Keine Ruhe vor dem Sturm
Nikolay Mitrokhin, 2.5.2023
Die Entwicklung in der 62. Kriegswoche
Die Lage an der Front
Die russländischen Streitkräfte haben ihre Angriffe auf jene drei Städte fortgesetzt, deren Eroberung für sie Priorität hat. In Bachmut sind sie im Verlaufe einer Woche um 200 Meter vorgerückt. In Mari’jinka ist es ihnen gelungen, eine ukrainische Verteidigungslinie im zentralen Teil der Kleinstadt zu durchbrechen und einige Ruinenviertel im westlichen Teil einzunehmen. In Avdijivka konnten sie einen Gegenangriff der ukrainischen Armee abwehren, bei dem diese drei gepanzerte Fahrzeuge verlor.
Russlands Armee erzielt diese minimalen Erfolge unter Aufwendung aller verbliebenen Kräfte und Ressourcen. Der Gründer der Pseudoprivatarmee „Wagner“ Evgenij Prigožin ließ in einem Interview verlautbaren, die letzten 100 Meter in Bachmut hätten seine Truppen 94 Mann gekostet. Grund sei der Mangel an Munition und Patronen, der sich wieder erheblich verschärft habe. Angeblich verbleibt noch Munition für wenige Tage, danach würde ein Teil der Wagner-Truppen aus Bachmut abgezogen, die anderen wollten den Heldentod sterben.
Eine Woche zuvor hatten die Kämpfer der von Gazprom finanzierten Einheit „Potok“ aus diesem Grund ihre Positionen an der Seite der Wagner-Truppen aufgegeben und waren daraufhin von diesen heftig beschimpft worden. Dennoch ist die Lage in Bachmut für die ukrainische Armee weiter kritisch. Sie hält nur noch einen kleinen Teil der Stadt, die dort kämpfenden Einheiten können nur schwer versorgt werden, denn alle Wege in die Stadt liegen unter dem Feuer des Gegners.
Anders ist die Situation am südlichen Frontabschnitt. Dort hat die ukrainische Armee mit den Vorbereitungen zu dem angekündigten Gegenangriff begonnen. Bereits vor anderthalb Wochen hat sie am linken Ufer des Dnipro nahe der nördlich von Cherson gelegenen Stadt Oleški einige Brückenköpfe errichten können. Genauere Informationen über die Lage in diesen gegenwärtig teils unter Wasser stehenden Schwemmgebieten gibt es nicht. Es ist jedoch keineswegs ausgeschlossen, dass die ukrainischen Truppen in Kürze in der Stadt auftauchen, die von strategischer Bedeutung für den Zugang zu der auf die Krim führenden Landenge ist. Die russländischen Truppen geben indirekt zu, dass sie in dieser Gegend die Kontrolle verlieren, nicht zuletzt wegen eines Mangels an kleinen Booten für Patrouillenfahrten und den Transport von Soldaten. Sie versuchen, bei der örtlichen Bevölkerung Boote zu requirieren, diese wehrt sich nach Kräften. Vergangene Woche wurde der Leiter der Okkupationsverwaltung Vladimir Sal’do in einen solchen Konflikt verwickelt.
Russland hat in der vergangenen Woche bekanntgegeben, mit Hilfe einer Drohne eine S-300-Flugabwehrstellung der ukrainischen Streitkräfte im Dorf Promin’ im Gebiet Mykolajiv – also weit hinter der Frontlinie – zerstört zu haben. Diese hatte dazu gedient, die russländische Luftwaffe vom Gebiet rechts des Dnipro fernzuhalten und Kiew vor Raketen im Anflug von der Krim zu schützen.
Die ukrainische Offensive
Die ukrainische Führung kündigt seit langem eine Gegenoffensive zur Rückeroberung der besetzten Gebiete an. Nun erklärte Verteidigungsminister Aleksej Reznikov, die Truppen seien bereit und warteten auf geeignetes Wetter und den Befehl zum Losschlagen. Auch die russländischen Truppen erwarten diesen Angriff mit Unruhe. Prigožin gab im Plauderton kund: „Der Wind trocknet die Böden, vielleicht greifen sie nicht am 9. Mai an, um nicht als Faschisten zu erscheinen, aber vor dem 15. Mai wird auf jeden Fall ein Vorstoß kommen.“
Gleichzeitig ist zu beobachten, wie die Ukraine die Erwartungen zu dämpfen beginnt. Präsident Zelens’kyj verspricht nicht mehr, alle besetzten Gebiete in Kürze zu befreien, sondern von Etappen, die sich aus dem Umfang der aus dem Westen gelieferten Waffen ergäben: „Der Krieg kann noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern.“
Sicher ist aber, dass die Vorbereitungen für die Gegenoffensive bereits begonnen haben. Neben den erwähnten Brückenköpfen am linken Ufer des Dnipro zeugen davon massive Drohnenschläge auf zwei große Treibstofflager der russländischen Armee. In Rovenki im Gebiet Luhans’k wurde ein großes Depot getroffen. Besonders großen Schaden konnte eine Armada von zehn Drohnen in der Kazač’ja-Bucht auf der Krim anrichten, wo die Treibstofflager zur Versorgung der russländischen Schwarzmeer-Flotte stehen. Nach ukrainischen Angaben gingen zehn Silos in Flammen auf, obwohl nach russländischen Angaben acht der zehn Drohnen abgefangen wurden.
Vernichtet wurden nicht nur große Mengen Treibstoff, der nur unter großem Aufwand auf die Krim gebracht werden kann. Zudem wird es Monate dauern, bis die Tanks und die Leitungssysteme wiederhergestellt sind. Möglicherweise muss die Schwarzmeer-Flotte zur Treibstoffversorgung auf andere Krim-Häfen oder sogar nach Novorossijsk ausweichen, was dazu führen würde, dass die Schiffe zu einem leichter zu treffenden Ziel würden.
Wichtig für den ukrainischen Gegenangriff ist auch, dass die erste Phase der neuen Lieferungen schwerer Panzerfahrzeuge aus dem Westen abgeschlossen ist. Mittlerweile sind die letzten der versprochenen Leopard-Panzer aus Spanien von Polen aus in die Ukraine gebracht worden. Auch die gepanzerten Fahrzeuge vom Typ Bradley, Marder und Stryker sind eingetroffen.
Die Lieferung der amerikanischen Abrams-Panzer sowie einer großen Anzahl von Leopard-Panzern älteren Modells wird für den Herbst erwartet. Sie werden die Verluste des Sommers ersetzen und möglicherweise für eine zweite Angriffswelle dienen.
Der Raketenschlag am 28. April
Am 28. April führte die russländische Armee erstmals seit zwei Monaten einen massiven Raketenschlag gegen die Ukraine. Man kann davon ausgehen, dass es sich um eine Racheaktion für einen Angriff mit Wasserdrohnen auf Sevastopol’ vier Tage zuvor handelt, über dessen Auswirkungen es keine Informationen gibt. Die Raketen wurden um vier Uhr morgens von strategischen Bombern des Typs TU-95 über dem Kaspischen Meer abgeschossen. Getroffen wurden Objekte in Kiew, Kremenčuk, Uman’, Dnipro und im Gebiet Čerkas’k. Es war der erste Angriff auf Kiew nach mehr als 50 Tagen. Die ukrainische Flugabwehr konnte 21 von 23 Raketen des Typs X-101 und X-555 abschießen, sowie zwei Drohnen von Typ Geran’-2.
Der Angriff führte zu zahlreichen zivilen Opfern in der Ukraine, gemessen am Zweck, den er verfolgte, ist er komplett gescheitert. Lediglich ein, möglicherweise zwei Treibstofftanks in Dnipro wurden getroffen. Die Zahl von 23 eingesetzten Raketen – bei früheren Angriffen waren es oft rund 100 – zeugt davon, dass Russland weiter Probleme mit der Produktion dieser Angriffswaffen hat.
Furchtbar waren jedoch die Folgen des Angriffs. Eine niedrigfliegende x-101-Rakete, die auf ein Objekt in Kiew zielte, flog in der südlich der Hauptstadt gelegenen Mittelstadt Uman’ in das oberste Stockwerk eines neunstöckigen Wohnblocks. Der gesamte Hausflügel wurde zerstört, 23 Menschen kamen ums Leben, darunter sechs Kinder. Möglicherweise arbeiteten die russländischen Programmierer, die die Flugroute der Rakete eingaben, mit sowjetischen Karten, auf denen das 1993 errichtete Gebäude nicht eingezeichnet ist. Auch in Dnipro starben bei dem Angriff ein zweijähriges Mädchen und eine 31 Jahre alte Frau.
Russländischen Angaben zufolge beschoss die ukrainische Armee am gleichen Tag Donec’k mit Artillerie. Mehrere Gebäude seien zerstört worden, darunter eine Unfallklinik. Neun Menschen wurden getötet, sieben davon waren in einem Sammeltaxi unterwegs. Die ukrainische Seite behauptete wenig glaubwürdig, es habe sich um „Selbstbeschuss“ gehandelt, mit dem von der Tragödie in Uman‘ abgelenkt werden sollte.
Moskau reagierte auf die ukrainischen Angriffe auf Sevastopol‘ und die ständige Drohung mit weiteren Angriffen auf die Krim, indem der Kreml eine Verlängerung des Getreideabkommens verweigert. Schiffe, die ukrainische Häfen anlaufen, laufen daher Gefahr, angegriffen zu werden. Da zugleich fünf osteuropäische EU-Staaten die Einfuhr von Getreide aus der Ukraine verboten haben, droht den Bauern in der Süd- und Zentralukraine großes Ungemach – mit erheblichen Folgen für die gesamte Ukraine. Allerdings hat die Europäische Kommission Kompensationszahlungen in Höhe von 100 Millionen Euro für osteuropäische Bauern angeboten, um die Regierungen dieser Staaten dazu zu bewegen, das Importverbot aufzuheben und so den Transport von ukrainischem Getreide auf den Weltmarkt durch diese Länder weiter zu ermöglichen.
Personalrotation nach gescheiterter Mobilisierung
In Russland legen Männer mit patriotischer Gesinnung seit Ende 2022 eine Haltung bedrückter Entschlossenheit an den Tag: Ja, wir – genauer: die da oben – haben in der ersten Phase alles verbockt, die besten Waffen und die besten Einheiten zur Erreichung falsch gesetzter taktischer Ziele verschwendet. Aber jetzt lernen wir aus unseren Fehlern, unsere Rüstungsfabriken arbeiten in drei Schichten. Wir werden neue Kräfte sammeln und dann ganz anders kämpfen, denn Russland ist unbesiegbar. Un-be-siegbar! Ganz ohne Atomwaffen.
Da die mit dieser Stimmung verbundene Hoffnung nicht durch die Tatsachen gedeckt ist, müssen Verantwortliche gefunden werden. Daher wurden zwei stellvertretende Verteidigungsminister entlassen. Seines Postens enthoben wurde u.a. der für das Beschaffungswesen zuständige General Michail Mizincev, der erst seit September 2022 im Amt war. An seine Stelle trat der vormalige Leiter der Nationalgarde Aleksej Kuz’menkov.
Mizincev war es nicht gelungen, für eine Versorgung der russländischen Armee unter den neuen Bedingungen zu sorgen. Erste Anzeichen hatte es bereits im Dezember gegeben und Ende Januar stand fest, dass Russlands Winteroffensive nicht zuletzt an Munitionsmangel scheitert. Ebenfalls misslungen ist die verdeckte Mobilisierung von „Zeitsoldaten“. Und die Digitalisierung der Wehrämter ist trotz Verlängerung der Umstellungszeit immer noch nicht abgeschlossen. Mehr als die Hälfte der Regionen haben bislang Vollzug gemeldet. Wenn bald die ukrainische Gegenoffensive beginnt, hat Russland von den wenigen im April einberufenen Rekruten abgesehen fast keine Reserven mehr, die es an die Front bringen könnte. Wie prekär die Lage ist, zeigt sich daran, dass der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma Andrej Kargopolov erklärt hat, die Bevölkerung der Gebiete in Grenznähe müsse sich selbst gegen Angriffe aus der Ukraine verteidigen. Sollten der Ukraine größere Erfolge gelingen, wird Russlands Führung eine zweite Mobilisierungswelle verkünden müssen, was sie bislang scheut.
Allerdings ist die Lage im ukrainischen Beschaffungswesen ebenfalls alles andere als gut. Einige Waffensysteme sind in Produktion, aber immer noch nicht ausgeliefert. Ukrainische Kampfdrohnen werden etwa nur in äußerst geringer Zahl eingesetzt, statt dessen greift die Armee auf umgebaute chinesische zivile Modelle zurück. Aber auch das Thema Korruption ist nicht vom Tisch. Ukrainische Investigativjournalisten haben erneut Preislisten veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass das Verteidigungsministerium Lebensmittel zum dreifachen Preis bezieht wie die Abteilung Aufklärung des gleichen Ministeriums.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.