Bachmut – Bilanz einer sinnlosen Schlacht

Nikolay Mitrokhin, 22.5.2023

Die Entwicklung in der 65. Kriegswoche

Fast acht Monate dauerte die Schlacht um Bachmut. Russland hat einen totalen Pyrrhussieg errungen. Mehrere zehntausend Soldaten wurden geopfert und eine unermessliche Menge an Artilleriemunition eingesetzt. Nun haben die Wagner-Truppen die von ihnen völlig zerstörte Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Doch dies eröffnet Russland keinerlei strategische Option.

Am 20. Mai verkündete der Leiter der Pseudoprivatarmee „Wagner“ Evgenij Prigožin an einem nicht näher identifizierten, stark zerstörten Ort, seine Truppen hätten die volle Kontrolle über Bachmut erlangt. Das Datum der Bekanntgabe war kein Zufall: Genau ein Jahr zuvor hatten Russlands Truppen verkündet, die ukrainische „Festung“ Mariupol’ eingenommen zu haben. Dass es um das symbolische Datum ging zeigt sich auch daran, dass Prigožin im gleichen Atemzug ankündigte, die Stadt werde nun „von verbliebenen ukrainischen Truppenteilen gesäubert“. Erst danach würden seine Truppen die Stellungen an die reguläre russländische Armee übergeben und abziehen.

Ukrainische Offizielle bestritten noch am Folgetag, dass die ukrainischen Truppen die Kontrolle über die Stadt verloren hätten. Einige Wohnviertel und sogar eine Reihe von Industrieanlagen seien weiter in deren Hand. Präsident Zelens’kyj erklärte auf die Frage eines Journalisten auf dem G7-Gipfel in Japan, ob die Stadt verloren sei: „Ich denke nicht. Bachmut ist in unseren Herzen.“ Möglicherweise hielten ukrainische Verbände zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch ein kleineres Gebiet am südwestlichen Stadtausgang.

Der Rückzug der ukrainischen Truppen aus Bachmut nach knapp acht Monaten Kampf um die Stadt kam nicht überraschend. Die „Wagner“-Verbände hatten ungeachtet der panischen Ankündigungen Prigožins, seine Truppen würden wegen Munitionsmangel aus der Stadt abziehen, mit massiven Artillerieangriffen systematisch die mehrstöckigen Wohnblocks und freistehenden Häuser am Westrand der Stadt zerstört, in denen sich die ukrainischen Verteidiger verschanzt hatten.

Mit dem Abzug der ukrainischen Truppen, insbesondere der 60. und der 93. motorisierten Schützenbrigade und der 241. Brigade der Territorialverteidigung steht nun fest, welches Ziel die Ukraine mit ihren seit Anfang Mai geführten Angriffen verfolgte. Die russländischen Truppen wurden im Nordwesten und Südwesten der Stadt teils nur um einen, teils auch um bis zu fünf Kilometer von den beiden wichtigsten Verbindungsstraßen zurückgedrängt. Nirgendwo aber durchbrachen die ukrainischen Einheiten die Front und nirgendwo zwangen sie die Einheiten des Gegners, sich soweit zurückzuziehen, dass eine Heranführung starker Verbände nach Bachmut möglich geworden wäre. Ziel der Operation war es, den Rückzug aus Bachmut ohne große Verluste zu ermöglichen.

Gleichzeitig wurde damit aber auch die Verteidigungsfähigkeit der russländischen Truppen getestet. Das Ergebnis: Obwohl die ukrainischen Truppen mit gepanzerten Fahrzeugen ausgerüstet waren, fügten ihnen die russländischen Soldaten, die sich in mit Brettern und Ästen bedeckten Schützengräben verschanzten, in den Waldstreifen westlich von Bachmut empfindliche Verluste zu. Immerhin gelang es der ukrainischen Armee, Russland zur Verlegung einiger Einheiten aus dem Gebiet nördlich von Svatovo und dem Raum Kupjans’k zu bringen. Dies zeigt, dass Russland noch über Reserveeinheiten verfügt und diese kampfbereit sind. Wahrscheinlich handelt es sich jedoch um begrenzte Kräfte, denn die schweren Kämpfe um Bachmut hatten zuvor zur vollständigen Einstellung der Offensive am südlicher gelegenen Frontabschnitt bei Mar’jinka sowie an der nördlicheren Sektion bei Kupjans’k geführt. Es ist jedoch auch möglich, dass bislang nur Reserveeinheiten aus dem vordersten Frontabschnitt eingesetzt wurden, weil die Heranführung von Truppen aus dem rückwärtigen Abschnitt nicht nötig war.

All dies zeigt, dass ein ukrainischer Gegenangriff alles andere als leicht wird. Es wird nicht möglich sein, wie im Herbst 2022 die russländische Verteidigungslinie mit mobilen Einheiten zu durchbrechen. Russlands Armee hat Minenfelder gelegt, gestaffelte Verteidigungslinien sowie Panzer- und Artillerienester geschaffen. Möglicherweise wartet die Ukraine auf die Ankunft der von Deutschland und Dänemark versprochenen 80 Leopard-Panzer des älteren Modells A1, die eine wesentliche Verstärkung für die mit leichten gepanzerten Fahrzeugen angreifende Infanterie darstellen.

Der Fall von Bachmut hat keinerlei Bedeutung. Russland hat die Stadt in Ruinen verwandelt und sich in eine strategische Sackgasse begeben. Der einzig mögliche Nutzen wäre ein Vorstoß von dort nach Nordwesten, um die ukrainischen Truppen im Raum Severs’k einzuschließen oder in Richtung Slovjans’k vorzudringen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn zugleich ein Angriff von Norden in Richtung Lyman erfolgt. Dafür fehlen Russland aber die Kräfte. Ein Vorrücken nach Westen oder Südwesten ist ebenfalls kaum möglich, denn dort befindet sich sumpfiges, von Kanälen und kleinen Flüssen durchzogenes Land – und dahinter die städtische Agglomeration von Torec’k. Für einen Vorstoß in diesem Gelände fehlen Russland die Truppen und die Ausrüstung.

Der gesamte „Sturm auf Bachmut“ muss somit als vollkommen sinnlose Aktion gewertet werden. Die Einnahme der einige Kilometer nordöstlich gelegenen Kleinstadt Soledar mag einigen Oligarchen die Möglichkeit eröffnet haben, irgendwann die dortigen Salzvorkommen abzubauen. Oder Russlands Führung wollte der Ukraine „die Suppe versalzen“, indem sie ihr das Unternehmen Artemsil‘ entreißt, einen der größten Kochsalzproduzenten der Welt. Aber in der achtmonatigen Schlacht um Bachmut hat Russland nichts als Ruinen erobert. Dafür haben mehrere Zehntausend russländische Soldaten ihr Leben gelassen – nach ukrainischen und westlichen Angaben: bis zu 100 000, realistischer erscheint die Zahl 30–40 000 für den Kampf um Bachmut und Soledar, darunter sowohl Soldaten regulärer Einheiten als auch Kämpfer der Wagner-Armee, die im Jahr 2022 rund 30 000 Strafgefangene rekrutiert und hier eingesetzt hat. Für die Ukraine war „Bachmut“ ein blutiges Geschenk. Die Hälfte aller Aktivitäten des Angreifers konzentrierte sich auf diesen kleinen Frontabschnitt. Dort verschwendeten Russlands Truppen eine riesige Menge an Granaten und anderer Munition zur Zerstörung der mehrstöckigen Häuser. Dort schickten sie entrechtete, aber gefährliche, unter Waffen stehende Sträflinge in eine Schlacht, in der für jeden Quadratkilometer eroberten ukrainischen Bodens 500 Mann fielen. Dort „schonten“ sie den geringen Bestand der Ukraine an gepanzerten Fahrzeugen, denn der Häuserkampf wird in erster Linie von Infanteristen geführt.

Alle ukrainischen Einheiten, die nicht in Bachmut zum Einsatz kamen, erhielten somit über den gesamten Herbst und Winter eine Pause, die sie für Übungen, bessere Koordination und die Vorbereitung einer Gegenoffensive im Sommer nutzen konnten. Ob dies allerdings ausgereicht hat, um der Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive zu ermöglichen, ist bislang offen.

Luftkrieg

Russlands Raketentruppen haben ihre Taktik in der 65. Kriegswoche erneut geändert. Statt auf wöchentliche Angriffe mit einer großen Zahl von Drohnen und Raketen setzen sie nun auf allnächtliche Attacken mit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl (zwischen 4 und 20) an unbemannten Flugapparaten des Typs Shahed und Geran‘. Diese werden von Angriffen mit Raketen begleitet, die Russland von Kampfflugzeugen, strategischen Bombern und Kriegsschiffen aus abschießt. Die Attacken werden aus verschiedenen Richtungen und gegen viele verschiedene Städte geführt, stets jedoch auf Kiew. Ziel ist es, die ukrainische Luftabwehr zu überlasten. Tatsächlich erreichen einige der Raketen und Drohnen ihr Ziel. Am 16. Mai gelang es offenbar, mit einer Überschallrakete des Typs Kinžal eine Patriot-Luftabwehrstellung zu treffen. Die Angaben zu dem Schaden unterschieden sich stark, offenbar war dieser jedoch nicht allzu groß. Nach dem Treffer sah Russland aber offenbar eine Gelegenheit und erhöhte die Zahl der angreifenden Raketen. In der Nacht auf den 18. Mai wurde die Ukraine mit 30 Marschflugkörpern attackiert. Ein Angriff diesen Ausmaßes hatte es zuvor zwei Monate lang nicht gegeben. In dieser und den folgenden Nächten wurden Ziele in Lemberg, Mykolajiv, Odessa, Chmel’nyc’kyj und einigen Städten des Donbass angegriffen, an denen die russländische Armee Munitions- und Ausrüstungslager für die erwartete ukrainische Offensive vermutet.

Nach Angaben des ukrainischen Militärischen Geheimdienstes ist Russland gegenwärtig in der Lage, monatlich rund 25 Lenkwaffen des Typs Kalibr, zwei Hyperschallraketen „Kinžal“, 35 Ch-101-Marschflugkörper und fünf Iskander-Raketen herzustellen. Dies zeigt, dass es Moskau trotz der Sanktionen weiter gelingt, elektronische Komponenten für den Raketenbau zu importieren. Aus diesem Grund hat die Europäische Union auch erstmals Sekundärsanktionen gegen 90 Unternehmen aus verschiedenen Ländern, darunter aus China verhängt, die weiter technologisch hochwertige Güter nach Russland liefern. Eine wichtige Rolle bei der Einfuhr nach Russland spielt, wie in einer neuen Studie erneut belegt wurde, der zentralasiatische Nachbar Kasachstan.

Die Ukraine verzeichnet vor allem Erfolge beim Angriff mit Kampfdrohnen auf Fahrzeuge in unmittelbarer Frontnähe. Immer klarer zeichnet sich ab, dass sie nicht in der Lage ist, in größerem Umfang wirkungsvolle Schläge im russländischen Hinterland zu führen. Zu dicht ist das Überwachungsnetzwerk, das Russlands Spezialisten für elektronische Kampfführung über das Land gezogen haben. Die Versuche gehen allerdings weiter, jüngst wurde von vier Explosionen in einer Fabrik im Ljubercy im Umland von Moskau berichtet.

Anders sieht es mit Raketenschlägen aus. In der vergangenen Woche hat die Ukraine mit Marschflugkörpern zwei Flughäfen in Mariupol‘ und auf der Krim getroffen sowie ein Gebäude der russländischen Luftlandetruppen im besetzten Berdjans’k. Bei den russländischen Kriegsberichterstattern geht die Sorge um, die Ukraine könne auf diese Weise nach der Lieferung westlicher Kampfflugzeuge die Lufthoheit erringen.

Internationale Koalition für Kampfflugzeuge

Nach mehr als sechs Monaten intensiver Verhandlungen hat die Ukraine Mitte Mai einen großen diplomatischen Erfolg erzielt. Großbritannien und die Niederlande haben sich bereit erklärt, gemeinsam Kampfflugzeuge des Typs F-16 an die Ukraine zu liefern, und Washington wird keinen Einspruch gegen die Überstellung der in den USA produzierten Maschinen erheben. Die Ausbildung ukrainischer Piloten hat bereits begonnen und wird anders als zunächst vermutet nicht sechs, sondern offenbar nur vier Monate dauern. US-Präsident Biden erklärte auf dem G7-Gipfel, die Ausbildung könne in den USA stattfinden, was nach der Zurückhaltung der Monate zuvor ein großer Durchbruch für die Ukraine ist. Gleichzeitig bleibt Biden dabei, dass die Flugzeuge nicht zum Angriff auf Ziele in Russland eingesetzt werden sollen.

Sabotage an der Eisenbahnlinie Simferopol‘-Sevastopol‘ auf der Krim

In der Nacht zum 18. Mai ist es der Ukraine erstmals gelungen, mit einem Sabotageakt auf der Krim erheblichen Schaden anzurichten. Zuvor hatte Russlands Geheimdienst alle Versuche noch in der Planung oder kurz vor Ausführung aufgedeckt und vereitelt. Die Explosion bei Čisten‘koe auf der Strecke von Simferopol‘ nach Sevastopol‘, bei der mehrere Güterwaggons entgleisten, hat diese Verbindung zumindest zeitweise unterbrochen. Nach der Zerstörung von Öltanks der Schwarzmeer-Flotte Anfang Mai ist damit die russländische Marine auf der Krim zumindest zeitweise von jeder Treibstoffversorgung abgeschnitten.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.