Ausweitung der Repressionszone
Dar’ja Kostromina, 6.6.2023
Am 23.5.2023 wurde in Russland der Bürgerrechtler Bachrom Chamroev, der für das Menschenrechtszentrum Memorial tätig war, wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu 14 Jahren Haft verurteilt: drei Jahre Zuchthaus und elf Jahre Lager in strengem Vollzug. Dieses Urteil hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem Verbot der Organisation Hizb-ut-Tahrir im Jahr 2003 und führt über immer massivere Repressionen gegen Baschkiren, Tataren und Krimtataren zur Verfolgung von Menschen, die sich für die politischen Gefangenen eingesetzt haben.
Die Anfänge der Repressionen
Am Anfang stand die Einstufung von Hizb-ut-Tahrir als terroristische Organisation im Jahr 2003. Dies war vor allem ein Liebesdienst des Kreml für das verbündete Regime in Usbekistan und hatte viel mit der Abstimmung zwischen den beiden Staaten im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit zu tun. Einige Zeit später wurden in Russland erste Strafverfahren wegen Mitgliedschaft bei Hizb-ut-Tahrir eingeleitet. Das Vorgehen gegen die Bewegung wurde zum Experimentierfeld für den FSB. Mal zogen die Behörden diesen, dann jenen Artikel des Strafgesetzbuchs heran. Manche Angeklagte erhielten acht Jahre in strengem Vollzug, andere sechs Monate auf Bewährung. In den 2000er Jahren konnte man die Zahl der Leute, die sich für das Schicksal dieser Menschen interessierten, an einer Hand abzählen.
Im November 2013 wurde dem Strafgesetzbuch Artikel 205.5 hinzugefügt: Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. In leitender Position (Abs. 1): 15–20 Jahre, einfache Teilnahme (Abs. 2): 5–10 Jahre Lager. Seitdem werden Anhänger der Bewegung alle nach dem gleichen Artikel und Muster verurteilt. Einige Zeit später wurde jegliche Strafminderung untersagt. Wer nach Artikel 205.5 Abs. 1 verurteilt wurde, erhielt von nun an definitiv 15 Jahre oder mehr. Das maximale Strafmaß wurde ebenfalls heraufgesetzt und lautete nun: lebenslänglich. Dann wurden im Jahr 2016 mit den Jarovaja-Gesetzen die Schrauben bei der einfachen Teilnahme angezogen: statt 5–10 Jahre nun 10–20. Niemals unter 10.
Das Resultat: Menschen wurden am Fließband zu Haftzeiten von ein bis zwei Jahrzehnten verurteilt, weil sie in kleinem Kreis darüber diskutiert hatten, wie sie sich ihren Idealstaat vorstellten – ohne jegliche terroristische Aktivitäten.
Das Schicksal der Verfolgten weckte nun etwas mehr Interesse. Eine Rolle spielte, dass mittlerweile viele Krimtataren als Anhänger von Hizb-ut-Tahrir verurteilt wurden. Das Mitgefühl für sie ist größer als für Tataren aus Tatarstan oder für Baschkiren. Wenn auch nicht viel größer. Eine Rolle spielt auch, dass die antisemitischen und israelfeindlichen Ansichten von Hizb-ut-Tahrir, derentwegen die Organisation etwa auch in Deutschland verboten ist, im europäischen Ausland viele davon abhielt, die Stimme gegen die massiven Repressionen zu erheben. Mehrere hundert Menschen, davon rund 100 von der okkupierten Krim, wurden zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. Kein einziger hatte je Gewalt angewendet oder der Gesellschaft in irgendeiner Weise geschadet.
Meine Motivation, mich für die verfolgten Anhänger der Bewegung einzusetzen, war immer absolut simpel: Der existierende FSB ist schlimmer als ein nichtexistierendes Kalifat. Ich habe mit Religion nichts am Hut und erst recht nicht mit religiösem Fundamentalismus. Hingegen schien mir offensichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Terrorismusparagraphen auch gegen weltliche Oppositionelle eingesetzt werden und auch bekannte Personen zu 20 Jahren Haft und mehr verurteilt werden.
Es folgte ein weiteres Gesetz, das vorschreibt, dass solche „Terroristen“ in jedem Fall für einige Jahre im Zuchthaus zu verbringen haben – selbst Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen. Ein Verdächtigter mit erheblichen Beeinträchtigungen starb qualvoll in Untersuchungshaft, wo ihm medizinische Hilfe verweigert worden war. Konnte noch irgendwer daran zweifeln, dass all dies sehr bald auch nichtreligiösen Oppositionellen bevorsteht?
Die Ausweitung der Repressionen
Artikel 205.2 des Strafgesetzbuchs stellt „Rechtfertigung von Terrorismus“ unter Strafe. Zunächst wurde dieser Paragraph den Angeklagten einfach zusätzlich angehängt, wenn sie über die grausame und gegen jegliches Recht verstoßende Behandlung in den Gefängnissen sprachen. Für diejenigen, die schon nach Art. 205.5 zu 20 Jahren oder lebenslänglicher Haft verurteilt wurden, waren die sieben Jahre nach 205.2 eine zusätzliche Unannehmlichkeit, die nicht sonderlich ins Gewicht fiel.
Dann begannen die Repressionen gegen Bachrom Chamroev, der als Mitglied des Menschenrechtszentrums Memorial und Anwalt die wegen Terrorismus angeklagten Männer verteidigte. Mehrfach wurde ihm mit Ermittlungen gegen ihn selbst gedroht. Chamroev blickt überhaupt auf eine lange Geschichte mit mindestens zwei Staaten zurück, die ihn durch Drohungen, Hausdurchsuchungen und andere Maßnahmen einzuschüchtern versuchten.
Als nächstes tauchte „Rechtfertigung von Terrorismus“ als zentraler Anklagepunkt im Verfahren gegen den baschkirischen Oppositionellen Ajrat Dil’muchametov auf. Er hatte erklärt, dass die Anhänger von Hizb-ut-Tahrir rechtswidrig verfolgt würden. Die Bewegung selbst kritisierte er und warnte davor, sich ihr anzuschließen. Doch das spielte für die Behörden keine Rolle, zusammen mit anderen Anklagepunkten brachte seine angebliche „Rechtfertigung von Terrorismus“ ihm im August 2020 neun Jahre Haft ein.
Es folgte der Prozess gegen Dar’ja Poljudova, eine linke Menschenrechtsaktivistin, die alles, nur keine Islamistin ist. Zur Last gelegt wurden ihr unter anderem ihre Mahnwachen für politisch verfolgte Krimtataren, die als Rechtfertigung von Terrorismus gewertet wurden. Insgesamt wurde sie zusätzlich zu einer laufenden sechsjährigen Haftstrafe zu weiteren neun Jahren verurteilt.
Auch beim Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verbot des Menschenrechtszentrums Memorial spielte „Rechtfertigung von Terrorismus“ eine Rolle.[1] Formal entfiel dieser Vorwurf im Laufe des Verfahrens und taucht in der Urteilsbegründung nicht mehr auf. Der Einschüchterungsversuch bleibt. Und schließlich spielte der Einsatz der Bürgerrechtsorganisation OVD-Info für die verfolgten Anhänger von Hizb-ut-Tahrir auch bei der Sperrung von deren Internetseite in Russland eine Rolle.
Am 24. Februar 2022 wurde Bachrom Chamroev festgenommen, es folgte ein Haftbefehl, zunächst nur wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“. Dass das in diesen Tagen kaum jemandem auffiel, versteht sich von selbst. Wer allerdings selbst schon aus Angst vor einer Verhaftung nach demselben Paragraphen auf gepackten Koffern saß, dem entging dieses Ereignis nicht. Erst recht nicht, nachdem am 4. März in Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Chamroev auch die Büroräume von Memorial, OVD-Info und Graždanskoe sodejstvie (Bürgersolidarität) durchsucht wurden.
Es ist kein Zufall, dass der FSB auf dieser neuen Stufe der Repressionen als erstes Opfer einen Menschen mit Migrationshintergrund aus muslimischem Umfeld ausgewählt hat. Vielmehr ist genau das ein bewährtes Muster: Für diese Leute, so das Kalkül, wird es keine Unterstützung aus der Gesellschaft geben. Und das Kalkül geht immer wieder auf. Ja, es stimmt: Im Jahr 2022 konnte man mit Solidarität gegen diesen Staat bereits kaum mehr etwas ausrichten. Aber das Prinzip, erst die Randständigen abzuholen, ist älter.
Natürlich verlegte sich die Untersuchungsbehörde sofort auf die Behauptung, Bachrom Chamroev sei selbst ein Anhänger von Hizb-ut-Tahrir. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Albtraum, als ihm im Herbst 2022 tatsächlich neben „Rechtfertigung von Terrorismus“ zusätzlich die „Leitung einer terroristischen Organisation“ zur Last gelegt wurde. Begründet wurde seine Leitungsfunktion so: „Er vertrat die Interessen der Anhänger einer Terrororganisation gegenüber Rechtsvollzugsbehörden und Gerichten, darunter dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.“ Außerdem habe er einen Bericht über politische Verfolgung in Tadschikistan und Usbekistan sowie Empfehlungsschreiben für Asylbewerber verfasst. Damit bei niemandem Zweifel aufkommen, wurde ein „Experte“ herangezogen, der „nachwies“, dass Chamroev ein politischer Führer und Prediger sei. Der Beleg: Im Jahr 2011 (sic!) habe er in einem Moskauer Hotel den Muslimen zum Ramadan gratuliert und erklärt, man müsse sich zusammenschließen und einen eigenen Staat aufbauen.
Übrigens bestreitet Bachrom Chamroev, dass er Mitglied bei Hizb-ut-Tahrir war. Das ist nicht banal. Es ist bei Hizb-ut-Tahrir nicht üblich, dass man seine Mitgliedschaft verleugnet. Der Staatsanwalt forderte 21 Jahre. Das Gericht hat ihn nicht zum Terroristenführer, sondern nur zum einfachen Terroristen erklärt und ihm 14 Jahre gegeben. Ich schäme mich, dass ich nur selten über seinen Fall schreibe. Viel seltener als es dieser heldenhafte Mensch, mein Kollege, verdient.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Redaktioneller Hinweis
Die Organisation Hizb-ut-Tahrir (Partei der Befreiung) ist eine transnationale, panislamische Bewegung. Sie wurde in den 1950er Jahren von dem palästinensischen Rechtsgelehrten Taqi ad-Din an-Nabhani in Jerusalem gegründet. Die Ideologie der Bewegung ist antisemitisch, antiwestlich, antidemokratisch und antisäkular. Sie verneint das Existenzrecht Israels. In Deutschland ist die Bewegung seit dem Jahr 2003 wegen Israelfeindlichkeit und antisemitischer Propaganda (Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung) verboten. Die Tätigkeit von Personen, die der transnationalen Bewegung nahestehen sowie von Tarnorganisationen wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Israelfeindlichkeit und Antisemitismus spielen zweifellos auch bei Personen eine Rolle, die in Russland der transnationalen Bewegung nahestehen. In welchem Ausmaß dies der Fall ist, für welche Personen aus welchen Regionen dies in besonderem oder geringerem Maße gilt, ist unbekannt. Fest steht, dass die Ideen der Bewegung in Russland Ende der 1990er Jahre vor allem durch Migranten aus Usbekistan Verbreitung erhielten, wo das autoritäre Regime ohne Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus rücksichtslos gegen muslimische politische Oppositionelle vorgeht. In Russland nutzt das Regime auf der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim den Vorwurf der „Mitgliedschaft“ in der verbotenen Organisation zur politischen Verfolgung der Krimtataren. Inwieweit es tatsächlich im Einzelfall eine ideologische Nähe der zu langen Haftstrafen verurteilten Menschen zu Hizb-ut-Tahrir gibt, ist unklar. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkennt derzeit 157 Menschen, darunter 95 Krimtataren, die wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung von Hizb-ut-Tahrir verurteilt wurden, als politische Gefangene an.
[1] Zur Verfolgung von Memorial siehe: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/themenschwerpunkt/fokus-memorial/