Hroza, Gebiet Charkiv, nach dem russländischen Raketenangriff am 5.10.2023
Hroza, Gebiet Charkiv, nach dem russländischen Raketenangriff am 5.10.2023

Die Vertreibung der Schwarzmeer-Flotte

Nikolay Mitrokhin

Die 85. Kriegswoche, 10.10.2023

Die Ukraine hat Russland mit systematischen Angriffen dazu gezwungen, große Teile der Schwarzmeer-Flotte aus Sevastopol abzuziehen. Dies eröffnet der Ukraine neue Möglichkeiten im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meers. Am Boden sind hingegen die Aussichten auf einen ukrainischen Durchbruch im Jahr 2023 weiter gesunken. Im Luftkrieg macht sich der Munitionsmangel der ukrainischen Abwehrkräfte bemerkbar, bei Russlands unverminderten Angriffen sind insbesondere im Gebiet Charkiv sehr viele Zivilisten ums Leben gekommen.

Die Ukraine hat in der 85. Kriegswoche einen großen Erfolg erreicht. Wie sich seit längerem andeutete, hat Russland sich gezwungen gesehen, den Großteil seiner Kriegsschiffe aus den Hafenanlagen bei Sevastopol‘ abzuziehen. Unabhängige Militärbeobachter und halboffizielle russländische Kanäle bestätigen, dass der Kern der Flotte in die Häfen von Feodossija im Osten der Krim, vor allem aber nach Novorossijsk verlegt wurde: die in den Jahren 2016 und 2017 in Dienst gestellten Fregatten Admiral Ėssen und Admiral Makarov der Admiral-Grigorovič-Klasse (Projekt 11356), drei dieselgetriebene U-Boote, fünf große Landeschiffe und einige kleinere Raketenboote. Russland hat bereits mit dem De-Facto-Regime in Abchasien einen Vertrag über die Errichtung eines neuen Flottenstützpunkts nahe des Küstenorts Otschamtschire unterschrieben. Dort wären die Schiffe definitiv außerhalb der Reichweite der französischen und britischen Raketen, über die die Ukraine verfügt, sowie der Seedrohnen aus eigener Produktion.

Der Rückzug der Flotte bedeutet, dass die seegestützten Kalibr-Raketen deutlich größere Distanzen überwinden müssten, wenn sie weiter für Angriffe auf die Ukraine eingesetzt werden. Insbesondere mit dieser Waffe hatte Russlands Schwarzmeer-Flotte bislang eine große Bedrohung für die Ukraine dargestellt. Auch eine unerwartete Anlandung russländischer Soldaten an der ukrainischen Schwarzmeer-Küste ist nun ausgeschlossen. Zudem hat Russland nun kaum noch die Möglichkeit, Schiffe zu kontrollieren, die aus westlicher Richtung kommend auf einem küstennahen Kurs ukrainische Häfen ansteuern. Und die Luftverteidigung von Sevastopol‘ wird geschwächt, da nun die Radaranlagen, Raketen und mehrläufigen Flugabwehr-Maschinengewehre der abgezogenen Schiffe fehlen.

Schließlich macht es die Vertreibung der Flotte ukrainischen Sabotage-Trupps leichter, aus dem Süden des Gebiets Odessa über den nordwestlichen Teil des Schwarzen Meers an die Westküste der Krim zu gelangen. Am 4. Oktober schaffte es erstmals eine größere Gruppe von Männern des ukrainischen Militärgeheimdiensts, mit vier Wasserscootern und einem Boot auf der Halbinsel Tarchankut zu landen, eine ukrainische Flagge zu entrollen und „Die Krim wird ukrainisch oder menschenleer“ zu rufen, bevor herbeieilende Grenzschutztruppen sie zum Rückzug zwangen. Ob es beim symbolischen Nutzen solcher Aktionen bleibt oder ob sich daraus mehr entwickeln kann, ist bislang offen.

Die Lage an der Front

Am Boden haben sich die Aussichten für die Ukraine hingegen weiter verschlechtert. Im Gebiet Zaporižžja, wo die ukrainische Armee ihren Hauptstoß gegen die Besatzer führt, hat sie auch in der 85. Kriegswoche keine nennenswerten Fortschritte erringen können. Möglicherweise war sie sogar an einigen Stellen gezwungen, auf Verteidigung der in den letzten Wochen errungenen kleinen Geländegewinne umzustellen. Besonders südlich von Velyka Novosilka und bei Vremivka, wo die ukrainischen Truppen zuvor eine Frontausbuchtung begradigen konnten, könnte dies der Fall sein.

Südlich von Bachmut waren während der gesamten Woche bei Kliščijivka heftige Kämpfe im Gange. Nach ukrainischen Angaben gelang es der Armee dort, 200 Meter vorzurücken und an einigen Stellen einen Bahndamm einzunehmen, den zuvor die russländischen Truppen gehalten hatten.

Am nördlichsten Frontabschnitt hat Russlands 25. Armee bei Kupjans’k den Angriff auf das nördlich der Stadt gelegene Dorf Sin’kovka wieder aufgenommen. Bislang gelang es ihr lediglich, einige ukrainische Stellungen im Wald einzunehmen.

Russländische Militärblogger erwarten weiterhin eine Offensive der Ukraine ganz im Süden der Front, wo die Ukraine Landetruppen auf der Kinburg-Halbinsel zusammengezogen haben soll. Ebenso warnen sie davor, die Ukraine könnte bei Nova Kachovka Truppen über den Dnipro übersetzen.

Solche kleinen Aktionen sind in der Tat möglich. Ein großer Vorstoß wird aber immer unwahrscheinlicher. Die ersten Herbstregen haben eingesetzt, der aufgeweichte Boden macht eine größere Offensive von Woche zu Woche schwieriger. Auch werden in den kommenden 14 Tagen im Kriegsgebiet die Bäume ihre letzten Blätter verlieren, was verdeckte Offensivoperationen zusätzlich erschwert.

Luftkrieg

Russland greift weiter Nacht für Nacht mit rund 25 Shahed-Drohnen Infrastruktur und Militärobjekte in der Ukraine an. Ziele waren in der 85. Kriegswoche vor allem Industriehäfen an der Donau, Fährhäfen und LKW-Standplätze u.a. in den Gebieten Čerkasy und Vinnycja. Genauere Informationen hält die Ukraine geheim. Schwere Angriffe gab es auf das Gebiet Charkiv, das Russland systematisch mit Iskander- und S-300-Raketen beschoss. Da diese im ballistischen Flug eingesetzt werden, ist es praktisch unmöglich, die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen. Bei einem Angriff auf ein Café im Dorf Hroza im Kreis Kupjans’k, wo sich nach der Umbettung eines Einwohners – nach russländischen Angaben ein Soldat aus dem Bataillon Ajdar – eine Trauergemeinde versammelt hatte, starben 52 Menschen, jeder fünfte Bewohner des Dorfs. Niemals zuvor in diesem Krieg hat Russland mit einem einzelnen Angriff so viele Zivilsten umgebracht wie mit dieser Attacke.

Im gesamten Landkreis Kupjans’k fliegt Russlands Luftwaffe zahlreiche Einsätze. In einer Woche wurden mindestens fünf Übergänge über den Oskol zerstört, was sich negativ auf die Versorgung der ukrainischen Truppen am Ostufer des Flusses auswirken wird. Weiter südlich beschießt Russland das rechte Ufer des Dnipro massiv. In den dort gelegenen Dörfern sterben fast täglich Zivilisten. In Beryslav, 70 Kilometer nordöstlich von Cherson, wurden bei schweren Bombardements ein Krankenhaus und eine Reihe mehrstöckiger Häuser beschädigt.

Die Ukraine hat den Beschuss der Krim stark reduziert, Russlands Luftabwehr fängt dort jedoch noch immer 1-2 Raketen pro Tag ab. Die Angriffe auf Ziele in Zentralrussland hat Kiew nahezu ganz eingestellt. Stattdessen greift die ukrainische Armee intensiv Umspannstationen in den grenznahen russländischen Gebieten Belgorod, Kursk und Brjansk mit Drohnen an. In einigen Landkreisen fiel dort zeitweise der Strom aus.

Am 3. Oktober attackierten ukrainische Kampfdrohnen im Gebiet Smolensk eine Fabrik, in der Raketen des Typs Ch-59 hergestellt werden. Der Kiewer Militärgeheimdienst spricht von 3-4 Drohnen, die ins Ziel geführt worden seien und beträchtlichen Schaden angerichtet hätten, andere Quellen von nur einer. So oder so ist ein solcher Angriff auf ein Rüstungsunternehmen bislang eine Seltenheit, da die Ukraine mit ihren Drohnen, von denen viele nur eine geringe Sprengladung transportieren können, meist symbolische Ziele oder Raffinerien attackiert hat.

Russländische Militärblogger liefern seit mehreren Wochen Hinweise darauf, dass Aufklärungsdrohnen tief in den ukrainischen Luftraum eindringen und manchmal Bilder aus Gegenden liefern, die bis zu 50 Kilometer hinter der Front liegen. Dies ist neu und ein Hinweis darauf, dass die russländische Rüstungsindustrie – oder die der mit Russland verbündeten Staaten – die Produktion dieser Fluggeräte ausweitet und möglicherweise auch neue Typen entwickelt hat. Es zeigt aber auch, dass die ukrainische Flugabwehr große Probleme hat. Es mangelt ihr an Abfangraketen, so dass sie die vorhandenen allenfalls sehr selten zum Abschuss kleiner Objekte einsetzt. Möglicherweise ist sie auch nicht mehr in der Lage, die gesamte Front abzudecken. Die westlichen Partner der Ukraine versuchen auszuhelfen, Deutschland und Spanien haben die Bereitstellung weiterer System angekündigt. Der Bedarf an Luftabwehrsystemen und der dazugehörigen Munition ist jedoch so groß, dass der Mangel erst dann dauerhaft beseitigt sein wird, wenn die Ukraine eine eigene Produktion aufgebaut hat.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.