"Eine neue Generation von Demonstranten"
Grigorij Ochotin, 1.2.2021
Seit der Verhaftung von Aleksej Naval'nyj am 17. Januar 2021 gibt es in ganz Russland Proteste für seine Freilassung. Die Behörden reagieren mit Repressionen. Über zehntausend Menschen wurden verhaftet. Die Hintergründe der Verhaftungen sowie den Missbrauch des Rechts analysiert Grigorij Ochotin. Der Gründer von OVD-Info unterstreicht: Versammlungsfreiheit ist ein Menschenrecht.
Osteuropa: Am 23. und 31. Januar 2021 kam es in Russland bei Protesten gegen die Verhaftung von Aleksej Naval’nyj zu massenhaften Festnahmen. Was wissen Sie darüber? Wie viele Menschen wurden wo festgenommen? Welche Gruppen sind vor allem betroffen?
Grigorij Ochotin: Ich will kurz vorausschicken, dass OVD-Info kein soziologisches Institut ist. Wir untersuchen nicht die Proteste als solche. Unser Hauptanliegen ist die Verteidigung des Rechts auf Versammlungsfreiheit. Wir beobachten die Festnahmen bei Demonstrationen und unterstützen die Betroffenen mit Informationen und rechtlichem Beistand. In Bezug auf die Proteste kann man aus unseren Daten daher nur indirekte Schlüsse ziehen. Aber immerhin.
Also was wissen wir?
Am 23. Januar haben wir 4033 Festnahmen in mindestens 125 Städten gezählt, am 31. Januar 2021 waren es 5754 in 86 Städten. Es ist nicht zu übersehen, dass die Ereignisse sich nicht mehr auf Moskau und Petersburg und auch nicht auf die übrigen Großstädte beschränken; an den Protesten ist diesmal das ganze Land beteiligt. Am 23. Januar fanden Demonstrationen in mindestens 170 Städten in ganz Russland statt.
Zweitens sind es nicht mehr nur die „üblichen Verdächtigen“, das „Protestpersonal“, das sich über die letzten Jahre herausgebildet hat, die auf die Straße gehen. Das sehen wir sowohl daran, wer alles festgenommen wurde, als auch daran, wie viele neue Abonnenten unser Online-Rechtsberatungstool auf Telegram hat. Über 100 000 sind in den letzten zwei Wochen dazugekommen. In Moskau lässt sich dieser Befund übrigens bereits belegen: Laut einer Blitz-Umfrage, die eine Gruppe von Soziologen unter der Leitung von Aleksandr Archipov und Aleksej Zacharov am 23. Januar unter Demonstranten auf dem Puškin-Platz durchgeführt hat, nahmen 42 Prozent der Befragten zum ersten Mal an einer Protestaktion teil, der Altersdurchschnitt lag bei 31 Jahren.
Man sieht daran auch, dass die Demonstranten beileibe keine Kinder sind. Die Kremlpropaganda behauptet ja, es seien vor allem Schüler, die dieser Tage auf die Straße gehen, und die Organisatoren der Proteste seien nicht viel besser als Terroristen (das sind Putins Worte), weil sie Minderjährige in „rechtswidrige Handlungen“ hineinzögen. Aus Sicht der Machthaber ist Demonstrieren rechtswidrig, wie überhaupt jede politische Aktivität!
Das entspricht nicht den Tatsachen: nach unseren Daten sind unter den Festgenommenen um die 200 Jugendliche, das entspricht einem Anteil von fünf Prozent. Wenn man berücksichtigt, dass die Festgenommenen höchstens zwei Prozent der Protestteilnehmer insgesamt ausmachen und die Polizei zudem gezielt Jugendliche festgenommen hat, ergibt sich real ein verschwindend kleiner Anteil von Schülern unter den Demonstranten.
Osteuropa: Wie viele der Festgenommenen sind noch nicht wieder freigelassen worden? Mit welchen Sanktionen müssen sie rechnen?
Ochotin: Auf den Polizeiwachen dürfen Festgenommene nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden. Dort sitzen jeweils nur die „Neuzugänge“, die derzeit oft auch erst Tage nach einer Demonstration abgeholt werden. Die häufigsten Vorwürfe sind Teilnahme an einer „nicht genehmigten Aktion“, Rufen von Parolen, Behinderung des Straßenverkehrs, Widerstand gegen rechtmäßige Forderungen von Einsatzkräften, Verstoß gegen die örtlichen Hygienevorschriften; ein ganzes Arsenal von Paragraphen aus dem föderalen und regionalen Ordnungswidrigkeitsrecht wird da angewendet. Dieses sogenannte „administrative“ Recht sieht in Russland mildere Strafen vor als das Strafrecht, in jedem Fall drohen den Festgenommenen aber hohe Geldstrafen. Bei der ersten Festnahme sind es meist bis zu 20 000 Rubel, „Wiederholungstäter“ müssen mit bis zu 300 000 Rubeln rechnen. Das entspricht etwa 210 beziehungsweise 3300 Euro. Einige dieser „Vergehen“ können auch mit Arreststrafen von bis zu 30 Tagen geahndet werden – wie viele der festgenommenen Demonstranten davon aktuell betroffen sind, überblicken wir noch nicht, aber es geht um Hunderte. In Moskau sind die sogenannten „Spezialhaftanstalten“ (specpriemnik), wo diese Arreststrafen gewöhnlich verbüßt werden, schon überfüllt. Die Behörden nutzen jetzt zusätzlich Abschiebegefängnisse für Migranten, und auch dort reicht der Platz nicht mehr.
Neben diesen sehr schnell verhängten Arreststrafen gibt es aber auch reguläre Strafverfahren im Gefolge der Demonstrationen. Derartige Verfahren sind schon in 19 Städten eröffnet worden, Dutzende Personen sind davon betroffen, die Verhöre, Durchsuchungen und Verhaftungen sind in vollem Gang.
Ein relativ neuer juristischer Knüppel, der potentiell Tausende Teilnehmer der Proteste treffen kann, sind die Strafverfahren wegen Blockierens von Straßen und Gehwegen, wie sie jetzt in drei Städten eröffnet wurden. In Moskau geht es um den Puškin-Platz, in Petersburg um den Nevskij-Prospekt, in Vladivostok um mehrere Straßen im Zentrum, die von Demonstranten blockiert worden sein sollen. Der entsprechende Artikel im Strafgesetzbuch wurde erst im Dezember 2020 novelliert und zu einem „Gummiparagraphen“ gemacht: Er umfasst ein so weites Feld von Tatbeständen, dass seine Anwendung vollkommen unvorhersehbar ist. Aus unserer Sicht sind diese Strafverfahren natürlich politisch motiviert, und das Gesetz selbst ist rechtswidrig. Denn zum einen sorgen die Behörden selbst dafür, dass die Leute auf der Fahrbahn stehen und gehen, indem die Polizei zum Beispiel vorgesehene Routen sperrt oder Demonstrationszüge gewaltsam auflöst. Am vergangenen Sonntag, den 31. Januar, wurde in Moskau das ganze Stadtzentrum abgesperrt, mehrere Metrostationen waren blockiert.
Aber selbst wenn sich ein Protestzug auf der Straße bewegt oder Menschen auf einem Platz demonstrieren, darf man das nicht einfach kriminalisieren. Nach der gängigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es für die Behörden unzulässig, deshalb die Versammlungsfreiheit einzuschränken. In Russland sieht das novellierte Gesetz nun Strafen von bis zu einem Jahr Freiheitsentzug vor.
Osteuropa: Wird nicht auch die Corona-Bekämpfung instrumentalisiert?
Ochotin: Doch. Eine weitere Neuheit der Saison sind Anklagen wegen der Verbreitung von Covid-19. In Moskau wurde ein Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Hygieneverordnung eingeleitet. Die Anklage lautet auf Verstoß gegen epidemiologische Vorschriften und massenhafte Verbreitung der Infektion. Ermittelt wird gegen mehrere Dutzend Mitstreiter und Anhänger von Aleksej Naval’nyj – Journalisten, Blogger, Aktivisten, Schauspieler und Schriftsteller –, die wie viele andere zu Protesten gegen Naval’nyjs Inhaftierung aufgerufen haben. Es gab bereits mehr als zehn Hausdurchsuchungen und Festnahmen, unter Hausarrest gestellt wurden Naval’nyjs Bruder Oleg und die Produzentin des YouTube-Kanals Navalny LIVE Ljubov’ Sobol’. Auch Marija Alechina von der Band Pussy Riot und die Vorsitzende der unabhängigen Ärztegewerkschaft Al’jans vračej Anastasija Vasil’eva wurden festgenommen. Die Anklage beruht auf Daten des sogenannten Social Monitoring (social’nyj monitoring). Das ist eine App, die Corona-Infizierte in Moskau verpflichtend installieren müssen – übrigens ein ziemlich dysfunktionales Ding. Dabei ist offensichtlich, dass die Verhaftungen unter epidemiologischen Gesichtspunkten erheblich riskanter waren als jede Teilnahme an einer Protestaktion: Die Festgenommenen mussten Stunden in überfüllten Transportern und auf Polizeiwachen zubringen, in denen die Hygieneregeln nicht befolgt wurden und man den Inhaftierten nach ihrer Aussage oft gewaltsam die Masken herunterriss. Mit diesem „Covid“-Verfahren sind potentiell Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren verbunden – oder mehr, wenn der inkriminierte Verstoß zum Tod eines Menschen geführt hat. Nach meinem persönlichen Eindruck allerdings besteht das Ziel hier eher darin, Prominenten Angst einzujagen, die zu weiteren Protesten aufrufen könnten, und darin, Naval’nyjs wichtigste Mitstreiter zu isolieren.
Die übrigen Verfahren – wegen Störung der öffentlichen Ordnung („Rowdytum“), Gewalt gegen Polizisten und anderen Delikten – sind bisher eher punktueller Art. Auch hier laufen schon Verhaftungen, aber betroffen sind jeweils nur einzelne Personen. Ausschreitungen gegen Polizisten wurden tatsächlich hier und da dokumentiert, aber im Verhältnis zur Größe der Demonstrationen waren das sehr wenige Fälle, und auch diese Strafverfahren sind politisch motiviert. Zum einen haben die Einsatzkräfte selbst eine Situation hergestellt, in der es fast unausweichlich zu Gewalt kommen musste: indem sie nicht die nötigen Bedingungen für einen sicheren Ablauf der Demonstrationen gewährleisteten sowie durch die unverhältnismäßig brutalen Festnahmen und die gewaltsame Auflösung der Versammlungen. Zum anderen haben wir unzählige Fälle von gezielter Gewalt seitens der Einsatzkräfte dokumentiert – Strafverfahren wurden aber bisher nur gegen Teilnehmer der Proteste eröffnet, nicht gegen Sicherheitskräfte.
Osteuropa: Beobachten Sie einen Zuwachs an Brutalität bei den Festnahmen?
Ochotin: Für viele Städte ist schon die bloße Tatsache, dass es Festnahmen gab, ein Novum. Für Moskau, Petersburg und einige andere Städte dagegen ist das schon Routine, so wie auch die Polizeigewalt. Bisher haben wir es noch nicht unbedingt mit Gewalt im „belarussischen Stil“ zu tun. Die Polizei wendet zwar sowohl bei den Festnahmen als auch auf den Wachen Gewalt an, sie verstößt gegen alle möglichen Gesetze und Menschenrechte, aber bisher scheint die Anweisung nicht zu sein, mit äußerster Brutalität vorzugehen. Ein Strafverfahren gegen einen Polizisten hat es in Russland wegen solcher Vergehen leider noch nie gegeben – auch nach dem Vorfall von 23. Januar, als ein Mitglied der Sondereinsatzkräfte einer 54-jährigen Frau mit voller Wucht in den Bauch trat, wurde bisher keine Anklage erhoben. Und es gibt Dutzende und Hunderte andere Fälle.
Osteuropa: Die Zahl der politischen Gefangenen in Russland ist in den letzten Jahren gewachsen. Wie viele gibt es aktuell, und welches sind die bekanntesten Fälle?
Ochotin: Sehr viele Menschen werden politisch verfolgt. OVD-Info befasst sich nicht mit der Anerkennung des Status, das macht in Russland das Menschenrechtszentrum Memorial. Bei Memorial werden aktuell 351 Personen als politische Gefangene geführt. In unserer Datenbank zu politisch motivierten Strafverfahren (www.politpressing.org), die die Memorial-Liste mit einschließt, sind es aktuell 627 Personen, die weiterhin verfolgt werden. Bei Memorial wird jeder einzelne Fall sorgfältig analysiert. Die Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums studieren die Gerichtsakten, diskutieren und stimmen über jeden Fall ab – das braucht seine Zeit. Wir dagegen sammeln und verbreiten einfach nur Informationen über sämtliche Verfahren, die nach unseren Kriterien als politisch gelten können. Das ist weiter gefasst als bei Memorial, und wir können schneller reagieren. Aber selbst unsere Zahlen bleiben ganz offensichtlich hinter der Realität zurück. Wir wissen nicht alles, und wir durchschauen nicht alles: Repressionen innerhalb der Machteliten zum Beispiel sind für uns schwer einzuschätzen, und solche Fälle gibt es häufig – man denke nur an den abgesetzten Gouverneur des Gebiets Chabarovsk, Sergej Furgal.
Unter den neuen Fällen ist der aufsehenerregendste natürlich Aleksej Naval’nyj. Bei seiner Verhaftung am 17. Januar gab es wirklich alle möglichen Verfahrensverstöße, das war selbst nach russischen Maßstäben irre. Ein anderer Fall ist der von Azat Miftachov, einem Doktoranden der Fakultät für Mathematik an der Moskauer Staatlichen Universität, der just am Tag von Naval’nyjs Festnahme zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Er und zwei Mitangeklagte sollen in einem Stadtteilbüro der Partei Einiges Russland mit einer Rauchgranate ein Fenster eingeworfen haben. Ihre Schuld wurde nicht nachgewiesen, Miftachov wurde gefoltert.
Osteuropa: Was ist OVD-Info, wer steht hinter der Organisation, und wie arbeiten Sie?
Ochotin: Wir sind eine Watchdog-Organisation, die für das Recht auf Versammlungsfreiheit kämpft. Ins Leben gerufen wurde OVD-Info im Dezember 2011, als Reaktion auf die massenhaften Festnahmen bei der damaligen ersten Demonstration gegen die gefälschten Parlamentswahlen.[1] Anfangs war es eine rein ehrenamtliche Sache, eine Initiative von zwei Leuten, meinem Freund, dem Programmierer Daniil Bejlinson, und mir.
Heute hat OVD-Info ungefähr 40 feste Mitarbeiter – Journalisten, Juristen, Analytiker, Programmierer. Ich sage „ungefähr“, weil wir derzeit fast jeden Tag neue Leute rekrutieren, um auf die riesige neue Welle von Festnahmen und Repressionen reagieren zu können.
Im Wesentlichen sind wir aber immer noch ein ehrenamtliches Projekt: Ohne freiwillige Mitarbeiter könnten wir die Informationen über massenhafte Festnahmen nicht so schnell wie möglich verarbeiten. Während der Proteste am 23. Januar haben bei uns 170 ehrenamtliche Mitarbeiter die Ereignisse verfolgt. Seit dem 23. haben sich um die 1300 neue Freiwillige bei uns gemeldet.
Ein ganz wichtiger Teil von OVD-Info sind schließlich die rund hundert Juristen und Anwälte, mit denen wir zusammenarbeiten, in Moskau und auch in anderen Städten von Chabarovsk bis Petersburg.
Eigene Stützpunkte in den Regionen haben wir nicht, wir kooperieren lieber mit schon vorhandenen Initiativen und Bürgerrechtsgruppen, als eigene zu gründen. Auf jeden Fall sind wir so im ganzen Land präsent. Wir bekommen Informationen aus allen Städten, unsere Online-Angebote kann man überall nutzen, und in immer mehr Städten gibt es Anwälte, die mit uns arbeiten.
Osteuropa: Was sind Ihre wichtigsten Arbeitsfelder? Und worin unterscheidet sich OVD-Info von anderen Menschenrechtsorganisationen?
Ochotin: Wir vereinigen zwei Funktionen: Wir sind ein Medienprojekt und ein Menschenrechtsprojekt. Als Medium vertreten wir eine klare Position. Wir publizieren keinen konsumierbaren „content“, sondern Informationen, die man weiterverwenden kann, und immer wieder auch Solidaritätsaufrufe, Petitionen, Kampagnen. Wir wollen die Menschenrechte schützen. Und Informationen zur Verfügung zu stellen, halten wir für die wirksamste Methode im Kampf für unsere Rechte.
Im Grunde ist genau das unsere zentrale Botschaft: Information schützt. Wir dokumentieren Tag für Tag in Echtzeit die politischen Repressionen in Russland, ganz trocken und empirisch. Das allein ist eine Menge Arbeit – zu normalen Zeiten veröffentlichen wir durchschnittlich 15 Nachrichten am Tag. Wir sind in diesem Sinn eine Art Nachrichtenagentur, denn unsere Informationen werden anschließend von anderen Medien aufgegriffen und weit verbreitet.
Unsere zweite Schiene ist die juristische Unterstützung. Hier konzentrieren wir uns ausschließlich auf unzulässige Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Unsere Anwälte fahren im Fall von Festnahmen auf die Polizeiwachen, unsere Juristen übernehmen die Verteidigung, wenn Leute wegen Ordnungswidrigkeiten vor Gericht landen. Auch die Strafverfahren von Leuten, die wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen belangt werden, führen wir. Daneben entwickeln wir Online-Rechtsberatungstools und Instruktionen, damit jeder Bürger in Russland seine Versammlungsfreiheit verteidigen kann, auch dort, wo wir keine Juristen vor Ort haben. All diese Angebote werden sehr viel genutzt.
Unser dritter Arbeitsbereich ist die Analyse, wir sind sozusagen ein kleiner Think Tank zum Thema Versammlungsfreiheit. Wir sammeln und analysieren eine riesige Menge an Informationen, die wir einerseits zu Berichten und Artikeln bündeln, andererseits in offenen Datenbanken zugänglich machen, für andere Bürgerrechtler oder für die Forschung. Wir sind überzeugt, dass Wissen nicht nur schützt, sondern auch etwas verändert. Damit sich in der Zukunft etwas ändert, müssen wir die Probleme der Gegenwart möglichst detailgenau verstehen und dieses Wissen an möglichst viele Experten, Wissenschaftler, Journalisten und Politiker weitergeben.
Der vierte Bereich liegt am Schnittpunkt von Recht und Analyse, da ist unsere politische Arbeit (advokacy) angesiedelt. Wir bemühen uns, die wichtigsten internationalen Organisationen und Institutionen wie etwa den Europarat oder den UN-Menschenrechtsrat über den Zustand der Versammlungsfreiheit in Russland auf dem Laufenden zu halten. Aber auch innerhalb Russlands verfolgen wir unsere Ziele. So ist es uns in Dutzenden von Fällen gelungen, Einfluss auf die Gesetzgebung der föderalen Subjekte zum öffentlichen Versammlungsrecht zu nehmen: Wir haben die vor Ort geltenden Regelungen analysiert, Verstöße gegen die föderale Gesetzgebung identifiziert und das Verfassungsgericht eingeschaltet, woraufhin die Bestimmungen letztlich geändert wurden. Unglücklicherweise ist in Russland allerdings die Rechtsprechung sehr viel wichtiger als die Gesetzgebung! Trotzdem zeigt dieses Beispiel, dass es selbst in einem autoritären Staat nicht unmöglich ist, etwas zu ändern.
Osteuropa: OVD-Info und das Menschenrechtszentrum Memorial arbeiten eng zusammen – wie genau verhalten sich die beiden Organisationen zueinander?
Ochotin: Memorial ist unser wichtigster Partner, der uns unter anderem mit Infrastruktur unterstützt. Unsere Zusammenarbeit schließt aber auch andere Bereiche ein: Bei Memorial gibt es sehr kompetente Juristen, deshalb reichen wir Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gemeinsam ein. Es dauert oft sehr lange, bis wir die Repressionswellen, die jeden Protest begleiten, juristisch aufgearbeitet haben – im Zusammenhang mit den Verhaftungen und Prozessen vom Sommer 2019, als gegen die Nichtzulassung oppositioneller Kandidaten zur Wahl der Moskauer Stadtduma demonstriert wurde, haben wir erst kürzlich die 551. Beschwerde beim EGMR eingereicht. Nach den aktuellen Ereignissen wird diese Zahl sicher in die Tausende gehen.
Osteuropa: Wie kann man OVD-Info von Deutschland aus unterstützen?
Ochotin: Zum einen, indem man spendet: Über die Seite <https://donate.ovdinfo.org/en> geht das per Kreditkarte oder Paypal von jedem beliebigen Ort auf der Welt aus. Wir finanzieren uns ausschließlich über private Zuwendungen. Zum anderen, indem man unsere Informationen weiterverbreitet – sie ins Deutsche übersetzt, in den Medien davon berichtet, in den sozialen Netzwerken teilt. Ich kenne Deutschland gut und mag das Land sehr. Ich weiß jedoch auch, dass in Deutschland, selbst unter Experten, die Vorstellungen von Russland immer noch oft sehr holzschnittartig sind, es gibt zu wenige Leute, die die gesellschaftliche und politische Lage hier wirklich gut kennen.
Der Schwerpunkt unserer Aufklärungsarbeit liegt natürlich in Russland – aber Solidarität, auch internationale, hilft immer.
Stand 1.2.2021
Die Fragen stellte Volker Weichsel. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
[1] Grigorij Ochotin: Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 83–94.