Passiver Widerstand
Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Haltung der Gesellschaft
Nikolai Mitrokhin, 5.9.2022
Es gilt als ausgemachte Sache: Russlands Gesellschaft heißt den Krieg ihrer Armee gegen die Ukraine gut. Meinungsumfragen legen dies seit Monaten nahe. Doch deren Ergebnisse haben angesichts des extrem repressiven Klimas keine Aussagekraft. Ein genauerer Blick zeigt: Die meisten Menschen entziehen sich der erwarteten öffentlichen Zurschaustellung von Siegessymbolik, von einer gesellschaftlichen Mobilisierung wie nach der Annexion der Krim kann keine Rede sein. Besonders deutlich zeigt sich dies daran, dass die Armee große Schwierigkeiten hat, neue Soldaten unter Vertrag zu bekommen. Und das Regime schreckt vor einem Einsatz von Wehrpflichtigen und einer allgemeinen Mobilmachung zurück. Diese bewusste Passivität der russländischen Gesellschaft ist von großer Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine.
Die Europäische Union hat wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine die erleichterte Visavergabe für Staatsbürger Russlands ausgesetzt. Mehrere Staaten forderte eine komplette Einstellung. Deutschland wies diese Forderung zwar zurück, verlangt aber für die Vergabe humanitärer Visa einen Nachweis, dass der Antragsteller sich öffentlich gegen den Krieg gestellt hat und daher konkret von Verfolgung bedroht ist.[1] Vor diesem Hintergrund hatte der emigrierte Oppositionspolitiker Garri Kasparov schon Ende Mai gefordert, eine Art Zertifikat für Kriegsgegner zu schaffen, einen „Guter-Russe-Pass“.[2]
Hinter der Debatte steht die Frage, welche Schuld die Bürger Russlands an dem Krieg tragen, den ihr Land seit dem 24. Februar 2022 über die Ukraine bringt; in welchem Maße die Bürger eines Staats, der „Terrorismus fördert“ oder selbst eine „terroristische Diktatur“ oder ein „faschistischer Staat" ist, verantwortlich für den Krieg sind, mit dem dieser Staat ein Nachbarland überzieht. Für einen Krieg, der in diesem Land nicht Krieg genannt werden darf.
Wenig stichhaltig ist das Argument, die Bürger Russlands hätten die politische Führung gewählt, die diesen Krieg vorbereitet und vom Zaun gebrochen hat. In Russland gab es zwar Wahlen. Doch diese wurden zu sehr vielen Zwecken abgehalten,[3] nur eine Funktion hatten sie gewiss nicht: einen Macht- oder Politikwechsels zu ermöglichen. Davon abgesehen hat die Gruppe derjenigen, die ihre Stimme für das Regime abgaben, ein recht klar umrissenes soziologisches Profil: es sind ältere Menschen, Menschen mit geringem Einkommen, Menschen mit geringer formaler Bildung und Menschen aus der Provinz. Solche Menschen stellen nur äußerst selten einen Antrag auf Erteilung eines Schengenvisums. Dies tun junge Menschen, gut gebildete Menschen, Menschen aus den Großstädten, kurzum: eine Gruppe, in der das Regime wenig Unterstützer findet.
Selbstverständlich stellt sich gleichwohl auch für jene Bürger Russlands, die nicht durch die Unterstützung Putins in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu diesem Krieg beigetragen haben, die Frage, in welchem Maße sie heute an dem Krieg beteiligt sind, wie passiv sie sich verhalten und ob und wenn ja in welchen Formen sie Widerstand leisten.
Bürger oder Untertanen?
Die Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts waren von Massenmobilisierung, jubelnden patriotischen Menschenmassen zu Kriegsbeginn und breiter Unterstützung des Kriegs durch Massenorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften, oder Jugend-, Religions- und Frauenorganisationen gekennzeichnet. An dieser Zeit orientiert sich die Vorstellung, dass in autoritären und erst recht in totalitären "faschistischen" Gesellschaften die Bürger zwangsläufig in die Politik und insbesondere in einen Krieg solchen Ausmaßes involviert sind.
In nahezu allen Staaten der nördlichen Hemisphäre wurden jedoch in den 1980er und 1990er Jahren die Wehrpflicht als Instrument der Massenintegration aufgehoben. Sie galt als zu teuer und ineffizient. In Russland gilt zwar weiter eine Wehrpflicht. Doch faktisch ist seit den Erfahrungen der beiden Tschetschenienkriege auch die russländische Armee eine Berufsarmee. Der Einsatz von Wehrpflichtigen in Kampfzonen ist gesetzlich verboten.
Alle Militäroperationen, die Putin und sein Gefolge bislang geplant haben, waren auf eine Berufsarmee zugeschnitten, der weniger als ein Prozent der Gesellschaft angehört: der Einsatz in Georgien, die Krim-Annexion, der Krieg im Donbass, der Syrien-Einsatz, die Einsätze in Afrika. Und nicht umsonst darf auch der Krieg gegen die Ukraine unter Androhung langer Gefängnisstrafen nicht als Krieg bezeichnet werden. Auch er soll wie eine Spezialoperation geführt werden. Tatsächlich sind bislang nach verschiedenen Schätzungen nicht mehr als 160 000 Soldaten unmittelbar in den Krieg mit der Ukraine verwickelt. Putin hat zwar eine Aufstockung um 100 000 Soldaten angekündigt. Eine Generalmobilmachung, wie sie von Scharfmachern gefordert wird, lehnt das Regime aber weiterhin ab. Zwar gibt es eine Reihe offizieller Organisationen, die demonstrieren sollen, dass „das Volk“ den Krieg unterstützt, etwa die Allgemeine Volksfront (Obščenarodnyj front, ONF) oder die Kinderorganisation Jugendarmee (Junaja armija). Doch dies sind reine Simulationen, auch hieran beteiligt sich nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung.
In der sozialwissenschaftlichen Osteuropaforschung herrscht seit vielen Jahrzehnten Konsens, dass die tatsächliche Macht in Russland bei den „siloviki“ liegt, den Vertretern der Gewaltapparate, insbesondere bei amtierenden und ehemaligen hochrangigen Mitarbeitern des Inlandsgeheimdiensts FSB. Bereits vor dem Februar 2022 galt, dass diese kleine Gruppe viel mächtiger ist, als die Interessenvertretungen des Agrarsektors, der Bergbau- und Metallindustrie, des militärisch-industriellen Komplexes oder des Finanzsektors. Seit dem Angriff auf die Ukraine haben die Vertreter der Wirtschaft nahezu allen Einfluss auf die Politik verloren, insbesondere auf Entscheidungen in Zusammenhang mit dem Krieg. Der Krieg widerspricht den Interessen der meisten russländischen Unternehmen, sie leiden unter den Sanktionen. So hat der Einmarsch in die Ukraine etwa eine sich rasch entwickelnde hochprofitable Automobilindustrie und mit ihr Zehntausende Arbeitsplätze vernichtet.
In Russland ist die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht durch eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft abgelöst worden, sondern durch eine neofeudale Gesellschaft. Für Politik sind alleine der Zar und sein Hof zuständig. Krieg wird von Söldnertruppen des Zaren und seiner Vasallen geführt, die im Bedarfsfall untergeordnete „Volksmilizen“ aus bestimmten Regionen in ihre Dienste nehmen. Die normalen Untertanen des Zaren haben zwei Pflichten: Steuern zahlen und gelegentlich bestimmte Sonderaufgaben erfüllen. Organisieren sie Protest, reagiert der Zar mit unverhältnismäßig harten, exemplarischen Strafen. Welche Aussicht auf Erfolg hat es, wenn diese Untertanen sich auflehnen und im Kampf gegen den Gewaltapparat nicht einmal mit Spaten und Harken ausgerüstet sind? Die Unterdrückung der Proteste im Winter 2011/2012 und die anschließende Repressionswelle hat es vorgeführt, ebenso die Niederschlagung der Proteste gegen die Verhaftung von Aleksej Naval’nyj im Januar 2021.
Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts haben gezeigt, dass nicht nur in Russland, sondern weltweit, friedliche Revolutionen eine absolute Ausnahme sind. Nicht umsonst wird das Jahr 1989 als annus mirabilis bezeichnet. Und die Situation in der Ukraine im Winter 2013/2014 war eine sehr spezifische. In Venezuela, Kuba, Nicaragua, Belarus, Kasachstan und der Türkei wurden große Protestbewegungen niedergeknüppelt. In Syrien ist das Regime aus einem Bürgerkrieg mit 500 000 Toten als Sieger hervorgegangen. Dies zeigt, dass geschlossene und selbstbewusste autoritäre Regime, die sich auf die Unterstützung der Gewaltapparate stützen können, sogar große Protestbewegungen mit regionaler Machtbasis niederschlagen können. Nicht zufällig ist einer der engsten Partner Moskaus das Regime im Iran. Dort fanden in der jüngeren Geschichte mindestens alle zehn Jahre Massenproteste der städtischen Mittelschicht und ethnischer Minderheiten statt. Sie alle hat das ideologisch geschlossene Regime mit Hilfe relativ kleiner, aber sehr entschlossener Gewaltapparate und der Unterstützung eines ultrakonservativen Teils der Bevölkerung niedergeschlagen.
Die Majdan-Bewegungen in der Ukraine im Jahr 2004 sowie im Winter 2013-2014 waren vor allem deswegen erfolgreich, weil das Land zu dieser Zeit noch sehr stark in Ost und West gespalten war. Die Himmlische Hundertschaft, jene über 100 Menschen, die auf dem Majdan im Jahr 2014 ihr Leben gelassen haben, stammten zum allergrößten Teil aus dem westlich des Dnepr gelegenen Teil der Ukraine. Nur sehr wenige kamen aus dem Süden und Osten des Landes. Vor großer Bedeutung war zudem, dass die Elite des Ostens selbst gespalten war. Die Gewaltapparate waren daher unsicher, die Armee neutral, was die Voraussetzung dafür schuf, dass die Protestbewegung bei den Auseinandersetzungen auf dem Kiewer Majdan der Polizeigewalt standhalten konnte.
In Russland fanden die Revolutionen der Jahre 1905 und 1917 sowie der Neubeginn nach dem gescheiterten Putsch im August 1991 nach verlorenen Kriegen inmitten einer tiefen wirtschaftlichen Krise statt. Stets konnte das Regime nur deswegen erschüttert oder gestürzt werden – bzw. 1991 eine Rückkehr der Hardliner verhindert ‑, weil die gesellschaftliche Bewegung über gut entwickelte Organisationsstrukturen verfügte und die Machtapparate gespalten waren, so dass mindestens Teile der Armee und der Sicherheitsorgane sich neutral verhielten oder auf ihrer Seite standen. Stellten sich die Gewaltapparate auf die Seite des herrschenden Regimes, wurde die Revolution niedergeschlagen, so etwa im Jahr 1905.
Widerstand ohne Protest
Aus all den genannten Gründen ist es wichtig, nicht nur nach offenem Protest zu suchen, sondern auch nach anderen Formen, in denen die Bürger eines repressiven Staats ihr Verhältnis zu dessen Politik ausdrücken.
In aller Regel kommen hier Meinungsumfragen ins Spiel. Doch welche Aussagekraft haben die Antworten, die Menschen in einer Militärdiktatur Soziologen auf die Frage geben, ob sie den Krieg befürworten oder gutheißen? Menschen, die aus dem Fernsehen genau wissen, was das Regime hören möchte und den Soziologen oft misstrauen, sie sogar für Spitzel der Behörden halten? Solche Umfragen sind nahezu wertlos. Ihre realen Interessen und Ansichten bringen die Menschen auf ganz anderen Wegen zum Ausdruck.
Erhellend ist der Vergleich mit dem Jahr 2014. Damals hatten die Menschen in Russland sich zu zwei Formen der Aggression gegen die Ukraine eine Meinung zu bilden: zur offenen Besatzung und Annexion der Krim sowie zu dem „seltsamen“ Krieg im Donbass. Die „Sonderoperation" auf der Krim wurde von einer großen Mehrheit mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Sie entsprach dem Gerechtigkeitsgefühl: „Wir haben uns zurückgeholt, was uns abgeluchst worden ist“. Auch forderte sie nur sehr wenige Opfer. Schließlich wurde sie, was von großer Bedeutung ist, von der Mehrheit der Menschen auf der Krim gutgeheißen. Protest erhob sich überwiegend in den Reihen der Krimtataren, einer stigmatisierten ethnischen Gruppe. Schließlich ermöglichte die Annexion der Krim auch endlich wieder visafreien Urlaub auf der „heimatlichen“ Ferienhalbinsel. Nicht einmal einen Preis musste man offenbar dafür bezahlen. Die westlichen Sanktionen fielen kaum ins Gewicht, der Lebensstandard sank nicht, es verschwanden keine Waren aus den Geschäften. Die Staatsausgaben für die Armee blieben unsichtbar. Putin gelang es, sein Ansehen in der Bevölkerung deutlich zu steigern, es bildete sich der sogenannte „Post-Krim-Konsens“, der rund fünf Jahre hielt.
Anders verhielt es sich mit dem blutigen und langanhaltenden Krieg im Donbass. Auf diesen blickten die Menschen in Russland mit wesentlich größerer Zurückhaltung. Der Krieg verlangte ihnen zwar keine größeren Opfer ab, aber auf breitere Zustimmung stießen das Blutvergießen und die Zerstörungen nie. Der Krieg blieb eine Sache der Anhänger des „russischen Donbass“. Diese Bewegung hatte zu Beginn des Kriegs ausreichend Unterstützer, um in vielen Städten Russlands auf zentralen Plätzen „humanitäre Hilfe“ ‑ Geld und Kleidung für die „Freiwilligen“ ‑ zu sammeln und neue Kämpfer zu rekrutieren. Gleichwohl war auch diese Bewegung nicht allzu groß. Zu den Kundgebungen für einen „Russischen Donbass“ kamen in Moskau und Petersburg nie mehr als einige Tausend Menschen – deutlich weniger als zu den Veranstaltungen der Regimegegner. In den acht Jahren zwischen 2014 und 2022 reisten rund 50 000 russländische Staatsbürger als „Freiwillige“ in den Donbass, davon sind heute 35 000 Mitglied des Bunds der Donbass-Veteranen von Aleksandr Borodaj. Dies entspricht ungefähr der Größe der russländischen Skinhead-Bewegung auf ihrem Höhepunkt Mitte der 2000er Jahre. Die Zahl der Angestellten jedes einzelnen der zahlreichen staatlichen Gewaltapparate – mit Ausnahme des Wachdiensts des Präsidenten – liegt um ein Vielfaches höher, ebenso die Zahl der Veteranen aller Teilstreitkräfte der russländischen Armee.
Der von Putin und seinem engsten Kreis ausgeheckte Krieg gegen die Ukraine kam für die Bevölkerung völlig überraschend. Es folgten keine Kundgebungen von Befürwortern des Kriegs, sondern Proteste. In den ersten zwei Wochen nach Beginn des Angriffs wurden rund 13 500 Menschen wegen Teilnahme an Protestaktionen festgenommen.[4] Das Regime führte drakonische Strafen für die „Verunglimpfung der Armee“ ein. Eine solche ist, gerichtlich bestätigt, gegeben, wenn eine Person alleine ein Plakat mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ hochhält, einen Zettel an ihrer Kleidung befestigt, auf dem die Buchstaben dieser beiden Worte durch leere Kästchen angedeutet sind, oder auf dem „Spezialoperation“ steht, das offizielle Wort für den Krieg, jedoch in Anführungszeichen. Mittlerweile sind 230 Strafverfahren eröffnet. Der Abgeordnete eines Moskauer Stadtbezirksparlaments Aleksej Gorinov wurde Anfang Juni wegen „öffentlicher Verbreitung nachweislich falscher Informationen über die russländischen Streitkräfte“ zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt. Er hatte den Krieg „Krieg“ genannt.[5]
Gleichzeitig versuchte das Regime umgehend, Symbole für die Unterstützung der Aggression einzuführen. Die staatliche Propaganda griff die Zeichen Z und V auf, mit denen einige Einheiten der Invasionsarmee ihre Fahrzeuge kennzeichneten. Anschließend begannen verschiedene Behörden, für die Verbreitung dieser Symbole zu sorgen, insbesondere in Schulen und Kindergärten. Besonders engagierten sich auch die „patriotischen“ Organisationen, vor allem die Veteranenklubs. Der Erfolg ist gering. Ein Großteil der Menschen weigert sich, diese Symbole anzunehmen. Um dies zu erkennen, genügt es, zum Vergleich auf die gezielte Einführung des sogenannten Georgsbands im Jahr 2014 schauen.[6] Millionen Menschen hefteten damals das orange-schwarze Bändchen an ihre Kleidung oder befestigten es an ihrem Auto. Nichts dergleichen im Jahr 2022. Jenseits von Moskau und Sankt Petersburg tragen zwar ab und an Menschen ein Z oder ein V an ihrer Kleidung oder haben die Symbole auf ihr privates Auto geklebt. Dass dergleichen auch in den beiden großen Zentren zu sehen wäre, wird so gut wie nie berichtet. Sehr viele Meldungen gibt es hingegen über eingeschlagene Scheiben, zerstochene Reifen oder aufgrund von Brandstiftung ausgebrannte Karosserien bei entsprechend markierten Autos.[7]
Ähnlich verhält es sich mit verbalen Äußerungen. Die große Masse schweigt, und es stellt sich die Frage, wie dieses Schweigen zu bewerten ist. Einen Anhaltspunkt gibt der Blick auf die Stars der Massenkultur. Russlands populärste Schauspielerin Čulpan Chamatova hat das Land verlassen und beteiligt sich in Lettland an Demonstrationen gegen den Krieg; der „König“ des russischen Rock Jurij Ševčuk wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er bei einem Konzert erklärt hatte: „Heimat – das bedeutet nicht, dass man ständig dem Präsidenten in den Arsch kriecht.“ Auf der anderen Seite steht eine Reihe ehemaliger Rockstars, die seit 15 Jahren der Präsidialadministration zu Diensten stehen. Einige von ihnen gaben seit 2015 immer wieder Konzerte im Donbass[8] und haben im Juni 2022 unter der Leitung von Garik Sukačev ein gemeinsames Video für ein Lied mit dem vielsagenden Titel „Ich bleibe“ aufgenommen.[9]
Die große Mehrheit der Künstler hingegen schweigt. In der Ukraine wird von allen „Stars“ ukrainischer Herkunft, ob sie sich in der Ukraine aufhalten oder seit Jahren im Westen oder in Russland leben, verlangt, dass sie sich eindeutig öffentlich positionieren. Wer dies nicht tut, wird quasi als Verräter gesehen, ebenso Russen, die schweigen. In Russland herrscht der gleiche Erwartungsdruck mit umgekehrtem Vorzeichen. Der Schriftsteller Zachar Prilepin, der in Tschetschenien gekämpft hat und nach 2017 im Donbass ein Bataillon der von Russland getragenen Separatistenmilizen befehligte, hat im August 2022 lange Listen veröffentlicht, in denen Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Filmkritiker, Verleger und Journalisten gebrandmarkt werden, die Russlands Überfall auf die Ukraine verurteilen oder "schweigen". Vor diesem Hintergrund nimmt sich das Schweigen nicht als Unterstützung des Kreml sondernd als verweigerte Zustimmung aus.
Das Regime selbst unternahm zwar im April und Mai den Versuch, mit einigen Konzerten Unterstützer für die „Spezialoperation“ zu mobilisieren.[10] Die Zahl der Schweigenden hat sich allerdings als so groß herausgestellt, dass die Behörden dazu übergegangen sind, nur noch die „Befürworter“ zu unterstützen und die Gegner zu verfolgen.[11] Wer schweigt, entzieht sich also zumindest dem Versuch des Regimes, sich für die Propaganda instrumentalisieren zu lassen.
Ein anderes Bild als die Meinungsumfragen vermittelt auch der Blick auf die Finanzierung des Kriegs durch Crowdfunding. Zwar gibt es in Russland mehrere Dutzend Initiativen, die Geld für Ausrüstung, Kleidung oder Verbandsmaterial sammeln, die den Soldaten an der Front zugutekommen sollen. Doch die Zahl der Initiativen und der Umfang der auf diese Weise gesammelten Mittel ist unvergleichlich geringer als dies in der Ukraine der Fall ist. Auf eine kleine mit Spenden erworbene Beobachtungsdrohne für die russländische Armee kommen vielleicht 30 solcher „Volksdrohnen“ für die ukrainischen Truppen. Von Sammlungen für große Bayraktar-Kampfdrohnen kann in Russland schon gar keine Rede sein.
Rekrutierungsprobleme
Wichtiger noch ist der „passive Widerstand“ jener, die nicht nur als Claqeure in den Krieg einbezogen werden sollen, sondern als Soldaten. Die Werber der russländischen Armee haben große Probleme, neue Zeitsoldaten zu rekrutieren. Viele, deren Vertrag ausgelaufen ist, kehren der Armee den Rücken, sei es nach einem Einsatz an der Front, sei es, weil ihnen ein solcher bevorsteht. Soldaten, die sich bereits an der Front befinden und sich weigern zu kämpfen, werden in Brjanka im Gebiet Luhans’k in einem speziellen Konzentrationslager inhaftiert, wahrscheinlich befindet es sich auf demselben Gelände, auf dem die berüchtigte „Brjanka SSSR“, eine hinter der Front operierende inoffizielle Militärpolizeieinheit der „Volksrepublik Lugansk“, eine Mord- und Folterstätte betrieb.[12] Hinlänglich bekannt ist auch, dass Soldaten der russländischen Armee sich selbst schwere Verletzungen zufügen oder sich gar verstümmeln, um einem Einsatz an der Front zu entgehen.[13]
Kaum beachtet wurde angesichts all der Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, dass diese Anfang März einen klaren Erfolg zu verzeichnen hatte. Im Widerspruch zum geltenden Gesetz waren zu Beginn des Einmarsches Wehrpflichtige an der Front eingesetzt worden. Am 4. März brachte die Senatorin Ljudmila Narusova aus der Republik Tuva dies auf einer Sitzung des Föderationsrates zur Sprache.[14] Narusovas Erklärung war Teil einer Kampagne zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter die Soldatenmütter von St. Petersburg.[15] Seitdem wurde viel kritisiert, dass die Soldatenmütter sich zu sehr zurückhalten würden, sich nicht laut genug gegen den Krieg stellen würden.[16] Übersehen wird dabei, dass das Regime sie ernst nimmt. Putin reagierte bereits am 9. März und forderte, dass die Staatsanwaltschaft die den gesetzeswidrigen Einsatz von Wehrpflichtigen untersucht.[17] Auch wenn diese Untersuchungen im Sande verlaufen, sind doch allem Anschein nach seitdem keine Wehrpflichtigen mehr an die Front geschickt worden. Militärisch ist dies von großer Bedeutung, denn der Armee fehlt so ein riesiges Kontingent an Soldaten, die ohne jegliche Erfahrung und rechtlichen Schutz sind, so dass sie beliebig verheizt werden können.
Welche Probleme Russlands Armee bei der Rekrutierung neuer Soldaten hat, zeigt sich daran, dass sie einem immer breiteren Personenkreis immer höhere Soldversprechungen macht, um nach den enormen Verlusten und der Verweigerungswelle unter den Zeitsoldaten mit abgelaufenem Vertrag neue Freiwillige zu gewinnen. In den meisten Fällen ist die Anwerbung ausgelagert: Nicht die reguläre Armee sucht Zeitsoldaten, sondern Privatarmeen wie die „Gruppe Wagner“ werben Söldner an. Deren Werber suchen unter den Angestellten privater Unternehmen, sogar beim Wachpersonal von Ölfirmen. Sie versuchen in Untersuchungsgefängnissen und Straflagern mit dem Versprechen auf Hafterleichterung Freiwillige zu gewinnen. Sogar über die Stromrechnung werden Interessenten gesucht. Der Putin-Vertraute und Finanzier der Gruppe Wagner Evgenij Prigožin fuhr persönlich in mehrere Gefängnisse, um neue Söldner zu rekrutieren. Dass es Probleme bei der Mobilisierung gibt, zeigt auch die Verlagerung der Rekrutierung in die Regionen. Die Verwaltungen der Republiken und anderer Gebietseinheiten sind dazu angehalten, eigene Bataillons zu formieren, die patriotische Namen erhalten und in das System der sogenannten Kampfreserve (Boevoj Armejskij rezerv strany, BARS), eingegliedert werden.[18] Auch bei dieser Rekrutierung gibt es Schwierigkeiten, die Zahl der Freiwilligen ist gering, und oft sind sie nicht mehr die Jüngsten.
In den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk wird regelrecht Jagd auf Männer gemacht, um sie in die Armee zu zwingen. In vielen Betrieben steht die Arbeit still, weil die männliche Belegschaft an die Front geschickt wurde. Mittlerweile lauern die Häscher an Hauseingängen, auf Märkten oder vor Kindergärten auf Männer, die ihre Wohnung nur noch verlassen, wenn sie keine andere Wahl haben.
Doch trotz all dieser Bemühungen mangelt es Russlands Armee an Soldaten, um auch nur das Minimalziel Moskaus, eine Eroberung des gesamten Donbass, zu erreichen.
Fazit
Aus alldem folgt nicht, dass die Menschen in Russland auf der Seite der Ukraine stünden oder über diese in den gleichen Begriffen und Paradigmen denken, wie die Ukrainer selbst es tun und wie es sich auch im Westen durchsetzt. Russlands Bevölkerung ist seit zwanzig Jahren einer intensiven Staatspropaganda ausgesetzt, die bewusst Hass auf den Westen und seine Verbündeten sowie koloniale Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit schürt.[19]
Der ukrainische Staat hat seit 2014 alles getan, um die Kontakte zwischen den beiden Ländern einzuschränken. Der Flugverkehr wurde eingestellt, für Männer im wehrpflichtigen Alter gilt seit acht Jahren faktisch ein Einreiseverbot. Selbst ethnische Ukrainer und Staatsbürger der Ukraine mit ständigem Wohnsitz in Russland hatten kaum noch die Möglichkeit, sich mit eigenen Augen ein Bild von der Lage in Lemberg, Kiew, Mariupol‘ oder Charkiv zu machen. Alles, was sie über die Ukraine zu wissen glauben, kommt aus den Staatsmedien, die ihnen ein verarmtes, völlig korruptes Land am Rande des Zusammenbruchs zeigten. Hinzu kam umstrittene Kiewer Sprachpolitik und die Geschichtspolitik im öffentlichen Raum.[20] Die Propaganda des Kreml hat diese Entwicklungen in der Ukraine zynisch genutzt, um gegen die Ukraine Stimmung zu machen. Die große Mehrheit der Menschen in Russland wird aus diesen Gründen kaum jene Position vertreten, die man in der Ukraine, im Westen oder darüber hinaus von ihnen hören möchte. Jedoch sehen die allermeisten keinen persönlichen Vorteil in diesem Krieg. Sie fürchten vielmehr seine Folgen und versuchen, sich so fern wie möglich von ihm zu halten.
Zu einem Sieg der Ukraine in diesem Krieg kann dies wesentlich beitragen. Man stelle sich zum Vergleich nur vor, wie die Lage stünde, wenn Russlands Bevölkerung den Krieg gegen die Ukraine tatsächlich unterstützen würde, wenn Freiwillige in die Armee strömen und das ganze Land Geld für die Ausrüstung der Armee spenden würden, wenn es jene Atmosphäre des Hasses tatsächlich gäbe, die die Moderatoren der Propaganda-Polit-Shows zu simulieren und stimulieren versuchen. Weil dies nicht der Fall ist, stehen die Aussichten auf eine Erschöpfung der russländischen Armee gut, und diese wird über kurz oder lang zu einem Zusammenbruch oder einem Rückzug der Armee aus der Ukraine führen.
Vor diesem Hintergrund sind die Forderungen nach einer kompletten Einstellung der Vergabe von Visa an Staatsbürger Russlands nicht überzeugend. Sie trifft nicht jene, die tatsächlich in den vergangenen Jahren in der EU kriminellen Geschäften nachgegangen sind oder im Auftrag des Kreml Wühlarbeit betrieben haben. Diese Personen sind in aller Regel nicht mit Touristenvisa eingereist. Sehr wohl aber trifft es all jene, die Russland aus politischen Gründen verlassen wollen oder dies sogar eiligst tun müssen. Dies geht, wie die trotz anderslautender Ankündigungen weiterhin restriktive Praxis bei der Vergabe humanitärer Visa in Deutschland zeigt,[21] nach wie vor am einfachsten und schnellsten mit einem Touristenvisum.
Vor allem aber ist eine Einstellung der Visumsvergabe ein Signal an die schweigende Mehrheit. Wie soll diese es verstehen, wenn sie dafür bestraft wird, dass sie sich nicht gegen ein Regime auflehnt, das jeden, der auch nur den Krieg beim Namen nennt, verprügelt und hinter Gitter bringt? Wie wird sie reagieren mit den Erfahrungen im Kopf, die Belarus im Jahr 2020 gemacht hat? Das einzige, was die Menschen erkennen werden, ist, dass sie dem Regime noch mehr ausgeliefert sind und niemand ihnen mehr beisteht. Statt sie mit dem Regime einzusperren, gegen das sie in einem Aufstand nicht gewinnen können, sollten gerade jungen Leuten im wehrpflichtigen Alter jede Möglichkeiten gegeben werden, das Land zu verlassen. Nicht auf Russlands Gesellschaft sollte Druck ausgeübt werden, sondern auf Russlands Armee. Die ukrainische Armee weiß, was dafür nötig ist.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Enttäuschte Hoffnungen. FAZ, 28.8.2022.
[2] „Pasport chorošego russkogo“. Socseti ob ideee Kasparova i Gudkova. Svoboda.org, 23.5.2022.
[3] Siehe dazu Aleksej Levinson, Stepan Gončarov: Loyalitätsrituale. Russland: Das Volk, die Wahlen und das Regime, in: Osteuropa, 8-9/2021, S. 163-180.
[4] Ot žestkich zaderžanij do ugolovnych del. Čto proischodit s učastnikami antivoennych akcij v avtozakach, otdelach i sudach, <https://paperpaper.ru/ot-zestkih-zaderzanij-do-ugolovnyh-de/>.
Antivoennoe delo. Infografika ugolovnogo presledovanija za antivoennuju poziciju, <https://data.ovdinfo.org/antivoennaya-infografika>.
[6] Zum Georgsband siehe: Vera Demmel: Das Georgsband. Ruhmesorden, Erinnerungszeichen, Pro-Kreml-Symbol, in: Osteuropa, 3/2016, S. 18‑31.
[7] V Nižnem Novgorode sožgli mašinu ženščiny, pomogajuščej učastnikam SVO,. Ria Novosti, 11.6.2022.
[8] V Moskve sostojalsja Z-Koncert v podderžku specoperacii na Ukraine, <https://spravedlivo.ru/11895810>;
[9] <www.youtube.com/watch?v=sdrMOdVx8Vs>
[10] https://www.bbc.com/russian/features-61401033 Über die Nutzung dieser Konzerte für lokale politische Kampagnen: https://cnpt18.ru/analitika/3846/
[11] Rund 20 Bands und Solisten haben wegen Unterstützung der Ukraine oder Erklärungen gegen den Krieg Auftrittsverbot.
[12] https://donpress.com/news/01-08-2022-stalo-izvestno-kto-pytaet-v-okkupirovannoy-bryanke-rossiyskikh-soldat
[13] https://nv.ua/ukraine/events/voennye-rf-strelyayut-sebe-v-nogi-chtoby-vernutsya-iz-ukrainy-zhivymi-novosti-ukrainy-50243574.html
[14] https://www.severreal.org/a/senator-narusova-rasskazala-o-gibeli-96-srochnikov-v-ukraine/31736382.html
[15] https://paperpaper. ru/papernews/2022/3/4/iz-roty-v-sto-celovek-zivyh-ostalos-c/
[16] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/russland-ukraine-krieg-soldatenmuetter-100.html
[17] https://www. rbc. ru/politics/09/03/2022/6228be389a79477fd0aa0cee
[18] BARS- 2021, <http://bars2021.tilda.ws/
[19] Siehe dazu Lev Gudkov: Phasen der Gewöhnung. Russlands Krieg im Meinungsbild der Bevölkerung, in: Osteuropa, 4-5/2022, S. 29‑43.
[20] Zur Geschichtspolitik siehe: Gerhard Simon: Good Bye, Lenin! Die Ukraine verbietet kommunistische Symbole, in: Osteuropa, 3/2016, S. 79-94. – Zur Sprachpolitik siehe Volodymyr Kulyk: Wes Lied ich hör’ … Ukraine: Sprachpolitik und Mediennutzung, in: Osteuropa, 9‑10/2017, S. 59-73.
[21] Seit Ende Februar wurden 73 solcher Visa vergeben. Enttäuschte Hoffnungen. FAZ, 28.8.2022.