Goodwin-Gate

Einblicke in Russlands Armee

Nikolay Mitrokhin, 23.9.2024

Bei einem Sturmangriff im Donbass sind zwei bekannte und hochqualifizierte russländische Drohnenführer umgekommen. Dies hat eine Welle der Empörung unter Militärbloggern ausgelöst, die einen Einblick in den Zustand der Armee ermöglicht. Kommandeure verheizen qualifiziertes Personal an vorderster Front. Dies ist oft Teil eines grausamen Bestrafungssystems. Der Aufruhr war so groß, dass der Verteidigungsminister sich genötigt sah, eine Untersuchung einzuleiten. Doch es zeichnet sich ab, dass diese im Sande verläuft. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass die massiven Verluste bei der Offensive im Donbass Russlands Truppen stark ausgedünnt haben. Nicht nur die ukrainische Armee hat stark an Kampfkraft verloren.

Am 11. September 2024 kamen an der Spitze der russländischen Offensivoperation im Donbass im Raum Pokrovs’k zwei in ihren Kreisen sehr bekannte Kriegsblogger und Drohnenspezialisten ums Leben: der Stabsgefreite Dmitrij Lysakovskij, genannt „Goodwin“[1], der den Militärkanal „Severnyj veter“ (Nordwind) betrieben hatte, sowie der Oberstleutnant Sergej Gricaj, nom de guerre „Ernst“. Sie gehörten einem vorgelagerten Trupp des 87. Selbständigen Schützenregiments der 1. Selbständigen Slavjansker Motorisierten Schützenbrigade an. Mit ihnen starben nahe der Ortschaft Lysivka 12 weitere Soldaten.

Eine Woche später wurden Details bekannt. „Goodwin“ befand sich in einem Waldstück nahe des Dorfs, als eine ukrainische Drohne eine magnesiumhaltige Brandmischung über diesem verteilte. Diese Methode der Kampfführung gegen Infanterieeinheiten, die sich unter Bäumen verbergen, setzen beide Kriegsparteien seit Sommer 2024 an vielen Frontabschnitten ein. „Ernst“ sowie die anderen Soldaten wurden durch Artilleriebeschuss im Schützengraben getötet. Eine Evakuierung war nicht möglich, da ukrainische Drohnen die absolute Lufthoheit hatten. Die Angreifer hatten den Vorstoß nicht mit Drohnen abgedeckt, weil die Drohnenführer selbst an dem Sturmangriff beteiligt waren. Nach Angaben des unter dem Namen „Filolog v zasade“ (Philologe hinter der Front) schreibenden Militärbloggers, der die detaillierteste Schilderung der Ereignisse veröffentlichte, befinden sich fünf Soldaten der Drohnen-Fernaufklärungseinheit des 87. Schützenregiments unter den Getöteten.

Zwei Tage später tauchte in den Kanälen der russländischen Militärblogger ein Video auf, in dem „Goodwin“ und „Ernst“ zunächst vor einem Weinberg, dann in einem Waldstreifen stehen und erklären, dass sie bereits tot seien, wenn die Betrachter dieses Video sehen. Sie seien auf Befehl des Kommandeurs ihres Regiments, der unter den Frontnamen „Zloj“ (Der Böse) und „Puzik“ bekannt ist, aus ihrer Einheit herausgenommen und einem Sturmtrupp zugeteilt worden. Sie würden in den sicheren Tod geschickt, weil sie aufgedeckt hätten, dass er Drogenhandel in dem Regiment decke.

Im Kanal „Filolog v zasade“ heißt es: „Die absolut kriminelle Praxis, wertvolle Spezialisten in Sturmeinheiten zu stecken, weil es an anderen Soldaten fehlt oder aus persönlichen Motiven des Kommandeurs, hat System.“

„Goodwin“ und die „Slavjansker Brigade“

Dmitrij Lysakovskij gehörte zur ersten Generation der Kämpfer, die im Frühjahr 2014 dem Ruf von Igor‘ Girkin alias Strelkov gefolgt und aus verschiedenen Gegenden Russlands in den Donbass gezogen waren. Die von Girkin in Slavjansk (ukr. Slovjans’k) zusammengestellte Truppe hielt zwei Monate der Belagerung durch die ukrainische Armee stand und kämpfte sich dann nach Donec’k durch. Sie erhielt den Namen „1. Slavjansker Brigade“. Lysakovskij war aus Moskau in den Donbass gekommen, wo er noch den Namen seines Stiefvaters (Kocubanov) getragen hatte. Er hat in Montreux Völkerrecht studiert und bekleidete danach hohe Posten in mehreren Unternehmen und Banken. Anschließend war er Partner in einer Kanzlei, die Firmen Schutz vor kriminellen feindlichen Übernahmen anbot. Sein privates Steckenpferd war Funktechnik. Im Jahr 2013 geriet er in einen Konflikt zwischen zwei Unternehmen um ein Bürogebäude in Moskau und wurde wegen Betrugs angeklagt. Im Mai 2014 nahm er den Namen seiner Mutter an und fuhr in den Donbass, um „humanitäre Hilfe“ zu leisten. Dort machte er sein Hobby zum Beruf und wurde rasch Spezialist für militärische Funktechnik und bald auch für Drohnensteuerung. Gleichzeitig beteiligte er sich an krummen Geschäften mit Armeegütern. Im Jahr 2015 wurde er in Moskau verhaftet und 2019 in der Betrugssache um das Bürogebäude zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft kam er mit der Urteilsverkündung frei.[2]

Um das Jahr 2020 kehrte er in den Donbass zurück und landete dort auf einem unbedeutenden Posten einer Einheit im Verbund der einstigen Slavjansker Brigade. Diese hat mehrfach den Namen gewechselt, war verschiedenen Verbänden zugeordnet, blieb aber durchweg eine der wichtigsten Formationen, die offiziell als Verbände der Volksrepublik Donezk galten.

Seit Russland im Februar 2022 vom verdeckten zum offenen Krieg gegen die Ukraine übergegangen ist, wird die Brigade für die Offensive westlich von Donec’k eingesetzt. Zunächst war das Ziel die Einnahme von Avdijivka, seit dem Fall der Stadt im Februar 2024 ist Pokrovs’k das neue Ziel. Die Brigade wird von vielen wegen ihrer enormen Verluste als „Bermuda-Dreieck“ bezeichnet.[3] Neben den hohen Verlusten zeichnet sie sich durch ein selbst für die Verhältnisse in der russländischen Armee ungewöhnlich hohes Maß an Korruption und Gewalt aus. Die Kommandeure kommen überwiegend aus dem Donbass und haben eine Schreckensherrschaft über alle aus Russland im Zuge der Mobilisierung oder als Zeitsoldaten in diese Einheit gekommenen Soldaten errichtet. Einige von diesen berichteten im Schutze der Anonymität davon, dass ihnen ihr Sold abgepresst wurde. Wer sich über die Verhältnisse beschwerte oder sich tatsächlich oder angeblich etwas zuschulden kommen ließ, musste mit grausamen Konsequenzen rechnen. Oft wurde leicht oder mittelschwer verwundeten Soldaten die Verlegung in ein Lazarett verwehrt. Ehemalige Mitglieder der Brigade berichten, dass die Kommandeure nicht nur damit drohten, dass Vergehen mit dem Tod bestraft werden, sondern die Ankündigung auch umsetzten. Einer der Militärblogger berichtet, gegen den Kommandeur „Puzik“ sei bereits ein Strafverfahren wegen Mord in Gange gewesen, als es zu dem Skandal um den Tod von „Goodwin“ kam.

Der Goodwin-Effekt

Die faktische Ermordung einer Gruppe hochprofessioneller Drohnenführer schlug hohe Wellen. Lysakovskij hatte sogar den vielfältigen Einsatz von Drohnen vorangetrieben, indem er bereits seit 2022 Vorträge zu diesem Thema hielt und auf eigene Faust neue Drohnenführer ausbildete. Angesichts der großen Bedeutung, die der Einsatz von Drohnen für die Kriegsführung hat, empörten sich Dutzende Militärblogger und forderten eine umgehende Untersuchung. Darunter sind so große Kanäle wie „Rybar‘“ – die inoffizielle Stimme des Militärgeheimdiensts GRU mit 1,3 Millionen Abonnenten – und der eng mit Goodwins Gruppe verbundene „Kanal PriZrak Novorossii“. Dieser hat rund 200 000 Abonnenten, die Posts werden regelmäßig von mehr als 500 000 Personen gesehen. Geleitet wird er von Vladimir Grubnik, der sich als Organisator von Spendenaktionen für die Armee einen Namen gemacht hat. Auch die Fernsehpropagandistin Anastasija Kaševarova stieß auf ihrem Telegram-Kanal, der 250 000 Abonnenten hat, ins selbe Horn. Nach einer langen Zeit der Zurückhaltung entbrannte erstmals wieder eine heftige Diskussion über die Lage in der russländischen Armee.

Eindeutig zeigte sich in dieser, dass die faktisch seit zehn Monaten anhaltende Offensive westlich von Donec‘k, die mit dem Sturmangriff auf Avdijivka begonnen hatte, zu einem eklatanten Mangel an Soldaten geführt hat. Oft wird die Erstürmung ukrainischer Stellungen ohne jegliche Vorbereitung befohlen. Grund ist nicht zuletzt, dass die Befehlshaber der militärischen oder politischen Führung oder auch den Medien bereits die Einnahme einer Kleinstadt oder eines Frontabschnitts vermeldet haben, die sich in Wahrheit noch unter der Kontrolle der ukrainischen Armee befanden. Dies erklärt auch, warum in vielen Kanälen die Einnahme derselben Ortschaft oder des gleichen Stadtteils oft ein Dutzend Mal und mehr bekanntgegeben wird.

Darüber hinaus hat der Fall Goodwin die Frage nach dem Verhältnis von Mannschaften und Kommandeuren wieder in den Vordergrund gerückt. Manche der Soldaten haben noch nicht vollständig vergessen, dass sie so etwas wie Rechte haben, die von den Vorgesetzten unterschiedlicher Ebenen verletzt werden. Die Drohung mit einer Versetzung an die Front ist zu einem universell eingesetzten Mittel der Disziplinierung von Untergebenen geworden. Im Kanal „Mest‘ Dobroj Voli“ (110 000 Abonnenten) heißt es: „Bei den Sturmangriffen sind EloKaler umgekommen. Wirklich ein Genie, der Leute aus der elektronischen Kampfführung dafür einsetzt. Um im Graben ein paar Knöpfe von primitiven Geräten zu drücken, wurden Spezialisten ausgewählt, die normalerweise ,großeʻ Anlagen bedienen, mehrere Monate ausgebildet wurden und Erfahrung mit den Geräten haben. Auch Fernmelder aus Einheiten, die nicht in der Spezialoperation eingesetzt sind (strategischen Raketentruppen, Weltraumtruppen), werden bei der Infanterie eingesetzt.“

Auch die Themen Diebstahl von Sachspenden sowie andere Machenschaften, mit denen sich die Kommandeure bereichern, tauchten wieder auf. Schließlich wurde in den Militärkanälen wieder über Strukturprobleme der Armee diskutiert. Jene Truppenteile, die in den Jahren 2015–2021 offiziell den „Volksmilizen“ von Donezk und Lugansk angehörten, tatsächlich aber dem Militärbezirk Süd des Moskauer Verteidigungsministeriums zugeordnet waren und erst im Jahr 2022 formal in die russländische Armee eingegliedert wurden, sind bis heute nicht zu vollwertigen Einheiten aufgestockt worden. Ihnen fehlen weiter bestimmte spezialisierte Truppengattungen, die in anderen Teilen der Armee vorgesehen sind. Dies ermöglicht es einem Kommandeur, Soldaten aus den Einsatz- und Führungsunterstützungstruppen an die Front zu verlegen, ohne dass er dabei gegen geltendes Recht verstößt.

Reaktion auf höchster Ebene

Die Empörung unter den Militärbloggern, deren Reichweite um ein Vielfaches höher ist als die traditioneller gedruckter Medien und erst recht als die offizieller Internetseiten, war so groß, dass sich Verteidigungsminister Andrej Belousov zu einer Reaktion genötigt sah. Er machte die Angelegenheit zur Chefsache und erteilte unverzüglich seinem Stellvertreter Viktor Goremykin sowie dem Generalstabschef Valerij Gerasimov den Befehl, unter Einbeziehung des militärischen Abschirmdiensts des FSB, die Umstände des Tods der Drohnenführer aufzuklären. Es stand sogar im Raum, dass der Kreml die einflussreichen Militärblogger in einer neuen politischen Kraft bündelt.

Kurz darauf bliesen jedoch die kremlloyalen Kriegskorrespondenten und Militärblogger zu einer „Gegenoffensive“. Die bekanntesten unter ihnen sind Aleksandr Koc, der für die Komsomol’skaja Pravda von der Front berichtet und einen eigenen Kanal mit 650 000 Abonnenten betreibt, und der Fernsehpropagandist Vladimir Solov’ev. Sie beschuldigen die Militärblogger, einen Skandal herbeizureden, wo keiner sei.

Dies war eine Ansage der Präsidialverwaltung, dass es keine Vereinigung der Militärblogger unter der Schirmherrschaft des Kreml geben wird. Vor allem aber, dass aus der Ankündigung des Verteidigungsministers keine Kampagne zur Aufklärung und Beseitigung der Missstände in der Armee folgen wird. Übrig bleibt von dem Skandal die Erkenntnis, wie ausgezehrt die nach den Geländegewinnen im Donbass als übermächtig geltende russländische Armee im dritten Jahr der militärischen Aggression gegen die Ukraine ist.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] Goodwin ist die Hauptfigur eines Anfang der 2000er Jahre erschienenen Kinderbuchs Gudvin, Velikij i Užasnyj (dt. unter dem Titel: Goodwin der Schreckliche) des Schriftstellers Sergej Suchinov.

[2] Nach der Freilassung gab er der Plattform Lenta.ru ein längeres Interview über seine Zeit im Gefängnis. https://lenta.ru/articles/2019/11/14/dnr/

[3] Siehe die ausführliche Recherche über die Brigade, die unabhängige Journalisten des Portals Bereg im Sommer „024 veröffentlicht haben: https://bereg.io/feature/2024/07/21/v-odnoy-iz-brigad-rossiyskoy-armii-pogibaet-i-propadaet-bez-vesti-bolshinstvo-mobilizovannyh-vot-kak-ustroena-sluzhba-v-voinskoy-chasti-41680