Der Beginn der ukrainischen Gegenoffensive
Nikolay Mitrokhin, 13.6.2023
Die Lage an der Front in der 68. Kriegswoche
Die ukrainische Gegenoffensive hat begonnen. Angriffe im Gebiet Belgorod bei Bachmut dienen dazu, von dem geplanten zentralen Vorstoß im Gebiet Zaporižžja abzulenken. Die ersten Angriffe auf die vordersten Verteidigungslinien der russländischen Besatzungstruppen waren wenig erfolgreich. Die russländische Armee hat mit der Sprengung des Kachovka-Staudamms ein Übersetzen der ukrainischen Truppen über den Dnipro erschwert und die folgende Umweltkatastrophe in Kauf genommen. Der Konflikt zwischen der regulären russländischen Armee und der Wagner-Gruppe geht weiter.
Die seit langem angekündigte Gegenoffensive der Ukraine hat begonnen. In der aktuellen Lage hat das ukrainische Verteidigungsministerium kein Interesse, objektive Informationen darüber zu verbreiten. Das Motto lautet einstweilen: „Pläne gelingen im Stillen“. Professionell gemachte Videos, vieldeutige Verlautbarungen und immer wieder auch die Behauptung, die Offensive habe gar nicht begonnen, gehören zu dieser Öffentlichkeitsarbeit. Die russländische Seite veröffentlicht deutlich mehr Informationen, sie spricht von Erfolgen bei der Abwehr ukrainischer Angriffe, gibt aber widerwillig auch Verluste zu. Ein wenig Licht ins Dunkel bringen vor allem Videoaufnahmen in den sozialen Netzwerken, die mehr oder anderes zu erkennen gaben, als diejenigen, die sie veröffentlicht haben, damit bezweckten.
Ablenkungsangriffe
Mittlerweile kann man mit Gewissheit sagen, dass die Gegenoffensive der Ukraine am 1. Juni mit den Angriffen im Süden des Gebiets Belgorod begonnen hat. Am Anfang standen mehrere Kommandounternehmen unter der Flagge des Russischen Freiwilligenkorps (RDK) und der Legion Freies Russland, an denen mindestens auch Soldaten des Polnischen Freiwilligenkorps und des belarussischen Kastus-Kalnovskij-Freiwilligenbataillons sowie Artillerie- und Panzerverbände der Ukrainischen Armee teilnahmen. Es folgte die Besetzung eines grenznahen Gebietsabschnitts auf russländischer Seite, mit der Russland gezwungen werden sollte, Truppen aus dem nördlichen Abschnitt der durch die Ukraine verlaufenden Front hierher zu verlegen.
Dies ist nur teilweise gelungen. Russland hat versucht, die Löcher mit Grenzschützern und Wehrpflichtigen zu stopfen, offenbar auch mit Strafgefangenen, die mittlerweile nicht mehr von den Wagner-Truppen, sondern vom Verteidigungsministerium rekrutiert werden. Das erwartbare Ergebnis: Schwere Kämpfe auf eigenem Territorium mit erheblichen Verlusten, da die heraneilende Verstärkung von der ukrainischen Armee unter Artilleriebeschuss genommen wurde. Besonders schwere Verluste verzeichnete Russland am 5. Juni, als inoffiziellen Angaben zufolge bis zu zwei Kompanien vernichtet wurden und der Leiter der Operativen Gruppe Belgorod, Gardeoberst Andrej Stėsev, früherer Kommandeur der 104. Luftlandedivision, ums Leben kam. Am gleichen Tag fiel auch der Kommandeur der 1009. Motorisierten Schützendivision V.V. Kuznecov.
Der Tod solcher hochrangiger Kommandeure verwundert wenig. Ein Video in den sozialen Medien zeigt, wie der stellvertretende Kommandeur der Vereinigten Heeresgruppe, Generaloberst Aleksandr Lapin, bei Grajvoron im Gebiet Belgorod persönlich Anweisungen für eine Panzerbesatzung und eine Kampfgruppe an vorderster Front gibt. Auch gibt es Hinweise, dass Generalstabschef Valerij Gerasimov als Oberkommandierender der russländischen Streitkräfte persönlich aus einem frontnahen Kommandostand die Verteidigung im Abschnitt bei Zaporižžja leitet. Dies zeugt davon, dass Russlands Armeeführung das Vertrauen in die mittlere Führungsebene vollkommen verloren hat.
Zehn Tage nach Beginn der Kämpfe im Gebiet Belgorod hat Russland die eingedrungenen Kräfte noch immer nicht aus Novaja Tavolžanka vertreiben können. Die Grenze bleibt löchrig, wie ein Vorfall am 10. Juni im Kreis Chlevišče im Osten des Gebiets Belgorod zeigt, wo Saboteure 100 Kilometer hinter der Frontlinie einen Güterzug zum Entgleisen bringen konnten.
Im Frontabschnitt bei Bachmut gehen ukrainische Truppen seit dem 3. Juni aktiver vor. Sie drangen in das nordwestlich von Bachmut gelegene Dorf Berchivka an der wichtigen Straße von Bachmut nach Slovjans’k vor, die Russland für die Versorgung der rund 20 Kilometer westlich von Bachmut stehenden Truppen benötigt. Im Verlaufe des 10. Juni gelang es den russländischen Truppen allerdings, das Dorf erneut einzunehmen.
Im Südwesten von Bachmut gelang es ukrainischen Truppen, wieder in die dortigen Stadtviertel vorzurücken. Südlich der Stadt rückten sie nahe Kliščijivka und Kudrjumivka um ein bis zwei Kilometer vor, konnten die Siedlungen bislang aber nicht einnehmen. Gleichwohl sind die Vorstöße bei Bachmut die bislang größten Erfolge der Ukraine in zehn Tagen Gegenoffensive.
Angriffe weiter südlich bei Horlivka und Mar’jinka hatten offenbar keinen Erfolg, waren jedoch wahrscheinlich ebenso wie das Vorrücken bei Bachmut vor allem dazu da, die Aufmerksamkeit von einem geplanten Vorrücken auf breiter Front im Abschnitt Zaporižžja abzulenken.
Die Gegenoffensive im Gebiet Zaporižžja
Die ukrainische Gegenoffensive im Frontabschnitt zwischen Vuhledar und Orichiv begann am 4. Juni mit Vorstößen kleiner Trupps. Die von westlichen Experten in den letzten Monaten veröffentlichten Karten zeigen, dass Russland in diesem Abschnitt mindestens vier Verteidigungslinien aufgebaut hat. Dazu kommt das Niemandsland zwischen den beiden Armeen, wo sich in kleinen Wäldern zwischen den Feldern Wachposten und vorgeschobene Trupps befinden, sowie die Befestigungsanlagen entlang der Straßen, die von der Front nach Süden oder entlang des Dnipro nach Südwesten ins von Russland besetzte rückwärtige Gebiet führen. Gemessen an der Verteilung der Befestigungsanlagen befürchteten die russländischen Streitkräfte vor allem Vorstöße der Ukraine in Richtung Melitopol’ und Enerhodar.
In den seit einer Woche laufenden Kämpfen ist es den ukrainischen Truppen mehrfach gelungen, das Niemandsland zu überwinden und in die erste Verteidigungslinie vorzudringen, die von den Dörfern gebildet wird, die sich im Abstand von rund 1,5 Kilometer von der Frontlinie befinden. Allerdings haben sie dabei in den meisten Fällen eine erhebliche Zahl von Fahrzeugen verloren und mussten sich unter Artilleriefeuer wieder zurückziehen. Nach russländischen Angaben hat die Ukraine mindestens 77 gepanzerte Fahrzeuge verloren, vielleicht auch bis zu 100. Es handelt sich vor allem um Truppentransporter und Jeeps, aber auch mindestens ein Leopard-Panzer wurde beschädigt.
Grund für die Verluste ist das taktische Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte. Offenbar haben sie zu sehr auf die Minenräumgeräte (mine roller) der westlichen Panzer gesetzt, die beim Befahren von Wegen und Feldern Sprengfallen automatisch zerstören sollen. Die russländischen Truppen haben die Minen offenbar so tief vergraben, dass der Mine Roller sie nicht erfasst hat und diese erst bei der Überfahrt des Panzers explodierten. Dies führte zumindest zu einem Halt der Kolonne, da wegen der verminten Wegränder Wenden und Rückzug nicht möglich war. Ein Teil der Fahrzeuge wurde offenbar bei solchen Wendemanövern zerstört.
Die Fahrzeuge in der Kolonne hinter dem Panzer griff Russland dann aus Hubschraubern mit Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Vichrʼ (AT-16 Scallion), mit schultergestützten Panzerabwehrlenkwaffen, mit Artillerie oder mit kleinen Kamikaze-Drohnen an. Die Aufnahmen der zerstörten Kolonnen, die durch russländische, ukrainische und westliche Medien gingen, werfen die Frage auf, wie gut die ukrainische Armee die westlichen Waffen bei der Gegenoffensive einsetzen kann.
Am 10. Juni sind die ukrainischen Streitkräfte jedoch zu der Taktik übergegangen, die in diesem Krieg gängiger ist. Bei Velyka Novosilka haben sie die russländischen Truppen mit Infanterie, die durch ein Waldstück vorgerückt war, von der Seite angegriffen und diese dazu gezwungen, sich mindestens zwei Dörfer zurückzuziehen. Gelingt der Ukraine hier ein Durchbruch, könnte sie die Frontausbuchtung bei Vremivka beseitigen und auf einem recht breiten Abschnitt zumindest die erste Verteidigungslinie zerschneiden.
Die Sprengung der Kachovka-Staumauer
Die Sprengung der Staumauer des Kachovka-Sees am frühen Morgen des 6. Juni steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive. Die Ausmaße der menschengemachten Umweltkatastrophe sind riesig. Eine Woche nach der Sprengung sind bereits 60 Prozent des Wassers im Stausee abgeflossen, eine riesige Fläche mit mindestens 100 kleineren Städten und Siedlungen am Unterlauf des Dnipro steht unter Wasser.
Am Abend des 5. Juni begannen die beiden russländischen Militärkanäle „Rybar‘“ und „Dva majora“, die gewöhnlich dafür genutzt werden, Informationen aus Armeekreisen für die operative Verwendung zu „leaken“, urplötzlich die Sorge zu verbreiten, ukrainische Truppen könnten den Dnipro überqueren und die gegenüber von Cherson am anderen Ufer des Flusses gelegene Stadt Oleški und den „Damm“ des Wasserkraftwerks Kachovka erobern. Die Schaffung eines Brückenkopfs bei Oleški war zu diesem Zeitpunkt durchaus realistisch, denn die ukrainischen Truppen kontrollierten bereits die Inseln zwischen Cherson am rechten und Oleški am linken Ufer des Dnipro. Von dort führt ein direkter Weg zu der Landenge zwischen der Krim und dem Festland. „Dva majora“ zeigte sich besorgt, da die Straße über die Staumauer für schwere Fahrzeuge auf einem langen Abschnitt der einzige Weg über den Fluss darstellte. Zwar hatten die russländischen Truppen im November 2022 bei ihrem Rückzug vom rechten Ufer des Dnipro einen Teil des Fahrdamms auf der Mauer zerstört. Wäre es der Ukraine gelungen, die Staumauer auf beiden Uferseiten unter ihre Kontrolle zu bringen, hätte sie allerdings den Fahrdamm rasch wiederherstellen und damit die russländischen Verteidigungslinien auf dem gesamten Frontabschnitt im Gebiet Zaporižžja in Gefahr bringen können. Schon wenige Stunden nach der Bekanntgabe einer solchen Gefahr meldeten beide Kanäle einen Bruch der Staumauer in Folge von „Explosionen“.
Die ehemalige Staumauer ist so umfassend zerstört, dass dies nur durch eine Sprengung von innen verursacht worden sein kann. Diese Sprengung kann nur von derjenigen Seite durchgeführt worden sein, welche die Staumauer kontrollierte – und das waren die Truppen Russlands. Diese hatte zugleich Interesse daran, sämtliche ukrainischen Brückenköpfe auf den flussabwärts gelegenen Inseln zu überschwemmen und das linke Ufer des Dnipro für mehrere Monate in einen Sumpf zu verwandeln.
Die russländischen Truppen haben mit der Sprengung des Staudamms zur Erfüllung einer taktischen Aufgabe eines der strategischen Ziele zunichte gemacht, das mit der „militärischen Spezialoperation“ erreicht werden sollte: die Wiederherstellung der Versorgung der Krim mit Wasser aus dem Dnipro über den zu sowjetischen Zeiten gebauten Nord-Krim-Kanal. Diesen hatte die Ukraine 2015 gesperrt. Eine der ersten Handlungen der Besatzer im März 2022 war die Sprengung dieses Sperrwalls. Zweifellos hätte die Ukraine nach einer Rückeroberung des linken Dniproufers diesen Wall wiedererrichtet, und im Falle eines Verbleibs der Krim in russländischer Hand wäre der Kanal Gegenstand von Verhandlungen geworden. Nach der Sprengung der Staumauer und dem Abfall des Wasserspiegels im Kachovka-Stausee auf weniger als zehn Meter wird der Kanal nicht mehr zur Versorgung der Krim genutzt werden können. Dies wäre erst nach Errichtung einer neuen Staumauer wieder möglich.
Neue Phase im Konflikt zwischen Šojgu und Prigožin
Russlands Verteidigungsminister hat nach Agenturberichten einen Erlass unterzeichnet, demzufolge alle freiwilligen Soldaten einen Vertrag mit seinem Ministerium unterzeichnen müssen. Darunter sollen neben der „Privatarmee“ Wagner Dutzende weitere „Freiwilligenverbände“ fallen, die an der Front kämpfen. Diesen Status haben die verschiedenen „Kampfgruppen der Sonderreserve“ (Boevoj armejskij rezerv special’nyj, BARS), die von den Regionen Russlands im Sommer 2022 geschaffen wurden, die aus den Wachtruppen der staatlichen und halbstaatlichen Konzerne geschaffenen „Privatarmeen“ wie etwa der Verband „Uran“ von Roskosmos sowie die professionellen Privatarmeen wie die Wagner-Gruppe. All diese Formationen haben ein schwieriges und verwickeltes Verhältnis zum Verteidigungsministerium. Daran ändert Šojgus Erlass nichts. Hätte der Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss gefasst oder sogar der Präsident einen solchen Erlass veröffentlicht, wäre die Lage anders. Alles, was das Verteidigungsministerium tun kann, ist den Zugang der „Freiwilligen“ zu Munitions- und Waffenlagern zu begrenzen. De facto entscheidet dies aber schon lange nicht mehr der Minister, sondern die örtlichen Kommandeure. Benötigen sie „Freiwilligenverbände“ oder wurden von diesen bestochen, so öffnen sie die Lager. Andernfalls nicht.
Zweifellos spiegelt Šojgus Erlass jedoch die Ansichten vieler Angehöriger der regulären Armee, die erzürnt sind über das Ausmaß der Aufmerksamkeit für die Wagner-Truppe sowie über die große Menge an Waffen und Munition, die dieser in den letzten Monaten zur Verfügung gestellt wurde. Dieser Konflikt führte dazu, dass in der vergangenen Woche die im rückwärtigen Raum stationierte 72. Brigade einen Anschlag auf die Wagner-Truppe verübte, woraufhin der Wagner-Wachdienst den Kommandeur der Brigade verhaftete und vor laufender Kamera zu Reuebekundungen zwang. Nach seiner Freilassung veröffentlichte dieser wiederum ein Video, in dem er die Wagner-Truppe beschuldigt, systematisch Militärfahrzeuge zu stehlen und Soldaten seiner Brigade zu entführen, die dann gefoltert und als Sklaven gehalten würden.
Šojgus Erlass kann in diesem Zusammenhang als ein Versuch gewertet werden, die öffentliche Erniedrigung eines Armeeangehörigen zu vergelten und der zunehmenden Anarchie innerhalb der russländischen Truppen Einhalt zu gebieten.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.