Der Europarat muss die Mitgliedschaft Russlands jetzt suspendieren
28.2.2022
Russlands kriegerischer Angriff auf die Ukraine hat die Europäer aus dem Schlaf gerissen und die Träume von einem friedlichen Europa zerplatzen lassen. Nun gilt es Wege zu finden, um den Krieg möglichst schnell zu beenden, aber auch zu fragen, welche Fehler gemacht wurden und wie die Zukunft Europas als Wertegemeinschaft gestaltet werden kann. Dies gilt auch in der aktuellen Situation für den Europarat und die Europaratspolitik der Mitgliedstaaten. Es geht in dem Konflikt nicht nur um Territorien, sondern um Werte. Der Europarat ist Teil des Konflikts. Der Europarat, seine Ziele und Glaubwürdigkeit, werden von Russland spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im März 2014 bedroht. Bisher ist es nicht gelungen, Antworten auf die Taktik der russländischen Führung zu finden, die lange geschickt zwischen der Imitation der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie der Anfechtung dieser Prinzipien als völkerrechtlicher Verpflichtung lavierte. Nun ist Russland zu einer offenen Aggression übergegangen. Russland muss deshalb suspendiert werden.
Der Europarat und viele seiner Mitgliedstaaten müssen anerkennen, dass sie in der Auseinandersetzung mit Russland von falschen Prämissen ausgingen. Die Möglichkeiten des Europarats, das Verhalten Russlands zu beeinflussen, wurden überschätzt. Gleichzeitig wurde auch die Aggressivität der russländischen Führung unterschätzt. Insgesamt fehlte eine realistische Einschätzung der Interessen der russländischen Führung.
Täuschung und Enttäuschung
Mit Russlands Angriff auf die Ukraine ist der Europarat im Hinblick auf sein zentrales Ziel, den Frieden in Europa zu festigen, vorerst gescheitert. Nach der Annexion der Krim hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarats im April 2014 zunächst das Stimmrecht der russländischen Delegation suspendiert. 2019 erhielt Russland dieses Stimmrecht zurück – ohne dass Russland die Krim zurückgegeben oder andere Gegenleistungen erbracht hätte. Dieser Weg, Russland nicht länger mit Sanktionen zu belegen, sondern als Mitgliedstaat im Europarat zu halten, hat nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Insgesamt wurde der Anlass der Annexion der Krim nicht in hinreichendem Maße genutzt, um das Verhältnis des Europarats zu Russland neu zu ordnen. Zuletzt war der russländischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 26. Januar 2022 unter erheblichem Protest der Delegierten aus dem Baltikum, der Ukraine und Polen und trotz einer langen Liste von unbeantworteten Forderungen und Vertragsverletzungen das Mandat wieder erteilt worden.[1] Auch die deutsche Delegation hatte mehrheitlich dafür gestimmt.[2]
Dabei half das eingeführte Argument, die Mitgliedschaft Russlands sei trotz aller Probleme besser als der Ausschluss, weil auf der Basis der Mitgliedschaft jeder Völkerrechtsverstoß benannt werden könne. Die Mitgliedschaft eröffne ein Dialogforum und den russländischen Bürgerinnen und Bürgern auch den Weg zum Straßburger Gericht. Doch das Argument hat sich als Falle erwiesen. Diejenigen, die es verwendeten, handelten fahrlässig, weil sie das Argument, möglicherweise auch aus Angst vor einem Konflikt mit Russland oder aus falschen Hoffnungen, nicht ausreichend durchleuchteten. Am Ende führte der Wunsch, Russland im Europarat zu halten, dazu, Russland nicht entschieden genug entgegenzutreten. Das hat den Europarat geschwächt.
Fehlvorstellungen vom Europarat und der Mitgliedschaft
Die Idee, dass Russlands Mitgliedschaft im Europarat hilfreich für die Durchsetzung der Menschenrechte, der Rechtstaatlichkeit und der Demokratie in diesem Lande sei, ist falsch. Sie war ursprünglich mit dem Transformationsparadigma der 1990er Jahre verbunden. Die Prämisse lautete, dass die neuen Mitglieder aus Ostmittel- und Osteuropa grundsätzlich für die Ziele des Europarats eintreten und sie im eigenen Staat verfolgten.
Will ein Staat die Ziele nicht umsetzen, oder gar den Zielen entgegenarbeiten, kann der Europarat wenig ausrichten. Dies offenbart seine begrenzte Handlungsfähigkeit.
Der Europarat ist kein Dialogforum für Mörder und Diktatoren, sondern ein Club der Demokratien, die gemeinsam für ihre Werte kämpfen wollen, eine Organisation zur gemeinsamen Durchsetzung der europäischen Freiheit.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein zentraler Bestandteil der deutschen und der europäischen Menschenrechtsordnung und muss vor dem Einfluss von Autokraten geschützt werden, die sie zerstören wollen. Die europäische Grundrechtsordnung ist eine vernetzte Ordnung und wird durch die Aufnahme von Autokratien geschwächt.
Die vergangenen Jahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass Russland nicht an einem Dialog über die Ziele des Europarats interessiert ist. Gerade die Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung zeigen dies überdeutlich.
Nicht der Europarat hat Einfluss auf Russland genommen, sondern Russland hat den Europarat und den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz beschädigt. Zahlreiche Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung in Bezug auf Russland blieben ohne Wirkung. Gleichzeitig konnte Russland die Politik des Europarats mitgestalten und die Richter des EGMR wählen.
Der Kreml konnte so das Bild zeichnen, dass Europa gegenüber Russland grundsätzlich feindlich eingestellt sei, letztlich aber zu schwach sei, um Russland zu einem Wechsel seines Verhaltens zu bewegen. Die Schwäche des Europarats führte de facto dazu, die Stellung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen in Russland zu schwächen und die Position des Kremls zu stärken. Die russländische Führung konnte zeigen, dass sie in Tschetschenien, Syrien und in der Ukraine Verbrechen begehen konnte, ohne dass der Europarat dem wirksam etwas entgegensetzen konnte. Zuletzt durfte der Präsident des Europaratsmitglied Russland dem anderen Europaratsmitglied Ukraine gar das Existenzrecht absprechen, ohne dass dies zu einem Aufschrei der Kritik unter den anderen Mitgliedern des Europarats geführt hätte.
Russland muss jetzt suspendiert werden
Die Antwort auf Russlands Krieg gegen die Ukraine darf nicht nur wirtschaftlicher oder militärischer Natur sein. Wichtig sind auch deutliche politische Signale. Unzweifelhaft hat Russland die Werte des Europarats nach Art. 3 der Satzung des Europarats schwer verletzt. Dies hat das Ministerkomitee am Abend des 24. Februar 2022, am Tag des Angriffs auf die Ukraine, festgestellt.[3] Gleichzeitig hat es für den 25. Februar 2022 eine weitere Sitzung anberaumt, um über die Suspendierung Russlands nach Art. 8 der Satzung des Europarats zu diskutieren.[4] Danach kann ein Staat bei einem schweren Verstoß gegen Art. 3 sein Recht auf Vertretung vorläufig abgesprochen werden. Und er kann vom Ministerkomitee „aufgefordert werden, gemäß den Bestimmungen des Art. 7 auszutreten. Wird dieser Aufforderung nicht Folge geleistet, so kann das Ministerkomitee beschließen, dass das betreffende Mitglied, von einem durch das Komitee selbst bestimmten Zeitpunkt ab, dem Europarat nicht mehr angehört.“
Der Europarat ist noch nicht gescheitert. Aber seine Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit sind bedroht. Der Europarat kann beides nur bewahren, wenn er Russlands Mitgliedschaft jetzt suspendiert. Die Suspendierung Russlands wäre eine Befreiung von dem Fluch, der auf dem Europarat lastet, seit er im Jahre 2019 die Sanktionen gegen Russland aufhob. Damit könnte er die Glaubwürdigkeit bei den Opfern von Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Krieg in Osteuropa zurückgewinnen und gestärkt für seine Ziele eintreten. Die Tür für ein demokratisches Russland bliebe offen.
Handelt der Europarat nicht, brüskiert er die Opfer und verliert sich selbst.
[1] Council of Europe: Parliamentary Assembly: Vote on Resolution – Doc. 15443, Challenge, on substantive grounds, of the still unratified credentials of the parliamentary delegation of the Russian Federation https://pace.coe.int/en/votes/38757?__cf_chl_tk=0muIx84PzbhBu8C8fokShGF6uSF2BbhzILy.2LsGEUM-1645804465-0-gaNycGzNCH0
[2] Caroline von Gall: Jenseits der roten Linien: Warum der russischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats nicht mehr das Mandat erteilt werden sollte, VerfBlog, 2022/1/25, https://verfassungsblog.de/jenseits-der-roten-linien/, DOI: 10.17176/20220125-180141-0.
[3] Council of Europe: Committee of Ministers: 1426bis meeting, 24 February 2022 <https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectID=0900001680a5a1f1>.
[4] Satzung des Europarats 5. Mai 1949. <https://rm.coe.int/1680935bcf>.