Während Putin politisch eskaliert, behält die Ukraine militärisch die Initiative
Nico Lange, 30.9.2022
Im Nordosten des Donbass verliert Russland derzeit den strategisch wichtigen Ort Lyman (sh. Karte, 1). Die Ukraine hat dort mehrere tausend russländische Soldaten eingekreist. Der einzig verbliebene Nachschubweg dieser Truppen liegt mittlerweile in Reichweite ukrainischer Artillerie.
Offenbar gelingt es Russlands Armee nicht mehr, Verstärkung heranzuführen oder die Truppen zurückzuziehen. In Lyman zeichnet sich ein strategisch wichtiger Zwischenerfolg der Ukraine ab.
Dies eröffnet der Ukraine Möglichkeiten für weitere Gegenangriffe in Richtung Svjatove und Starobil's'k im Gebiet Luhans'k. Gelingt dies, sind die russischen Truppen noch mehr von den Bahnlinien und damit von Nachschub abgeschnitten.
Östlich von Kupjans'k (2) ist den Russen weiterhin keine Stabilisierung der Front am Ufer des Flusses Oskil gelungen. Ukrainische Truppen stoßen auch hier langsam aus dem Gebiet Charkiv in Richtung Gebiet Luhans'k vor.
Weiter südlich setzt Russland die Angriffe in Richtung Bachmut und der Straße Sivers'k-Bachmut fort (3). An diesem Frontabschnitt gelingt Russland jedoch seit Monaten im Donbass kein Erfolg gegen die sehr gut und tief ausgebauten ukrainischen Stellungen.
Im Gebiet Cherson (4) setzt die Ukraine am südwestlichen Ufer des Dnipro langsam, aber systematisch ihre Zermürbungstaktik gegen die dort befindlichen etwa 20 000 Mann starken russischen Truppen fort. Einige dieser Einheiten sind bereits in einer prekären Versorgungslage.
Nach Meldungen aus Russland befahl Putin persönlich den dortigen Generälen, in Cherson zu verbleiben und die Truppen am westlichen Ufer des Dnipro zu belassen. Das könnte zum Verlust von 20 000 Soldaten führen, die nicht rechtzeitig aus aussichtsloser Lage zurückgezogen werden.
Verstärkung durch Mobilmachung?
An allen Frontabschnitten wurden in den vergangenen Tagen frisch mobilisierte russische Truppen beobachtet, die offenbar ohne weitere Ausbildung direkt in die Ukraine verlegt wurden. Das „Auffüllen“ der Einheiten durch diese Truppen macht bisher keinen erkennbaren Unterschied zugunsten Russlands.
Mit der sehr wahrscheinlichen Rückeroberung von Lyman, dem ukrainischen Brückenkopf westlich des Oskil und der prekären Lage für bis zu 20 000 russische Soldaten am südwestlichen Ufer des Dnipro behält die Ukraine die Initiative und schafft Voraussetzungen für eine weitere Befreiung der Gebiete.
Der fortgesetzte russische Angriff auf Bachmut ist strategisch unbedeutend, vor allem wenn weiter nördlich Lyman und die Nachschubwege von den Ukrainern kontrolliert bzw. bedroht werden.
Damit die Ukraine die Rückeroberungen fortsetzen kann, braucht sie vor allem weiterhin 155mm-Artillerie-Geschütze mit viel Munition und Treibladungen sowie weitere Mehrfachraketenwerfer und passende Raketen. Für weitere Offensiven werden Kampfpanzer und Schützenpanzer gebraucht. Kettenfahrzeuge werden mit zunehmendem Regen und schlechteren Bodenbedingungen im Herbst noch wichtiger.
Die ukrainische Luftverteidigung verbessert sich graduell. Zwar kommen jetzt mit Verspätung schrittweise 8 NASAMS und 3 Iris-T SLM, allerdings werden weitere Systeme gebraucht. Bessere Luftverteidigung ist essentiell für die dringend benötigte Reparatur der Infrastruktur. Der Winter naht und der Wiederaufbau muss bereits beginnen und durch Luftverteidigung geschützt werden, während der Krieg anhält. Weiterhin gebraucht werden militärische und zivile Drohnen, ebenso wie Technik zur Drohnenabwehr.
Nach den gelungenen Offensiven behält die Ukraine die Initiative und ist im Begriff, weitere ukrainische Gebiete zu befreien. Wir sollten nach unseren letzten Lieferungen jetzt nicht zuschauen, sondern aktiv, schnell und unbürokratisch weiter liefern und damit dazu beitragen, dass sich der positive Trend fortsetzt.
Nico Lange (1975), Politikwissenschaftler, Publizist und Politikberater