Vorstoß der ukrainischen Armee in das Gebiet Kursk

Nikolay Mitrokhin

Die ukrainische Armee hat eine neue Front eröffnet und ist in das russländische Gebiet Kursk vorgestoßen. Sie hat ein tiefes Loch in die Verteidigungsanlagen an der Grenze gerissen, ist 30 Kilometer vorgerückt und hat zwei Kreisstädte eingenommen. Weitere Städte könnten folgen, darunter Kurčatov, wo sich das AKW Kursk befindet. Kann die Ukraine das eroberte Territorium halten – es handelt sich bereits um rund ein Viertel des Gebiets Kursk – ist dies ein erhebliches Faustpfand bei möglichen Verhandlungen über die Rückgabe der von Russland okkupierten ukrainischen Gebiete.

8.8.2024

Einheiten der ukrainischen Armee haben in den frühen Morgenstunden des 6. August die Grenze zu Russland überschritten und sind im Südwesten des Gebiets Kursk auf russländisches Territorium vorgestoßen. Der Angriff hat eine ganz andere Dimension als die beiden Ausfälle auf das Gebiet Belgorod im Frühjahr und Sommer 2023.

Um die Mittagszeit des 8. August stellt sich die Lage so dar: Die ukrainischen Einheiten haben ein zehn Kilometer breites Loch in die russländischen Verteidigungsstellungen entlang der Grenze geschlagen und sind 35 Kilometer in die Tiefe vorgestoßen. Sie haben in den Landkreisen Sudža und Korenevo mindestens 20 Orte eingenommen, darunter offenbar bis zum Morgen des 8. August auch die Kreisstadt Sudža. Das historische Städtchen war im Jahr 1918 für einige Monate die erste Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Heute ist es ein grenznaher Verkehrsknotenpunkt, durch den auch eine über die Ukraine nach Mitteleuropa führende Erdgasleitung verläuft. Korenevo, das Verwaltungszentrum des benachbarten Landkreises, ist eine Arbeitersiedlung. Um diese finden ebenfalls aktuell schwere Kämpfe statt.

Die ukrainischen Truppen, die rasch entlang von mindestens zwei Straßen vorstoßen, könnten in Kürze vor Ryl‘sk und dem weiter östliche gelegenen L’gov stehen –zwei der vier größten Städte des Gebiets Kursk. Sie haben bereits zwischen 150 und 300 Gefangene genommen – überwiegend Wehrpflichtige sowie Grenzschützer – und mindestens zwei Hubschrauber sowie zwei Panzer des Gegners zerstört. Die Verluste der russländischen Einheiten seien nach den im Militärkanal Rybar‘, der gezielt Informationen des Militärischen Auslandsgeheimdienst GRU weitergibt, gewählten Worten „inakzeptabel“ und vergleichbar mit Verlustraten, „wie man sie aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts kennt“.

Zu ukrainischen Verlusten gibt es lediglich unglaubwürdige Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums. Dieses sprach schon am Morgen des 7. August von 100 ukrainischen Toten und 500 Verletzten. Zudem seien 82 Fahrzeuge zerstört worden. Alles spricht dafür, dass diese Zahlen frei erfunden sind. Solange die Kämpfe in Gange sind, ist niemand in der Lage, die Verluste des Gegners genau zu erfassen. Videobeweise hat das Ministerium keine vorgelegt. Gesichert ist nur, dass am 6. August eine ukrainische Kolonne aus sechs Fahrzeugen, die sich von Sudža in Richtung Korenevo bewegte, unter Beschuss geraten ist.

Durch das riesige Loch in der Grenzverteidigung strömen nun weitere ukrainische Einheiten. Unter diesen befinden sich offenbar die 80. und die 82. Luftlandebrigade sowie die 22. und die 61. mechanisierte Brigade. Russland droht ein Verlust von einem Viertel des Gebiets Kursk. Das AKW Kursk in der 40 Kilometer östlich der Gebietshauptstadt gelegenen Stadt Kurčatov liegt angesichts der bisherigen Geschwindigkeit des Vorstoßes ebenfalls in der Reichweite der ukrainischen Truppen.

Sudža war in den Analysen des Kriegsgeschehens erstmals Anfang 2024 aufgetaucht. Damals galt es als möglicher Ausgangspunkt eines russländischen Angriffs auf das ukrainische Gebiet Sumy. Nachdem die ukrainische Armee jedoch im Mai den Vorstoß auf das Gebiet Charkiv nach kurzer Zeit hatte zurückschlagen können, wurden aus der in Sudža zusammengezogenen Armeegruppe Truppen nach Vovčans’k verlegt, um einen kompletten Verlust des okkupierten Territoriums im Norden des Gebiets Charkiv zu verhindern. Vieles spricht dafür, dass die Ukraine spätestens seit dieser Zeit das Grenzgebiet mit Drohnen und mittels Satellitenaufklärung genau überwacht und eine Vorstellung von der Stärke der dort stationierten russländischen Truppen und ihrer Bewaffnung hat.

Gering war diese nicht: das Personal eines großen Grenzübergangs; mit Wehrpflichtigen aufgefüllte motorisierte Schützeneinheiten, die über schultergestützte Panzerabwehrwaffen verfügen; Einheiten der Nationalgarde, konkret tschetschenische Zeitsoldaten der „Achmat“-Truppen; schließlich Freiwilligenkorps der örtlichen Bevölkerung, die sofort nach dem Vorstoß der ukrainischen Armee mobilisiert wurden. Die Grenze wurde auch mit aus der Distanz operierenden Artilleriegeschützen und Raketen gedeckt. Doch dies Kräfte genügten nicht, um die ukrainischen Einheiten aufzuhalten, die zuvor unbemerkt an der Grenze zusammengezogen worden waren. So unbemerkt kann dies allerdings gar nicht gewesen sein, denn es war offensichtlich, dass die Ukraine zur Abwehr des erwarteten russländischen Angriffs auf das Gebiet Sumy dort Soldaten zusammengezogen und diese auch dann nicht abgezogen hatte, als der Angriff ausgeblieben war. Wenige Tage vor dem jetzigen Vorstoß in das Gebiet Kursk hatte der ebenfalls dem GRU nahestehende Militärkanal Dva Majora davor gewarnt, die Ukraine könne versuchen, durch einen Vorstoß entlang der Grenze die im Norden des Gebiets Charkiv stehenden russländischen Einheiten vom Hinterland abzuschneiden.

Angeblich wenden die gut ausgestatteten ukrainischen Truppen auch eine neue Taktik an: Einheiten der elektronischen Kriegsführung werden an die vorderste Front verlegt, um Drohnen des Gegners zu stören. Gleichzeitig spielen unbemannte Flugkörper für den eigenen Angriff eine zentrale Rolle. Mit ihnen werden die Stellungen des Gegners angegriffen, Soldaten rücken erst vor, wenn der Gegner von dort vertrieben wurde. Die mit Drohnen errungene Luftüberlegenheit der Ukraine ist von entscheidender Bedeutung. Mit diesen haben die ukrainischen Truppen die von Sudža nach Osten führende Straße vermint, über die eine Heranführung von russländischen Truppen zu erwarten war. Genau dies versuchte Russland dann auch. Doch am Abend des 6. August wurden Truppen, die das Loch in der Grenzverteidigung schließen sollten, zurückgeworfen, zwei Panzer wurden zerstört.

Den geringsten Widerstand zeigten die Wehrpflichtigen der motorisierten Schützendivision, was sich an zahlreichen Gefangenen aus ihren Reihen erkennen lässt. Die Grenztruppen leisteten heftigeren Widerstand, obwohl sie nur über leichte Waffen verfügen. Die „Achmat“-Einheit, deren Männer noch vor einer Woche auf dem zentralen Platz von Sudža einen tschetschenischen Lezginka-Tanz aufführten, haben wie von allen erwartet reagiert: Sie sind sofort nach Beginn der Kampfhandlungen nach Kursk geflüchtet.

Die Reaktionen

Die offiziellen Reaktionen fielen in Russland wie in der Ukraine und auch in vielen anderen Staaten bislang äußerst zurückhaltend aus. Offizielle ukrainischen Stellen geben nahezu keine Informationen zu dem Vordringen der Armee bekannt. Russlands Präsident Putin hat der Ukraine anders als in früheren Fällen nicht mit einem Atomschlag gedroht. Er berief lediglich eine Sondersitzung des Sicherheitsrats ein, die die Verlegung von Truppen beschloss. Wenn der unveröffentlichte Teil des Lageberichts, den Generalstabschefs Gerasimov ablieferte, ebenso beruhigend klag, wie der veröffentlichte, dann hat der Diktator den Ernst der Lage vielleicht noch gar nicht verstanden.

Europäische und US-amerikanische Politiker, die sich zu dem Geschehen äußerten, haben sich darauf beschränkt festzuhalten, dass die Ukraine ein Recht habe, sich gegen die Aggression Russlands zu verteidigen – auch auf dem Territorium des Gegners.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin