer Breite von 15 Kilometern durchbrochen, was ihr einen örtlichen Vorstoß um 20 Kilometer in die Tiefe ermöglichte. Aus südwestlicher Richtung kommend haben sie die Stadt Bohojavlenka und die umliegenden Arbeitersiedlungen eingenommen. Damit hat die Ukraine jene Orte verloren, von denen aus sie nach dem Fall von Vuhledar ein Vorrücken der Besatzer auf Kurachove verhindern wollte. Noch vor einem Monat konnte sie die Armeegruppe im Raum Kurachove-Vuhledar noch problemlos über einen 50 Kilometer breiten Korridor versorgen. Nun ist dieser auf der Höhe von Kurachove in nord-südlicher Richtung nur noch halb so breit. Außerdem eröffnet der Durchbruch bei Selydove der russländischen Armee die Möglichkeit, den Angriff auf Pokrovs’k, das von zentraler Bedeutung für die ukrainische Verteidigung im südlichen Donbass ist, nun nicht mehr nur von Südosten, sondern auch von Süden zu führen.

Am 28. Oktober begab sich der Oberkommandierende der ukrainischen Armee Oleksandr Syrs’kyj an die im Gebiet Zaporižžja verlaufende Front. Offiziell ging es um die Besichtigung der Vorbereitungen für den Winter. Tatsächlich wollte er sich ein Bild von den Verteidigungsanlagen der dritten Linie machen, die westlich von Pokrovs’k verlaufen und ein Vorrücken der Besatzer in das Gebiet Dnipropetrovs’k sowie auf die Großstadt Zaporižžja verhindern sollen. Dass dort die nächsten Kämpfe geführt werden, weil die weiter östlich gelegenen Verteidigungsstellungen nicht mehr lange zu halten sein werden, ist kein Geheimnis mehr. Offiziere, Politiker und proukrainische Blogger sprechen offen darüber. Tatsächlich könnte der Zusammenbruch der ukrainischen Front im Südosten des Donbass schon bald noch offensichtlicher werden, wenn die in zwei Keilen nördlich und südlich von Kurachove vorstoßenden russländischen Einheiten sich westlich der Stadt vereinigen können. Verhindern könnte die Ukraine dies, wenn sie tatsächlich wie von einigen Quellen behauptet, noch 120 000 Mann in der Reserve hat und rasch größere Verbände an die Front bringen kann, wie dies Anfang September bei Pokrovs’k geschehen ist, wo die herangeführten Truppen bis heute ein weiteres Vorrücken des Gegners verhindern.

Die Lage bei Torec’k und Časiv Jar

Im Norden des Donbass hält sich die ukrainische Armee besser. Nachrichten über ein Vorrücken der Okkupationstruppen ins Zentrum von Torec‘k und eine Einnahme der wichtigsten Kohlegrube der Stadt haben sich als falsch erwiesen. Möglicherweise wurde ein Vorstoß auch durch eine ukrainische Gegenoffensive beendet.

Kritisch ist die Situation hingegen bei Časiv Jar. Die russländischen Truppen sind südlich der Stadt entlang der Straße Bachmut-Konstantynovka bereits weit vorgestoßen. Zudem haben sie den Kanal Siverskyj-Donec’k an zwei weiteren Stellen überwunden.

Nordkoreanische Soldaten im Gebiet Kursk?

Im Gebiet Kursk halten die schweren Kämpfe um den ukrainischen Vorstoßraum an. Russland versucht mit rund 50 000 Mann die schätzungsweise 30 000 auf russländisches Territorium vorgedrungenen ukrainischen Soldaten zu vertreiben. Der ukrainische Militärgeheimdienst streut weiter die Nachricht, dort würden bald oder bereits jetzt die 10 000 aus nach Russland beorderten nordkoreanischen Soldaten eingesetzt. Unter Berufung auf einen Bericht des Oberkommandierenden Syrs’kyj erklärte Präsident Zelens’kyj am 25. Oktober, diese würden am 27. oder 28. Oktober in die Kampfhandlungen eingreifen.

Tatsächlich gibt es keine Anzeichen, dass die Soldaten aus Nordkorea an die Front verlegt wurden. Gesicherte Belege über ihren Verbleib gibt es nur aus dem Bezirk Primor’e im Fernen Osten Russlands. Die Spekulationen schießen jedoch ins Kraut. Das Spektrum reicht von „Patrouillen entlang der Gleise der Transsibirischen Eisenbahn“ bis „Einsatz in Sturmtruppen“. Auch über ihre Kampfstärke ist nichts bekannt. Mal heißt es, es handele sich um junge Rekruten, dann ist von Spezialkräften die Rede, die für den Schutz der nordkoreanischen Führung ausgebildet wurden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.