Eine neue russländische Großoffensive?
Nikolay Mitrokhin
Ein kurzer Bericht über die militärische Lage in der Ukraine am 30.5.2022
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass Russland für den Juni eine neue Großoffensive gegen die Ukraine plant. Im Norden könnte ein neuer Angriff aus dem Gebiet Kursk erfolgen, im Nordosten der Angriff auf Charkiv verstärkt werden, im Osten die Offensive im Donbass und im Süden der Druck auf Zaporižžja. Zu diesem Zweck hat die Armee eine verdeckte zweite Mobilisierungswelle durchgeführt, Panzer und Geschütze aus Lagern wurden ertüchtigt, hinzu kommt neues Gerät aus den Waffenfabriken. Viele unterschiedliche Quellen berichten, dass ganze Kolonnen von Armeefahrzeugen und Truppen in Richtung Ukraine unterwegs sind. Offen ist, ob sich auch die belarussische Armee an dem Angriff beteiligen wird, in der ein Kommando Süd geschaffen wurde und die Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Angriffe im Norden und Nordosten nur den Zweck verfolgen, möglichst viele ukrainische Kräfte dort zu binden. Das zentrale Ziel der Offensive scheint zu sein, die zweite Verteidigungslinie der Ukrainischen Streitkräfte im Donbass zu durchbrechen oder zu umgehen, um den Donbass sowie das Gebiet Zaporižžja vollständig einzunehmen, solange die der Ukraine von den NATO-Staaten gelieferten oder versprochenen Waffen erst in geringerer Zahl an der Front angekommen sind. Führt Russland die sich abzeichnende Offensive durch, wird der Vorteil, den die Ukraine die westlichen Distanzwaffen verschaffen sollen, die in vollem Umfang aber erst im Juli und August ankommen, zunichte gemacht. Die Ukraine wird dann den offenbar für Ende des Sommers geplante große Gegenoffensive nicht wie vorgesehen durchführen können.
Die bescheidenen Erfolge der ukrainischen Armee bei ihren aktuellen Gegenangriffen im Nordwesten des Gebiet Cherson, wo sie im Steppengebiet im Verlaufe mehrerer Tagen einige Dörfer zurückerobern konnten, sind für Russlands Militärführung ein Beleg, dass die Ukraine gegenwärtig kaum weitere Ressourcen mobilisieren kann. Alle Truppen, über die sie verfügt, werden gegenwärtig im Donbass eingesetzt. Dort ist sie gezwungen eine Verteidigungslinie nach der anderen aufzugeben. Am Abend des 30. Mai finden bereits Straßenkämpfe in Severodonec’k statt, nachdem die ukrainischen Truppen einen Durchbruch russländischer Einheiten ins Stadtgebiet vor zwei Tagen nicht verhindern und den Voraustrupp nicht abschneiden konnten.
Gleichzeitig festigen die Armee und die Marine Russlands ihre Stellungen auf der Schlangeninsel. Trotz erfolgreicher ukrainischer Luftangriffe Anfang Mai ist es ihnen gelungen, ausreichend Luftabwehrstellungen zu errichten, um Angriffe mit Bayraktar-Kampfdrohnen abzuschrecken. Die Harpoon-Lenkwaffen zum Einsatz gegen Schiffe, die die Ukraine erhalten hat, sind bislang nicht im Einsatz.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.