Wie ein Krebsgeschwür

Nikolay Mitrokhin

Weitere Geländegewinne der russländischen Okkupationstruppen

Die 126. Kriegswoche, 30.7.2024

Die Lage der ukrainischen Armee hat sich in der letzten Juliwoche 2024 an mehreren Frontabschnitten weiter verschlechtert. Insbesondere im Gebiet Donec’k ist die Situation äußerst kritisch. Beide Seiten setzen den Luftkrieg fort. In der Ukraine häufen sich Anschläge auf Armeefahrzeuge, in Russland geraten weitere ehemalige hochrangige Beamte des Verteidigungsministeriums ins Visier der Strafverfolgungsbehörden.

Im Norden und Nordwesten des Gebiets Charkiv versuchen die ukrainischen Truppen weiter, die Anfang Mai 2024 dort eingefallenen russländischen Okkupationstruppen zu vertreiben. Hatten sie deren Vormarsch zunächst stoppen können, so hat sich das Blatt seit Anfang Juli gewendet. Die ukrainische Gegenoffensive ist steckengeblieben, mittlerweile sind die russländischen Truppen bei Vovčansk, Hluboke und anderswo wieder zum Angriff übergegangen.

Am 29. Juli besuchte der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj einen Kommandopunkt in der Nähe von Vovčans’k – offiziell, um Soldaten der Spezialkräfte auszuzeichnen. Dies ist als schlechtes Zeichen zu werten. Immer wenn sich Zelens’kyj in den vergangenen zwei Jahren neben einer Stele an der Ausfallstraße einer Stadt im Osten des Landes fotografieren ließ, musste die ukrainische Armee diese Stadt in den darauffolgenden Wochen aufgeben. Lysyčans’k, Bachmut und Avdijivka sind die traurigen Beispiele. Ähnliche Anzeichen gibt es im Fall von Vovčans’k noch nicht. Aber die offenbar auf höchster Ebene angeordnete vollständige Vertreibung der Okkupanten aus dem Gebiet Charkiv ist trotz der prioritären Versorgung der dortigen Truppen mit Artilleriegranaten und der Heranführung von Reservekräften aus anderen Regionen, darunter erfahrene Drohnenkommandos, gescheitert. Die Vereitelung des Moskauer Plans zum Vormarsch auf Charkiv und Lyman war ein großer Erfolg für die Ukraine. Doch zu einer solchen Einschätzung kann der Präsident offenbar nicht kommen, solange die Okkupationstruppen nicht vollständig aus dem Gebiet zurückgedrängt sind.

Wirklich ernst ist die Lage aber bei Časiv Jar. Dort ist es der ukrainischen Armee nach ihrem Abzug aus der am östlichen Stadtrand gelegenen Siedlung „Kanal“ nicht gelungen, die Angreifer entlang des Kanals Sivers’kyj Donec’k–Donec’k aufzuhalten. Der Kanal fließt an einer Stelle unterirdisch – und genau dort haben die Angreifer Ende der letzten Juliwoche die ukrainischen Verteidigungslinien durchbrochen und sind zu den ersten mehrstöckigen Wohnhäusern vorgedrungen. Angesichts der Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre ist das Schicksal von Časiv Jar damit besiegelt. Kein einziges Mal ist es der ukrainischen Armee gelungen, die russländischen Sturmtrupps wieder aus den einmal von diesen eingenommenen Siedlungsblocks am Rand verschiedener Städte zu vertreiben. Auch wenn die Okkupationstruppen stets große Verluste erlitten und die jeweilige Stadt bei den Kämpfen vollständig zerstört wurde – endgültig aufhalten konnte die ukrainische Armee sie in keinem Fall.

Weiter südlich breitet sich der russländische Durchbruch bei Očeretine wie ein Krebsgeschwür weiter aus. Der Vormarsch in Richtung Westen auf die wichtige Straße von Pokrovs’k nach Kramator’sk ist nach der Eroberung von Novooleksandrivka zwar einstweilen zum Stehen gekommen. Doch stattdessen sind die Besatzungstruppen unter Umgehung ukrainischer Verteidigungsstellungen entlang des dort verlaufenden Bahndamms in südwestliche Richtung vorgestoßen und haben die Dörfer Vovče sowie Novoselivka Perša eingenommen. Dies gefährdet die ukrainische Hauptverteidigungslinie entlang des Flusses Vovča.

Die ukrainische Armee ist dort in einer äußerst schwierigen Lage. Die Frontlinie hat zahlreiche Ausbuchtungen und die Kämpfe sind sehr intensiv. Am 24. Juli hat die Ukraine einen der größten Angriffe der Besatzungstruppen mit mechanisierter Infanterie seit Oktober 2023 zurückgeschlagen. Russland hatte elf Panzer, 45 gepanzerte Fahrzeuge, das nur in kleiner Stückzahl vorhandene Panzerunterstützungsfahrzeug „Terminator“, 12 Motorräder und rund 200 Soldaten eingesetzt.

Sehr ungünstig entwickelt hat sich für die Ukraine auch die Situation in der südwestlich von Donec’k gelegenen Stadt Krasnohorivka, die russländische Truppen seit Januar einzunehmen versuchen. Offenbar hält sich die ukrainische Armee nur noch in Bereichen der Stadt mit Einfamilienhäusern, die Stadtviertel, in denen sich besser zur Verteidigung geeignete Industriezonen oder eine Wohnblockbebauung befinden, hat Russland bereits eingenommen.

Im Gebiet Zaporiżżja fanden in der 126. Kriegswoche keine größeren Kämpfe statt. Am Dnipro haben die russländischen Truppen auf einer der Inseln nördlich von Krynki einen Stützpunkt der ukrainischen Armee erobert, der über mehrere Monate für die Versorgung des Brückenkopfs am linken Ufer des Dnipro wichtig gewesen war.

Luftschläge

Die Ukraine hat in der 126. Kriegswoche mit drei Luftangriffen auf russländische Militärflugplätze für Aufmerksamkeit gesorgt. Ziel waren Standorte von Mittel- und Langstreckenbombern: die Basis in Ėngel’s im Gebiet Saratov, der Flugplatz Djegilevo bei Rjazan‘ und die Basis Olen’ja im Gebiet Murmansk. Letzterer liegt in einer Entfernung von 1800 Kilometern von ukrainischem Territorium. Dort wurde nach ukrainischen Angaben ein Flugzeug vom Typ TU22M3 getroffen. Die anderen Drohnen wurden abgefangen.

Mittlerweile hat sich auch herausgestellt, dass ein ukrainischer Angriff mit Seezielflugkörpern auf eine Eisenbahnfähre im Hafen von Kavkaz erfolgreich war. Das Schiff – offenbar das letzte diesen Typs, mit dem Russland Eisenbahnwaggons über die Straße von Kerč‘ auf die Krim übersetzen konnte – ist nach ukrainischen Angaben nicht mehr einsetzbar. Dem massiven Vergeltungsschlag vom 23. Juli auf drei Häfen im Gebiet Odessa nach zu urteilen, trifft dies zu.

Davon abgesehen setzt Russland seine nahezu täglichen Angriffe mit Raketen und Drohnen fort. Insbesondere Charkiv hat unter diesen zu leiden. Diese Attacken und ihre Folgen sind nun jedoch noch schlechter dokumentiert, da die Führung der ukrainischen Streitkräfte nach der Kritik der Parlamentsabgeordneten Mar’jana Bezuhla, die dieser geschönte Berichterstattung vorgeworfen hatte, fast gar keine Informationen mehr über russländische Luftangriffe veröffentlicht.

Vermeldet wurde aber, dass Russland am 24. Juli mit Raketen Industriegebiete in Charkiv und Lozova, der drittgrößten Stadt im Gebiet Charkiv angegriffen hat. Lozova ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, der insbesondere für die Truppenverlegung in den südlich gelegenen Donbass wichtig ist. In der folgenden Nacht griff die Ukraine Ziele in Kurst mit Drohnen und Russland Charkiv mit Raketen an.

In der Nacht auf den 26. Juli attackierte Russland mit Drohnen Energieinfrastruktur in den Gebieten Žytomir und Černihiv. In einzelnen Landkreisen des Gebiets Černihiv erhielten Industriekunden zeitweise keinen Strom. Am gleichen Tag erlitten zehn Personen bei einem russländischen Raketenangriff auf Chlichiv im Gebiet Sumy zehn Menschen Verletzungen, darunter sechs Kinder.

Nach einem Drohnenangriff auf ein Öllager im Gebiet Kursk am 28. Juli attackierte die Ukraine am gleichen Tag ein Militärgelände im von Russland besetzten Gebiet Luhans’k mit ATACMS-Raketen. Nach russländischen Angaben wurde ein ganzer Zug des 228. Motorschützenregiments der 90. Panzerdivision ausgeschaltet, der zur Ablösung von Soldaten an die Front bei Očeretine geschickt werden sollte. 19 Soldaten seien getötet worden, 71 verletzt.

In der darauffolgenden Nacht griff die Ukraine zahlreiche Ziele in den grenznahen russländischen Gebieten mit flugzeugähnlichen Drohen an. Fünf dieser Flugkörper wurden über dem Gebiet Brjansk abgefangen, mindestens 13 über dem Gebiet Kursk, zwei über dem Gebiet Orel. Im Gebiet Voronež gab es Schäden.

Saboteure in der Ukraine

Am 29. Juli wurden in Odessa sechs Personen zwischen 18 und 24 Jahren festgenommen, denen die ukrainischen Behörden vorwerfen, in den vorhergehenden Wochen 15 Armeefahrzeuge in Brand gesteckt zu haben. Der Fall ist nicht der einzige. In den großen ukrainischen Städten gehen immer wieder Militärfahrzeuge oder Autos von Mitarbeitern der Wehrämter oder auch Stromkästen an Bahngleisen in Flammen auf. Den veröffentlichten Fotos gefasster Täter nach zu urteilen handelt es sich bei diesen in aller Regel um junge Männer oder solche mittleren Alters. In den vergangenen drei Monaten wurde fast täglich ein solcher Anschlag gemeldet.

In Odessa wurden in den vergangenen zwei Monaten zwei Dutzend Personen wegen Spionage für Russland oder Sabotage verhaftet. Aber auch in anderen rechts des Dnipro gelegenen Städten und in Kiew kommt es zu solchen Verhaftungen, so etwa am 12. Juli in Charkiv (ein aus Odessa stammender Mann) und Rivne. Am 12. Juni wurde in Chmel’nyc’kyj – einer durchweg ukrainischsprachigen und überaus patriotisch gesinnten Stadt, in der ein Mitglied der Partei Svoboda den Bürgermeister stellt – ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung wegen Spionage für Russland verhaftet.

Offensichtlich haben die russländischen Dienste das Vorgehen ihrer ukrainischen Gegner kopiert und finden immer wieder via Internet Dumpfbacken, die sich mit dem Versprechen auf „leichtverdientes Geld“ zu solchen Taten bewegen lassen. In Russland hatte es zwischen Februar 2022 und Dezember 2023 nach Auskunft des Innenministeriums 220 Attacken oder Brandanschläge auf Wehrämter und andere Regierungsgebäude gegeben und 184 Fälle, bei denen Eisenbahnanlagen beschädigt wurden. Hinter diesen Zahlen verbergen sich natürlich Taten, die aus unterschiedlichen Motiven begangenen werden: manche von überzeugten Gegnern des Kriegs gegen die Ukraine, manche von Rentnern, die Telefonbetrügern auf den Leim gegangen sind, nicht wenige auch von angeheuerten Kriminellen, die keinerlei politisches Motiv haben.

Nun findet das Phänomen auch in der Ukraine Verbreitung. Der Einsatz ist bekannt: Die Strohmänner der Auftraggeber versprechen für die Zerstörung eines Stromkastens an einer Bahnanlage 80 000 Hryvnja (knapp 2000 Euro), die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden garantieren 8–10 Jahre Haft.

Säuberungen im Moskauer Verteidigungsministerium

In Russland wurde ein weiterer ehemaliger stellvertretender Verteidigungsminister verhaftet. Im Mai 2024 war nach der Versetzung des langjährigen Ministers Šojgu bereits Timur Ivanov in Gewahrsam gekommen worden. Nun hat es Dmitrij Bulgakov erwischt, der für die Lieferung minderwertigen Essens zu überhöhten Preisen an die Soldaten verantwortlich sein soll. Die meisten Militärblogger feiern seine Verhaftung und fordern, dass ihr weitere folgen sollen. Am 25. Juli wurde offenbar tatsächlich der Direktor des Bauunternehmens des Verteidigungsministeriums Andrej Belkov verhaftet, der sich bei der Beschaffung medizinischer Geräte durch überhöhte Preise bereichert habe.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.