Die zerstörte Čongar-Brücke, 23.6.2023
Die zerstörte Čongar-Brücke, 23.6.2023

An allen Fronten

Nikolay Mitrokhin, 27.6.2023

Wagner-Aufstand, Front-Stillstand und fortgesetzter Raketenkampf: die 70. Kriegswoche

Der Aufstand der Wagner-Gruppe ist nach einem Tag abgeblasen worden. Was den Chef der Wagner-Truppen zu dem Aufstand bewegt hatte, wie die Einigung zur Beendigung des Aufstands zustande kam und welche politischen Folgen dieser haben wird, ist unklar. Fest steht, dass die Einnahme von Rostov am Don und der Vormarsch in Richtung Moskau die Schwäche der russländischen Armee und der Sicherheitskräfte offenbart hat. Zwischen der Front und der Hauptstadt gibt es keine Einheiten, die eine Kolonne schwerbewaffneter Kämpfer stoppen kann. Allerdings konnte die Ukraine die Situation nicht nutzen. An der Front herrscht nach dem Scheitern der ursprünglichen Pläne für eine Gegenoffensive weitgehend Stillstand mit nur minimalen Geländegewinnen. Einen Erfolg verbuchte die Ukraine mit der Beschädigung einer wichtigen Brücke von der Krim auf das Festland. Im Gegenzug setzt Russland die Raketenangriffe auf die Ukraine mit unverminderter Härte und neuem Nachschub fort, was die ukrainische Flugabwehr immer mehr an ihre Grenzen bringt.

Die militärische Bedeutung des Aufstands der Wagner-Gruppe

Die Gründe für den Aufstand der Wagner-Gruppe – in deren Eigenbezeichnung: „Marsch der Gerechtigkeit“ – am 23. und 24. Juni sind bislang weitgehend unklar. Das gleiche trifft für die politischen Folgen zu. Mit Sicherheit kann man sagen, dass es sich nicht um einen spontanen Gewaltausbruch handelte, nachdem Einheiten der regulären Armee Russlands Lager der Wagner-Truppen beschossen hatten. Nichts deutet darauf hin, dass diese Behauptung Prigožins stimmt. Zwar wäre nach einem halben Jahr heftiger verbaler Auseinandersetzungen zwischen Prigožin und dem Verteidigungsministerium ein solcher Angriff keineswegs ausgeschlossen gewesen. Doch dann hätte der Beschuss eine Erstürmung der Lager vorbereitet. Es standen jedoch keinerlei Truppen bereit, die sich auf einen solchen Sturm vorbereiteten – und sich dann dem Aufstand als erste hätten entgegenstellen müssen. Zudem hat Prigožin keine überzeugenden Belege für einen solchen Beschuss vorgelegt.

Der Entschluss zum Aufstand muss früher gefallen sein. Eine Kolonne mit 1000 Militärfahrzeugen kann nicht innerhalb von zwei Stunden zusammengestellt, beladen und zur Abfahrt vorbereitet werden.[1] Alleine um so einen Plan auszuarbeiten und die entsprechenden Befehle zu geben, braucht es mindestens einen halben Tag.

Die Wagner-Truppen sind äußerst rasch in den rückwärtigen Raum der russländischen Armee vorgestoßen. Dieser wurde nur von kleinen Reserveeinheiten der Armee und der Sicherheitskräfte geschützt, die gegen Tausende gut ausgerüstete Kämpfer militärisch völlig machtlos waren. Sie waren auch überhaupt nicht gewillt, gegen die Männer Prigožins zu kämpfen. Vielmehr teilten sie mit diesem die grundlegende Einschätzung: Die Militärführung ist inkompetent, die Verluste massiv, der Krieg läuft ganz anders, als man sich das vorgestellt hat. Und: Es muss einen Personalwechsel geben, mindestens bei der Militärführung, vielleicht auch an der Spitze des Landes.

Daher stießen die Wagner-Truppen auf keinerlei Widerstand, als ein Teil der Gruppe unter Dmitrij Utkin den Weg über Voronež in Richtung Moskau nahm und der andere unter Evgenij Prigožin über Novošachtinsk in Richtung Rostov fuhr und dort am frühen Morgen des 25. Juni das Militärkommando Süd einnahm.

Die Einnahme der Stadt und der zentralen Koordinierungsstelle für den Krieg gegen die Ukraine verlief so friedlich, dass es wirkte, als hätte es eine geheime Absprache gegeben. Die Wachtruppen des Einsatzstabs, die zugleich die Wachtruppen für den gesamten Militärbezirk Süd sind, legten ohne jeglichen Widerstand die Waffen nieder. Im Gegenzug behinderten die Wagner-Truppen die Arbeit des Stabs nicht. Nachdem sie zwei Militärflugplätze eingenommen hatten, legten sie diese nicht lahm, sondern setzten lediglich einen „ihrer Männer“ zwecks Kontrolle in die Besatzung der Flugzeuge.

Auch die Kolonne in Richtung Moskau vermied Zusammenstöße. Sie umfuhr die Gebietshauptstädte Voronež und Lipeck auf Umgehungsstraßen. Die Zivilbevölkerung blieb von den Ereignissen völlig unbehelligt. In Rostov traten die Wagner-Männer als „höfliche Leute“ auf, also im Stil der russländischen Soldaten, die Ende Februar 2014 ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim erschienen und in freundlichen Kontakt zu den Menschen traten.

Sollte es tatsächlich Absprachen gegeben haben, dann allerdings nur mit Kommandeuren auf unteren Ebenen. Die Wagner-Kolonne, die in Richtung Moskau fuhr, war mit Flugabwehrraketen vom Typ Pancir’ ausgerüstet und schoss rücksichtslos sämtliche Militärflugzeuge ab, die in ihrer Nähe auftauchten, darunter mehrere Aufklärungshubschrauber und eine Iljuschin-22M Maschine, die als luftgestützte Einsatzzentrale des Militärbezirks diente. Mindestens sieben Maschinen wurden abgeschossen, die Zahl der Toten beläuft sich nach unterschiedlichen Zählungen auf bis zu 30. Ein „schwarzer Tag“ für Russlands Luftstreitkräfte.

Grundlos waren die Abschüsse keineswegs. Die Eskalation ging von der russländischen Militärführung aus, die die Kolonne mit Hubschraubern und Erdkampfflugzeugen angreifen ließ und zudem Brücken und eine Raffinerie im Gebiet Voronež beschoss. Mindestens ein LKW aus der Kolonne wurde getroffen, wenngleich Prigožin behauptet, kein einziger seiner Männer sei ums Leben gekommen.

Die wahren Gründe für das Vorgehen der Wagner-Gruppe bleiben vorerst unklar. Niemand kann sicher sagen, ob es Einheiten der Armee gab, die bereit waren, Prigožin zu unterstützen. Ebenso wenig, ob die Wagner-Gruppe in der einen oder anderen Form bestehen bleibt. Festhalten kann man, dass die Kolonne bis zur Südgrenze des Gebiets Moskau vordringen konnte. Dass der erste Sturm auf Moskau seit gut 100 Jahren aber dort abgebrochen wurde. Seit dem Falschen Dmitri, der in der Zeit der Wirren 1605–1606 im Kreml herrschte, ist kein einziger Sturm auf Moskau von Süden her gelungen. Prigožin versuchte erst gar nicht, die recht breite und in schneller Strömung fließende Oka zu überqueren, an deren Brücken regierungstreue Truppen Stellung bezogen hatten.

Der Aufstand zeigt, wie schwach die staatlichen Befehlsketten sind, wie wenig Unterstützung Putin und sein Regime im „Volk“ hat. Nirgendwo gab es einen Versuch, dem Kreml zu helfen und die Wagner-Kolonne aufzuhalten. Als diese umkehrte, brach nirgendwo Jubel aus. Im Gegenteil, zumindest in Rostov wurden die Wagner-Soldaten mit Blumen empfangen. Gezeigt hat sich auch, wie schwach die Sicherheitsorgane sind, wenn sie es mit einer großen bewaffneten Einheit zu tun bekommen.

Militärisch hat sich vor allem gezeigt, dass hinter den Verteidigungslinien an der Front bis nach Moskau der gesamte rückwärtige Raum praktisch ungeschützt ist. Es gibt weder Truppen noch schweres Gerät. Sollte der ukrainischen Armee ein Vorstoß in Richtung Moskau gelingen, würden sie erst im Gebiet Moskau auf den Widerstand von Reserveeinheiten treffen, die eiligst aus dem ganzen Land herbeigeführt werden müssten. Ebenso „leer“ ist der rückwärtige Raum von Luhans’k bis mindestens Rostov. Dort befindet sich der Einsatzstab, eine Wachtruppe – und sonst nichts. Nahezu sämtliche Truppen und Reserveeinheiten stehen an der Front. Dies sagt sehr viel über die Aussichten der russländischen Armee in ihrem Krieg gegen die Ukraine.

Die Lage an der Front

Die Situation hat sich in der 70. Kriegswoche kaum verändert, was trotz der schlechten Wetterverhältnisse bestätigt, dass die ukrainische Gegenoffensive im Rahmen ihrer ursprünglichen Planung gescheitert ist. Die ukrainische Armee konnte auch den Aufstand der Wagner-Truppen nicht nutzen, um die Front etwa im Abschnitt bei Mar’jinka zu durchbrechen, den die Truppen des tschetschenischen Achmat-Bataillons kurzfristig verließen, um in Richtung des von Prigožins Männern eingenommenen Stabsquartiers in Rostov am Don zu fahren.

Die Ukraine muss daher eine neue Strategie ausarbeiten. Zwar testet sie am Frontabschnitt im Gebiet Zaporižžja an verschiedenen Stellen die russländischen Verteidigungsstellungen. Doch bislang ist dabei nicht mehr als ein Vormarsch um 1–2 Kilometer an einigen Stellen herausgekommen. Konkret bedeutet das, dass die Ukraine einige Felder überquert und die dazwischen liegenden Waldstreifen unter Kontrolle genommen hat. Selbst die Ausbuchtung Vremivka konnten ihre Truppen nicht einnehmen, bis zu größeren Verteidigungsstellungen ist sie erst gar nicht vorgedrungen.

Die wichtigsten Kämpfe dieser Kriegswoche fanden weiter nördlich statt. Bei Mar’jinka findet ein permanentes Hin und Her statt. Hatte in der 69. Kriegswoche Russland die ukrainische Stellung Zverinec eingenommen, so gelang es der ukrainischen Armee in der 70. Woche, einen kleinen Landstreifen unter ihre Kontrolle zu bringen, der seit 2014 von der russländischen Armee und „Separatisten“-Milizen aus Donec’k gehalten worden war. Über diesen Erfolg berichtete die oberste Ebene der ukrainischen Armeeführung.

Die schwersten Kämpfe finden gegenwärtig im Gebiet Luhans’k bei Kreminna und dem südlich davon gelegenen Bilohorivka statt. Das westlich von Lysyčans’k gelegene Bilohorivka ist die östlichste von der Ukraine gehaltene Siedlung. Die russländischen Truppen versuchen, diese von Südosten her einzunehmen – bislang ohne großen Erfolg.

Die ukrainische Armee hat die Artillerieangriffe über die Grenze hinweg auf das russländische Gebiet Belgorod reduziert. Stattdessen beschießt sie nun intensiv die grenznahen Kreise des Gebiets Kursk. Es könnte sich um einen Versuch handeln, Russland dazu zu bringen, auch hierhin Truppen zu verlegen. Ist dies so, dann steht zu erwarten, dass bald ukrainische Einheiten unter der Flagge des Russischen Freiwilligenkorps und der Legion Freies Russland auch im Gebiet Kursk auftauchen.

Unklar ist die Lage am Dnipro. In den nach der Sprengung des Kachovka-Staudamms überschwemmten Gebieten zieht sich das Wasser zurück, der Stausee ist leergelaufen. Dies eröffnet der ukrainischen Armee neue Möglichkeiten. Zwischen Nova Kachovka und Zaporižžja befinden sich am linken Ufer des Dnipro, der in seinen alten Lauf vor der Errichtung der Staumauer in den 1950er Jahren zurückgekehrt ist, bislang keine Verteidigungsstellungen der russländischen Armee. Dieser Bereich liegt auch nicht unter Artilleriebeschuss. Ob er bereits befahren werden kann, ist unklar. Die alte Straße von Nikopol’ am rechten Ufer des Flusses in Richtung der erst später am linken Ufer entstandenen Stadt Enerhodar – wo sich das Atomkraftwerk Zaporižžja befindet – ist bereits aus dem Wasser aufgetaucht. Gleichzeitig liegen aber noch zahlreiche von der ukrainischen Armee genutzte Boote in den versandeten Häfen am westlichen Ufer des Dnipro, teils Kilometer vom neuen Flussverlauf entfernt. Landungstrupps könnten diese natürlich zum Wasser transportieren, jedoch nicht ohne dabei unter Beschuss der russländischen Artillerie zu geraten.

Weiter stromabwärts versucht die ukrainische Armee bereits, sich auf den aus dem Wasser aufgetauchten Inseln und am Uferstreifen festzusetzen. Angeblich seien reguläre Truppen bereits in Hola Prystan’ flussabwärts von Cherson aufgetaucht. Doch aus diesem Gebiet gibt es kaum Nachrichten. Deutliche Hinweise auf einen ukrainischen Erfolg gab es erstmals am Abend des 25. Juni. Russländische Einheiten, die in der Umgebung der von Cherson über den Dnipro führenden, zerstörten Antonovka-Brücke den Uferbereich sichern, gaben über den Militärkanal Rybar’ bekannt, dass ukrainische Landungstrupps sich im Bereich der Brückenpfeiler festgesetzt haben, über radioelektronische Drohnenabwehr verfügen und fast einen Teil der russländischen Einheiten an dieser Stelle eingekesselt hätten. Zweck der Bekanntgabe über den Telegram-Kanal war es, die Leitung der russländischen Luftwaffe dazu zu bewegen, die Brückenpfeiler, hinter denen die ukrainischen Landungstrupps Schutz vor Artilleriebeschuss finden, mit schweren Bomben zu zerstören.

Die Zerstörung der Čongar-Brücke

Einen großen Erfolg hat die Ukraine mit einem Angriff auf Russlands Nachschublinien erzielt. Mitte der 70. Kriegswoche traf eine von Großbritannien gelieferte Storm Shadow-Rakete die Čongar-Brücke, die von der Krim ins Gebiet Zaporižžja führt. Die Rakete riss nicht nur ein großes Loch in die Fahrbahn, sondern beschädigte offenbar auch einen Brückenpfeiler. Am gleichen Tag beschädigte eine Rakete bei Sivaš fünf Kilometer westlich von Čongar eine nicht genutzte Eisenbahnbrücke, die ebenfalls die Krim mit dem ukrainischen Festland verband.

Die Čongar-Brücke spielt eine große Rolle für die Versorgung der russländischen Besatzungstruppen im Südosten der Ukraine sowie für den Transport von ukrainischem Getreide aus den besetzten Gebieten zu den Häfen der Krim. 70 Prozent des Warenverkehrs zwischen der Krim und dem Festland werden über diese Brücke abgewickelt. Von der Krim-Brücke kommend ist der Weg über die Landenge bei Perekop zu den Städten an der Küste des Asowschen Meers und in Richtung Zaporižžja fast 100 Kilometer weiter. Nördlich von Perekop führt zudem nur eine sehr schlechte Straße Richtung Osten. Eine gute Straße führt zunächst nach Norden, was jedoch einen Umweg von weiteren 150 Kilometern bedeutet. Zudem verläuft sie in einem Abschnitt in nur 20–30 Kilometer Entfernung vom Dnipro, kann also von ukrainischer Seite mit Artillerie beschossen werden.

Zwar hat Russland binnen drei Tagen nach dem Treffer auf die Čongar-Brücke eine Pontonbrücke errichtet und die russländischen Militärblogger hoffen, dass die Ukraine die teuren Storm Shadow-Raketen nicht zur Zerstörung von rasch neuverlegbaren Pontons verwenden wird. Gleichwohl hat der Angriff gezeigt, dass die Ukraine nun die technischen Möglichkeiten hat, mit einem einzigen Schlag wichtige Nachschubwege der russländischen Armee zu unterbrechen.

Als Antwort auf die Zerstörung der Čongar-Brücke versuchte die russländische Armee am nächsten Tag die Staumauer des bei Kryvyj Rih gelegenen Karačunov-Stausees zu zerstören, aus dem über die Hälfte des Wassers zur Versorgung dieser wichtigen Industriestadt mit vor dem Krieg über 600 000 Einwohnern entnommen wird. Alle drei Kalibr-Raketen, die das Bauwerk am Fluss Inhulec zerstören sollten, erreichten ihr Ziel jedoch nicht.

Wachsende Lücken bei der Flugabwehr

Russland ist es nach großen Nachschubschwierigkeiten im Winter 2022/2023 mittlerweile gelungen, die Anzahl der pro Monat produzierten schweren Raketen deutlich zu erhöhen. Seit Wochen feuert die Armee nahezu jede Nacht zwischen 5 und 10 solcher Raketen auf Ziele in der Ukraine ab. Über die Hälfte der Mikrochips stammen weiterhin aus US-Produktion und gelangen über China nach Russland. Auch setzt Russland bei den nächtlichen Angriffen zwischen 8–20 iranische Angriffsdrohnen ein, die per Flugzeug oder über das Kaspische Meer nach Russland gelangen. Offenbar wird Russland diese Waffen bald in einer großen Fabrik in Kazan’ selbst produzieren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es um die ukrainische Flugabwehr bestellt ist. Die Raketen und Drohnen schlagen immer häufiger in Wohnhäuser und öffentliche Gebäude ukrainischer Großstädte ein. Anders als im Fall von getroffenen Industriegebäuden lässt sich dies nicht leugnen. Jüngst beschädigte etwa eine Drohne das Gebäude der Regionalverwaltung des ukrainischen Geheimdienstes in L’viv. Der Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte Jurij Ignat erklärte, dies sei aufgrund eines „Mangels an Flugabwehrgeschützen“ geschehen.

„Flugabwehr ist dort platziert, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Großstädte, wichtige Infrastruktur und Atomkraftwerke werden geschützt, außerdem wird sie an der Front gebraucht. Wir haben, und das ist noch vorsichtig ausgedrückt, nicht ausreichend Flugabwehrsysteme, um über einem Staat wie der Ukraine nach israelischem Vorbild einen undurchlässigen Schirm aufzuspannen.“

Selbst in Kiew, der am besten geschützten Stadt, durchdringen Raketen und Drohnen immer wieder die Flugabwehr. In der 70. Kriegswoche wurde etwa im Stadtbezirk Solomenskoe ein mehrstöckiges Haus getroffen, mindestens fünf Menschen kamen ums Leben. Anfang der Woche gab es nach Behördenauskunft in einem anderen Hochhaus in einem der oberen Stockwerke eine „Gasexplosion“. Hier starben ebenfalls Menschen. Es darf bezweifelt werden, dass es Experten gibt, die auf der Basis der veröffentlichten Fotos von den beiden Häusern beurteilen können, dass es sich in einem Fall um einen Raketenangriff und im anderen um ein Unglück handelt. Gleichzeitig kam es in Kiew erstmals seit Monaten zu einem Stromausfall wegen einer plötzlichen „Havarie“.

In einigen anderen Großstädten ist die Situation viel schlimmer. In Chmel’nic’kyj, das als Logistikknotenpunkt eine äußerst wichtige Rolle spielt und wo sich viele Kasernen befinden, gibt es praktisch jede Woche einen Einschlag. Ebenso in den großen Industriestädten wie Charkiv, Kryvyj Rih und Zaporižžja. Als Grund für die gesunkene Abschussquote gilt, dass die Vorräte an Raketen für die alten sowjetischen Flugabwehrsysteme zur Neige gehen. Offenbar befördert dies die russländische Armee aktiv, indem sie Raketen ohne Sprengladung oder selbstgebaute Drohnen, die echte Shahed-Kampfdrohnen imitieren, zum Einsatz bringt. Ein zweiter Grund ist, dass ukrainische Flugabwehrstellungen an der Front und auch im Hinterland von Raketen getroffen und zerstört wurden. Mindestens einmal wurde das einzige aus den USA gelieferte Patriot-System getroffen, ebenso das von Deutschland zur Verfügung gestellte und bereits im Einsatz befindliche IRIS-T SLM-System. Die in viel größerer Zahl zur Verfügung stehenden sowjetischen Systeme S-300, Buk, Osa und Strela wurden viel häufiger zum Ziel von Angriffen, wofür es zahlreiche Videobeweise gibt.

Dies führt nicht nur dazu, dass Angriffe auf das rückwärtige Gebiet der Ukraine leichter geworden sind. Auch die ukrainische Gegenoffensive leidet darunter, dass die Truppen nicht ausreichend durch Flugabwehr geschützt werden können. Dies hat sich gezeigt, als russländische Kampfhubschrauber vom Typ Alligator sich auf einer Entfernung von nur zehn Kilometern an die Front annähern und von dort mit Vichr’-Raketen westliche gepanzerte Fahrzeuge und Panzer angreifen konnten. Allerdings ist es der ukrainischen Armee in der 70. Kriegswoche auch gelungen, vier solcher Helikopter abzuschießen.

Neue westliche Waffenlieferungen werden dieses Problem etwas verringern. So erhält die Ukraine gegenwärtig amerikanische Flugabwehrsysteme mittlerer Reichweite vom Typ Avenger, die auf umgebauten Humvee-Jeeps stationiert werden können. Auf jedem Jeep befinden sich acht infrarotgelenkte Flugabwehrraketen FIM-92 Stinger sowie ein schweres 12,7-Millimeter-Maschinengewehr Browning M2. Mit solchen Jeeps gelang vermutlich der Abschuss der russländischen Hubschrauber.

Der französische Präsident Emanuel Macron hat darüber hinaus gerade verkündet, dass das erste französisch-italienische Flugabwehrsystem SAMP/T-Mamba nun in der Ukraine im Einsatz ist. Es kann innerhalb von zehn Sekunden acht Raketen abfeuern, die Flugzeuge in einer Entfernung von bis zu 100 Kilometern und ballistische Raketen in einem Abstand von bis zu 25 Kilometern treffen.

Gleichzeitig ist auch in der russländischen Armee die Klage lautgeworden, dass es ihr zur Bekämpfung ukrainischer – genauer: britischer – Raketen an Flugzeugen für die luftgestützte Luftraumaufklärung (Airborne Warning und Control System, AWACS) mangele.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] Überraschend die Bilder der zahlreichen alten sowjetischen Buchankas und Tabletkas (Kleintransporter UAZ-452 und UAZ-3741) statt der modernen Jeeps, die üblicherweise auf den von den Wagner-Truppen präsentierten Bildern und Videos zu sehen sind.