Dynamik des Stillstands
Nikolay Mitrokhin, 13.12.2023
Dynamik des Stillstands – die 94. Kriegswoche
In der Ukraine hat sich das Eingeständnis durchgesetzt, dass die Gegenoffensive gescheitert ist. Die schwierige Lage trägt zur Formulierung eines neuen Leitziels bei: Verteidigung der gehaltenen Gebiete. Gleichzeitig ist klar, dass Russland weiter angreift und die Ukraine den Krieg gar nicht beenden kann. Mit Zwangsrekrutierungen wird versucht, die erschöpfte Armee wieder wehrfähiger zu machen. In Moskau hat Putin eine „Kandidatur“ für eine weitere Amtszeit angekündigt. Sein „Wahlversprechen“: der Sieg im Krieg.
Die Lage an der Front
Die ukrainische Armee steckt am Ende der 94. Kriegswoche weiter in großen Schwierigkeiten. Russland hat das Hauptgewicht seiner Offensive unerwartet von Avdijivka, wo es die vergangenen acht Wochen gelegen hatte, nach Bachmut verschoben. Nordwestlich der Stadt haben die Moskauer Truppen den bereits in der letzten Novemberwoche begonnenen Vorstoß fortgesetzt und die ukrainischen Verbände in nur einer Woche um ein beträchtliches Stück zurückgedrängt. Aus Richtung des Berchivka-Stausees sowie vom Nordwestrand der Stadt kommend haben sie die ukrainische Armee aus den beiden wichtigsten Stellungssystemen auf den Hügeln über Bachmut vertrieben und damit deren Geländegewinn vom Juni und Juli 2023 annulliert. Die Gegend südlich und südwestlich von Bachmut, die die ukrainische Armee im Sommer befreit hat, kann sie bislang trotz massiver Angriffe halten. Das Nahziel der russländischen Angriffe ist klar: Časiv Jar, die nächste größere Siedlung westlich von Bachmut. Das eigentliche Ziel aber sind Slovjans’k und Kramators’k.
Der Preis, den Russland für die Geländegewinne zu zahlen hat, ist hoch. Die Armee verliert zwar nicht in jenem exorbitanten Ausmaß Soldaten, wie dies im Fall des Sturms auf Bachmut im Winter 2022/2023 der Fall war. Aber es gibt immer wieder Hinweise darauf, dass bei den Angriffen auf die Anhöhen nordwestlich von Bachmut Sondereinsatztruppen der Nationalgarde als gut ausgebildete mobile Infanterie eingesetzt werden, was formal nicht erlaubt ist. Für alle Hügel und Sümpfe zwischen Bachmut und Časiv Jar werden diese Truppen nicht ausreichen. Man darf daher davon ausgehen, dass der aktuelle rasche Vorstoß zum Stehen kommt, sobald die Ukraine Reserven herangeführt hat. Dann stabilisiert sich die neue Frontlinie irgendwo zwischen den beiden Kleinstädten.
In Avdijivka sind die Kämpfe bereits etwas abgeflaut. Russland hat unter großen Verlusten einen minimalen Geländegewinn um die Stadt gemacht. Aber der Ukraine ist es in der ersten Dezemberwoche wider Erwarten doch gelungen, mit neuen Kräften die „Zangen“ abzuschneiden, die die letzte Versorgungslinie in die Stadt hatten kappen sollen.
Nordöstlich von Kupjans’k ist der kurze Vormarsch der russländischen Armee ebenfalls am Rand der schon lange umkämpften Siedlung Syn’kivka zum Stehen gekommen. Ebenso sieht es weiter östlich im Gebiet Luhans’k aus. Die russländische Armee greift zwar weiter von Kreminna aus – genauer: von der Kleinsiedlung Dibrova südwestlich der Stadt – in Richtung des Flusses Žerebecʼ an. Sie konnte einzelne ukrainische Stellungen einnehmen, aber von einem Durchbruch kann bislang keine Rede sein.
Die Ukraine hat ihrerseits bei Rabotine im Gebiet Zaporižžija erneut einen Vorstoß versucht, der jedoch aufgehalten wurde. Dabei hat sie einen weiteren Leopard-Panzer eingebüßt. Videos zeigen, wie russländische Soldaten in das nach Drohnenangriffen ausgebrannte Innere des Panzers und auf die dort verbliebenen Überreste der Leichen ukrainischer Soldaten schauen. Dies ist der erste „Beute-Leopard“, nachdem die russländischen Truppen einige Tage zuvor den ersten amerikanischen Bradley erbeutet hatten.
Im Gebiet Dnipropetrovs’k ist die Lage an der Front unverändert. Russland beschießt weiter täglich Cherson und zahlreiche Siedlungen am rechten Ufer des Dnipro, was regelmäßig zu Toten unter den dort verbliebenen Menschen führt. Die russländischen Militärblogger sind weiter sehr besorgt, dass die Ukraine südlich von Hola Prystan‘ über den Fluss setzen könnte oder auf der Kinburg-Halbinsel anlanden. Nach Angaben dieser Quellen beschießt die Ukraine von Očakiv aus die russländischen Einheiten auf der Kinburg-Halbinsel kontinuierlich mit Artillerie, und diesen fehlt es an Munition, um zu antworten.
Unter beständigem Beschuss durch Russland liegen auch zahlreiche Städte in jenem Teil des Donbass, der noch unter ukrainischer Kontrolle ist, ebenso im Nordosten des Gebiets Charkiv. Am 9. November starben etwa in Kupjans’k zwei Rentnerinnen beim Einschlag einer Granate.
See- und Luftkrieg
Die Ukraine hat die Angriffe auf russländische Schiffe mit Seedrohnen nahezu eingestellt – wohl wegen des schweren Wetters. In der ersten Dezemberwoche griff sie jedoch die Krim aus der Luft an. Ziel einer massiven Drohnenattacke am 5. Dezember waren die Anlagen der russländischen Flugabwehr, die den Hafen von Kerč‘ und die Krimbrücke schützen sollen. Moskau spricht von 35 Drohnen, die abgeschossen oder elektronisch abgefangen worden seien. Es gibt jedoch Bilder, die davon zeugen, dass mehrere Flugobjekte eingeschlagen sind und Brände ausgelöst haben.
Ein großer Erfolg für die Ukraine war der Abschuss eines russländischen MiG-Kampfflugzeugs über dem Schwarzen Meer nahe der Schlangeninsel am 6. Dezember. Er löste in russländischen Militärkreisen eine Debatte aus, ob die Ukraine über einen neuen Raketentyp aus eigener Produktion oder aus einer nicht bekanntgegebenen westlichen Lieferung verfügt.
Russland setzt seine Attacken mit Angriffsdrohnen und Raketen fort. Offenbar wird in der Drohnenfabrik in Elabuga nicht einfach eine Replik der iranischen Shahed-Drohne hergestellt, sondern unter dem Namen Geran‘-2 firmiert ein neues unbemanntes Objekt. Anders als der Prototyp ist diese Drohne mit einem Raketentriebwerk ausgestattet, so dass sie statt der 200 km/h des Ausgangstyps eine Geschwindigkeit von 600 km/h erreicht. Sollte diese Drohne bereits im Einsatz sein, würde dies erklären, warum die Abschussrate der ukrainischen Luftabwehr zurückgegangen ist. Angeblich werden auf diese Drohne thermobarische Sprengköpfe mit einem Gewicht von 40 Kilogramm montiert. Dies würde den Umkreis erheblich vergrößern, in dem bei einem Einschlag – etwa bei Angriffen auf Umspannstationen, Lagerhallen oder Treibstofftanks – massive Schäden entstehen.
Welche Schäden Russland in der Ukraine anrichtet, ist heute viel schlechter nachzuvollziehen als vor einem Jahr. Die Ukraine berichtet nur noch über die Gesamtzahl der Drohnen einer Nacht und über die Zahl der abgefangenen Flugobjekte. Die Differenz ergibt die Zahl der Einschläge. Auskunft über Schäden an konkreten Einrichtungen erteilt sie jedoch nicht mehr. Dass es Zerstörungen am Energiesystem gibt, zeigen die immer sorgenvolleren Berichte des Stromversorgers Ukrenergo. In der ersten Dezemberwoche teilte dieser zwei Mal mit, dass zur Netzstabilisierung dringend Strom aus den Nachbarstaaten benötigt werde. Welche Kraftwerke aus welchen Gründen keinen Strom einspeisen können, bleibt unklar.
Schwierigkeiten scheint Russland mit der Produktion neuer Raketen zu haben. Der letzte Angriff mit Raketen vom Typ Kalibr, die der ukrainischen Flugabwehr besondere Probleme bereiten, fand am 25. September statt. Damals wurden 12 dieser Waffen eingesetzt. Viel seltener sind die ebenfalls modernen Oniks-Raketen. Am 30. Oktober und am 6. November schoss Russland je zwei davon auf Ziele in der Ukraine, am 11. November eine solche Rakete. Dieses Muster gibt es seit August – und die Ziele liegen jeweils um Odessa. Für die Ukraine bedeutet die geringe Zahl der Angriffe, dass sie weniger der teuren westlichen Abfangraketen verschießen muss und einen Vorrat anhäufen kann.
Anschläge auf Verräter
Den ukrainischen Geheimdiensten ist es in der ersten Dezemberwoche gelungen, zwei zum Gegner übergelaufene ehemalige Politiker umzubringen. In einem Sanatorium im Umland von Moskau wurde am 7. Dezember der aus dem „Rechten Sektor“ stammende ehemalige Abgeordnete der Verchovna Rada Igor‘ Kiva erschossen. In Luhans’k starb bei einem Anschlag auf sein Fahrzeug der langjährige Abgeordnete des sogenannten Volkssowjets der „Volksrepublik Lugansk“ Oleg Popov, der den Ausschuss mit dem bemerkenswerten Namen „Komitee für Staatssicherheit und Verteidigung, Arbeit mit den Rechtsschutzorganen und dem Justizsystem, für Legalität sowie Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger“ geleitet hatte. Der Anschlag auf Kiva machte erneut deutlich, dass nicht diejenigen ins Visier genommen werden, die in der Ukraine besonders hohe Funktionen bekleidet hatten, sondern jene, die heute in Russland besonders häufig in Talkshows zum Krieg auftreten.
Zwangsmobilmachung in der Ukraine
Die politische Führung der Ukraine hat sich gegen den Versuch entschieden, die dringend benötigten neuen Soldaten durch eine neue Anwerbekampagne zu rekrutieren. Stattdessen setzt sie auf Zwangsmobilmachung. Zu Beginn des Krieges waren die Reihen der Armee mit Freiwilligen gefüllt worden, dann kamen unsystematische Einberufungen hinzu. Jetzt gehen die Wehrämter systematisch vor. Besonders im Fokus sind private Sportzentren. An mehreren Orten tauchten Gruppen von bis zu 20 Mitarbeitern der Wehrämter, Polizisten und Vertreter anderer Behörden auf, um Männer einzuziehen.
Gleichzeitig ist die von Präsident Zelens’kyj verkündete Umstellung von Gegenoffensive auf Verteidigung von großer Bedeutung für die Gewinnung neuer Soldaten. Es handelt sich praktisch um ein Versprechen, dass die Soldaten nicht für verlustreiche Angriffe auf die russländischen Stellungen eingesetzt werden, die im Sommer und Herbst 2023 ohne Ergebnis die Kampfstärke der ukrainischen Armee massiv geschwächt haben.
Blick in die Zukunft
Dies trägt dazu bei, dass in der Ukraine ein neuer, schmerzhafter politischer Konsens entsteht: Das aktuelle Kriegsziel lautet nicht mehr „Befreiung des gesamten Territoriums in den Grenzen von 1991“, sondern „Verteidigung der gehaltenen Gebiete“. Immer weniger ist vom Schutz der Menschen in den besetzten Gebieten die Rede, immer mehr vom Schutz der Soldaten an der Front. An die Stelle des Tabus, das Zweifel am baldigen vollständigen Sieg der Ukraine verboten hatte, rückt eine nüchterne Einschätzung des eigenen Potentials sowie der Möglichkeiten des Gegners. Präsident Zelens’kyj formuliert jedoch auch, dass Verteidigung keinen Erfolg hat, wenn man dem Gegner die Initiative überlässt und es ihm erlaubt, sich festzusetzen.
Am 8. Dezember erklärte Vladimir Putin bei einer feierlichen Versammlung zur Verleihung der Orden „Held-Russlands“ an Teilnehmer der „Spezialoperation“ oder deren Witwen seine „Kandidatur“ für eine neue Amtszeit. Die Botschaft ist klar: Ziel der Bestätigung im Amt ist der Sieg über die Ukraine. Wie der alte und neue Amtsinhaber nach der „Wahl“ im März 2024 dieses Wahlversprechen konkret auslegt, ist offen. Fest steht aber, dass der „Kandidat“ in den nächsten vier Monaten schon einmal erste Erfolge wird vorweisen wollen. Damit muss die Ukraine rechnen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.